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Kapitel 2: Das Duell und die Gesetze des Automatismus

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Was heute der londoner Vorort von Kingsbury ist, war bis Ende des 19. Jahrhunderts eine weitgehend unbebaute, ländliche Gegend, in der Gentlemen ihre Unterschiede auf diskrete Weise klären konnten, ohne den Rest der Gesellschaft zu belästigen. Wichtiger sogar als die eigene Ehre bei einer Herausforderung zu verteidigen, war es Gerüchte oder gar Skandale zu vermeiden, die die Integrität einer Person in Zweifel stellten. Als es im Fall Baxter so weit kam, stand er in Kingsbury vor dem Wald, eine halbe Meile vom Bach entfernt. Der düstere Butler trat ihm entgegen, und Baxter nahm eine der beiden Pistolen aus dem mit roten Samt ausgelegten Etui. Sogar jetzt, wo er vor ihm stand, konnte er unter dem großen Zylinder des Dieners kein Gesicht erkennen, da das sich löschende Abendlicht es überschattete. Der Zylinder der Enfield Mark 1 hätte bis zu sechs Schuss tragen können, enthielt aber nur zwei Kugeln. Sobald Baxter dies überprüft hatte, drehte sich der Butler zurück zu seinem Meister, der ihm wie schon vorher auf den Rücken klopfte, bevor auch er seine Pistole nahm und sich mit Baxter Rücken an Rücken stellte. Dann gingen beide den ersten Schritt.

Als Arthur Swinston ihn aufgesucht hatte, saß Baxter an seinem Schreibtisch und beantwortete drei Briefe gleichzeitig. Genauer gesagt, Baxter schrieb an einem Brief, während ein Pantograph, der durch mehrere Holzleisten an seiner Feder befestigt war, seine Bewegung mechanisch auf zwei weiteren Blättern wiederholte. Swinston trug seine blonden Haare glatt gekämmt und einen breiten, gepflegten Schnurrbart. Mit kleinen schwarzen Augen blickte er freudig dem Gastgeber entgegen. Aus der Brusttasche seines schwarzen Fracks schauten ein Paar weiße Handschuhe. Unter dem Frack waren außerdem eine rote Weste und ein weißes Hemd mit Fliege zu sehen, welche den leicht gewölbten Körper des Gentlemans unauffällig machten. Mit makelloser Eleganz vervollständigte eine graue Hose das Ensemble.

Baxter stand nicht vom Schreibtisch auf, bis das Dienstmädchen seinen Besucher ins Zimmer ließ. Er hatte zu viele Briefe abzuarbeiten, seit er die Maschine gefunden hatte, denn die Rechnungen, die seine Nachbarn für die beschädigten Dächer geschickt hatten, waren nur der Anfang gewesen. Nachdem er sie im Kampf gegen die dämonischen Schattenkäfer öffentlich gezeigt hatte, wurde die Maschine von vielen begehrt und verfolgt. Da die Erscheinungen jenes Tages keine Spur hinterlassen hatten, fragte Baxter sich jedoch, ob solch merkwürdige Ereignisse nicht eher eine Täuschung gewesen sein könnten. Auch wenn er kein Naturforscher war, störte ihn der Gedanke von etwas, das sich in Dunst auflöste, anstatt einen toten Leib zu hinterlassen. Ihn plagte die Frage, ob man so etwas ein Lebewesen nennen könnte.

Real war aber, dass der Ingenieur und seine Maschine nun seit Wochen ständig verfolgt und befragt wurden, nicht von Untieren und Dämonen, sondern von Unternehmen und Aristokraten, die an der Technik interessiert waren. Er begann selber nur langsam zu verstehen, was er tatsächlich in den Händen hatte. Seine ganze Freizeit hatte er darin investiert, die inneren Mechanismen zu reparieren und zu verstehen, doch je mehr er sich damit beschäftigte, desto ferner schien ihm die Antwort und desto größer war seine Faszination. Dieses Rätsel würde er nicht verschwinden lassen, ohne seine tiefsten Ecken zu belichten.

Im Abendlicht ging Baxter den zweiten Schritt über den Rasen in Richtung des Waldes, der sich kurz von Dunkelgrün zu Orange färbte. Doch Baxters Gedanken waren nicht bei dem, was vor seinen Augen stand, sondern bei dem, was hinter seinem Rücken geschah. Wie dem auch wäre, er durfte sich nicht umdrehen. Er hatte sich willentlich auf dieses Abkommen eingelassen, und ging daher den dritten Schritt.

Im Gegensatz zu vielen anderen, die Baxter in letzter Zeit aufgesucht hatten, wurde Arthur Swinston als alter Kollege willkommen geheißen und begrüßt. Baxter entschuldigte sich, stand von seinem Arbeitstisch auf und drückte seinem Gast die Hand. Während das Dienstmädchen ihnen Tee einschenkte, erinnerten sich die Kollegen an ihre alten Zeiten, als sie sich zusammen für die Society of Engineers bewarben. Nach dem vielen Lernen hatten sie manchen lustigen Abend mit Bridge und Darts verbracht. Aber das lag inzwischen Jahre zurück.

„Auch wenn du es mir nicht glaubst, lieber Roald“, sagte Swinston, „beneide ich dich noch heute. Du warst immer der Klügere von uns beiden.“

„Mag sein“, sagte Baxter unbescheiden. „Aber aus irgendeinem Grund arbeitest du in einer der größten Unternehmen des Imperiums und ich repariere Spielzeug.“

„Ach, es ist zu oft nicht nur eine Frage des Talents, sondern auch der Chancen, die man im richtigen Moment findet. Ich habe die Chancen gesehen, auch ohne der bessere Ingenieur zu sein. Jetzt aber, wo ich so weit bin, will ich auch jemandem helfen, in den ich volles Vertrauen setze.“

„Tatsächlich?“ Baxter ließ ein skeptisches Lächeln über seine Teetasse schweben.

„Du bist in der letzten Zeit sehr misanthropisch geworden. Die Handarbeit tut dir wohl nicht gut. Man hat dich sogar an der Vauxhall Bridge Schrott kaufen sehen. Bedauerlich, mein Freund. Du hast ein viel besseres Leben verdient.“

Baxter stellte seine Tasse auf dem Tisch ab und schaute Swinston in die Augen.

„Arthur, ich hätte gerne mit dir über persönliche Angelegenheiten gesprochen, aber wenn das Unternehmen Granthon Steels dich schickt, kannst du ihnen das wiederholen, was ich ihnen schon geschrieben habe: Ich werde die Maschine nicht verkaufen, bis ich sie perfektioniert habe.“

Swinston sah kurz schockiert auf und stellte seine Tasse auch auf den Tisch.

„Fünfzig tausend Pounds und eine lebenslange Führungsstelle“, sagte er mit tiefer Stimme. Baxter schwieg ihm ernst, fast wütend, entgegen. Swinston fuhr fort: „Wenn du nur eine solche Stelle hättest, könntest du alle deine Projekte entwickeln. Was wurde, zum Beispiel, aus deiner schienenfreien Eisenbahn? Aus deinem Luftdruckmotor? Bis jetzt musstest du fast alle deine Projekte einstellen... Hast du überhaupt jemals eine von deinen Ideen ausführen können?“

Swinston wandte sich dem Dienstmädchen zu, welches die ganze Zeit reglos in einer Ecke gestanden hatte. Sie trug die übliche schwarze Uniform mit kurzen Ärmeln. Ihre dunklen Haare waren zu einem Dutt nach hinten gebunden.

„Miss, dürfte ich bitte noch eine Tasse haben?“

Sie kam näher und schenkte ein. Als sie die Kanne wieder anhob, ergriff Swinston ihre Hand und fühlte, dass sie keinen Puls hatte. Sie schreckte nicht zurück, sondern schaute ihn mit ausdruckslosen, schwarzen Augen an.

„Sie sind bezaubernd“, lächelte Swinston. „Darf ich Ihren Namen erfahren?“

Die Frau gab nicht die geringste Reaktion von sich.

„Mary“, unterbrach Baxter. „Sie heißt Mary.“

„Ist das so?“, fragte der Gast erneut.

„So ist es, Sir“, antwortete das Dienstmädchen.

„Bezaubernd, zweifelsohne“, wiederholte Swinston und ließ sie los. Dann schaute er wieder zu Baxter. „Nette Idee, die Maschine als Dienstmädchen zu verkleiden, anstatt sie in einer Kiste zu verstauen.“

Trotz der investierten Zeit hatte Baxter längst noch nicht alle Fähigkeiten des Automaten aufschlüsseln können. Da er sich außerdem mit Dienstleistungen und Briefen beschäftigen musste, war er darauf gekommen, die elementaren menschlichen Tätigkeiten des Automaten zu nutzen, um sein Alltagsleben etwas zu erleichtern. Zuerst hatte er die Kurvenscheiben jedes Mal entsprechend dem Bewegungsprogramm eingestellt, um die Maschine kehren, aufräumen oder kochen zu lassen. Nach einigen Tagen aber aktivierte sie sich auch mit nichts als seinen mündlichen Anweisungen. Einen Namen hatte er dem Gerät nicht gegeben, auch wenn er Swinston zur Not belügen musste.

Jetzt ging Baxter den vierten Schritt und sah Mary auf seiner Linken zwischen dem langen Gras vor dem Wald stehen. Sie trug ihre inzwischen übliche Dienstkleidung. Rechts hinter ihr, aus der Entfernung, konnte Baxter noch den Bach in der Dämmerung glitzern sehen. Die Maschine stand ausdruckslos vor sich hin, als wäre ihr das Ergebnis der laufenden Konfrontation egal. Sie ist eine Maschine, dachte er. Es kann ihr ja auch nur egal sein, ob sie verkauft oder auf die Wette gesetzt wird. Ihr dürfte sogar egal sein, ob er ihretwegen starb, und doch ging er den fünften Schritt.

„Was bekommst du eigentlich dafür, wenn du mich verkaufst?“, murmelte Baxter.

„Ich wünschte, ich könnte ein ähnliches Angebot bekommen, Roald, aber nein, ich bin nur ein Botschafter. Was hast du denn davon, die Maschine länger zu behalten? Du bist doch ansonsten so vernünftig. Hast du dich vielleicht zu sehr an Marys Gesellschaft gewöhnt?“

„Arthur, ich bitte dich. Es ist und bleibt doch nur ein Gerät. Aber ich kann kein Gerät verkaufen, welches ich selber nicht verstehe. Was für ein Ingenieur wäre ich dann?“

„Du wärst ein reicher und erfolgreicher Ingenieur!“, lachte Swinston.

„Aber ich würde nicht vernünftig handeln...“, grübelte Baxter unsicher.

„Na gut“, entschloss Swinston beherzt. „Wenn es dir um Vernunft und Ehre geht, spiele ich auch gerne dein Spiel.“ Er nahm aus seiner Brusttasche einen weißen Handschuh und warf ihn auf den Tisch. „Sonntag, am Wealdstone Brook in Kingsbury, sieben Uhr abends.“

„Moment mal“, schrak Baxter auf. „Du scheinst es aber eilig zu haben. Willst du mich wirklich zu einem Duell fordern?“

„Roald, ich bitte dich. Ein Duell wäre doch nicht legal. Ich hoffe aber, dass du als Gentleman trotzdem meiner Einladung folgen wirst. Solange wir beide nach den Regeln spielen und es beim ersten Treffer bleibt, muss niemand sterben.“

Bei den Darts war damals, sowohl bei Baxter als auch bei Arthur, der erste Treffer oft schon ein Bullseye gewesen. Die Gegner mussten sich also entweder darauf verlassen, dass ihr Gegenüber die Übung verloren hatte, oder aber, dass sie beide Gentlemen waren.

Mit dem sechsten Schritt ging Baxter an Mary vorbei und verlor sie aus den Augen. Als er den neunten Schritt gehen wollte, hörte er ein Geräusch hinter sich: einen plötzlichen Sprung, und das gewaltige Schnappen von mechanischen Zangen. Er vergaß die Regeln des Duells und drehte sich um. Swinstons Butler hatte sich auf Mary gestürzt. Anscheinend hatte er die zehn Yard mit einem einzigen Sprung überwunden. Sein Brustkorb war aufgesprungen und heraus kamen drei riesige Zangen, die sich um Mary klammerten. Noch bevor Baxter reagieren konnte, fingen beide Automaten an, mit erstaunlicher Geschwindigkeit rückwärts zu fliegen. Swinston drehte sich nur leicht um, ließ die Pistole in seiner Hand hängen und lächelte seinen Rivalen zufrieden an.

Baxter rannte den beiden Automaten nach. Sie wurden in Richtung der Kutsche gezogen, von einem Kabel, das er bis jetzt nicht bemerkt hatte. Wie konnte er so etwas bloß nicht bemerkt haben? Aus dem Rücken des Buttlers ragte doch eine offensichtliche Kurbel heraus, mit der Swinston ihn vor Baxters Augen mehrmals aufgedreht hatte.

Nach einigen Schritten war der Ingenieur schon halb außer Atem und würde die Automaten nicht erreichen, also nahm er die Pistole und schoss seine erste Kugel. Ziellos polterte der Buttler auf dem Gras herum, als das Kabel zersprang. Trotzdem hielt der Feind Mary immer noch zwischen den Zangen, und Baxter war immer noch fünfzehn Yard entfernt. Im Nu richtete der Butler sich wieder auf und verlängerte seine Beine zu langen Stelzen, auf denen er mit großen Schritten weitereilte.

„Mary, verdammt noch mal!“, schrie Baxter unter schwerem Atmen, „Wehr dich doch! Kämpf' dich frei!“

Als er keine direkte Reaktion von seinem Automaten sah, fragte er sich wieder, ob er überhaupt seine Befehle verstehen konnte. Als Maschine hatte sie doch keinen Verstand, und natürlich auch keinen Selbsterhaltungstrieb - aber es wäre doch so viel einfacher, wenn sie auch in diesem Sinne einen Menschen nachahmte. Er war immer noch nicht darauf gekommen, welcher Mechanismus ihr Verhalten regelte. Hätte es genügt, ihr wörtlich zu sagen, dass sie sich als Regel darum bemühen sollte, sich selbst und die Menschen um sich herum zu beschützen?

Baxter zielte auf den Kopf des Butlers und schoss seine letzte Kugel auf ihn, doch der Schuss prallte an der Schulter des Dieners und dann am metallischen, gesichtslosen Schädel ab. Der äußere Angriff hatte keine Wirkung auf ihn, doch in seinem Inneren entfachte plötzlich etwas: Die Zangen sprangen auf und die verborgenen Mechanismen von Mary entfalteten sich mit gewaltiger Kraft. Der Butler schwankte auf seinen langen Beinen kurz nach hinten, während sich die Maschine in der Luft inkonsistent wandelte, drehte, und anschließend wieder in Frauenform auf den Boden prallte.

Mit letzter Kraft rannte Baxter erneut auf den Automaten zu, als er begriff, dass die Maschine unbemannt nicht wirklich kämpfen konnte. Er stand nur ein paar Fuß von Mary entfernt, doch der Butler stand ihm auch gegenüber und verpasste ihm mit seinen langen Beinen einen heftigen Tritt in den Bauch. Schmerzend fand Baxter sich nun auch auf dem Boden wieder und musste übers Gras rollen, um weiteren Tritten auszuweichen. Schneller als erwartet lag er schon der Länge nach auf dem Frauenkörper des Automaten, dessen Kleider nun zum Großteil aufgeknöpft lagen. Sofort fand er den roten Hebel und ließ die Maschine ihn mit Armbändern an seinen Handgelenken in die Luft heben, als sie sich wieder mit dem Rauschen einer Lokomotive entfaltete. Sie stützte Baxters Füße auf ein Paar Pedale und streckte zwei mechanische Arme mit Zangen, Röhren und zusammengeklappten Messern aus.

Der Butler hatte nicht mitbekommen, was um ihn herum geschah, und automatisch weiter den Weg zur Kutsche eingeschlagen. Mit drei Hieben der Zangen ließ ihn Baxter schon halb verschrottet umkippen.

Während er die Metallreste noch auf dem Boden dampfen sah, erklang zu seiner Rechten ein Pistolenknall, und er spürte ein starkes Brennen an seinem rechten Unterschenkel. Als er sich umblickte, sah er Swinston mit rauchender Pistole ängstlich auf ihn zielen. Mit einem Sprung stand Baxter schon über seinem Gegner und hob ihn mit der Zange am rechten Arm auf seine Augenhöhe hoch.

Was hielt Baxter nun davon ab, Swinstons Knochen zwischen den Zangen zu zerquetschen? Im Gegensatz zu seinem Kollegen, der die Mores seiner Zeit begriff und zu seinen Gunsten ausspielte, könnten wir über Roald Baxter aus den eben untersuchten Ereignissen folgern, dass er sich an die grundsätzlichen Prinzipien hielt, sie aber auf eigenartige Weise ausführte. Es waren mehrere der hier diskutierten Zusammenhänge, die ihn in eine Ausnahmesituation brachten. In einer solchen Situation tat er, was ein Gentleman hätte machen sollen, welches aber nicht dem gleicht, was die meisten, die als Gentlemen erinnert werden, tatsächlich getan hätten.

Baxters Bein hatte nur einen Kratzer abbekommen, wohl nur ein Splitter der Kugel, die gegen den Kampfanzug zerborsten war. Swinston war entsetzt davongerannt, sobald seine Füße wieder auf dem Boden waren. Nun war Baxter wieder alleine mit seiner Maschine, und sie stiegen beide in die Kutsche ein, um den Rückweg einzuschlagen.

Baxter hatte soweit verdrängt, dass die Maschine ihn vor den Schattenkäfern im Voraus gewarnt hatte. Es musste ein Fehler sein, denn ein Automat kann wie ein Mensch reden, aber nicht denken, und schließlich lag sie in jenem Moment auch noch halb repariert und zerstückelt auf dem Arbeitstisch. Nachdem er zum ersten Mal ihre inneren Mechanismen ausprobiert hatte, blieb er den Rest des Abends dabei, ihre Einzelteile zu studieren und sich detaillierte Skizzen von ihnen zu machen. So vergingen seitdem die meisten Abende, an denen Baxter nicht mit Fahrrädern und Kaffeemühlen oder mit den Briefen von Baronen und Nachbarn beschäftigt war. Trotzdem kam er immer noch nicht dahinter, was die Mechanismen eigentlich antrieb. Wie konnte eine Maschine solche Kraft besitzen, ohne Abgase von sich zu geben, ohne Dampfmaschine oder Ofen?

Auf dem Rückweg konnte er aber den Zweifel nicht mehr aus seinem Kopf verbannen. Auch in einer so außergewöhnlichen Situation hatte Mary auf seinen Ruf reagiert. Mary. Er nannte sie jetzt sogar bei einem Namen, obwohl er diesen nur aus der Not hatte erfinden müssen. Er entschloss sich zu einem Experiment.

„Mary, können wir reden?“, sprach er sie ernst an.

„Gerne, Meister. Worüber?“ Soweit konnte dies immer noch eine eingebaute Antwort sein. Daher wählte er als nächstes eine Frage, auf die er die automatische Antwort kannte:

„Wie fühlst du dich heute, Mary?“

„Ich verstehe nicht, was sie meinen, Meister.“

Baxter grübelte über die Antwort. Er hatte natürlich ein „Sehr gut, danke“ erwartet. Dies hätte gezeigt, dass sie doch gedankenlos sprach und keine Erinnerung an den Kampf dieses Abends hatte. Könnte ihre Verlegenheit dagegen bedeuten, dass sie auf eine solch alltägliche Frage nicht vorbereitet war? Er entschloss sich, auf die Frage des Gedächtnisses einzugehen.

„Kannst du mir sagen, was heute Abend passiert ist?“

„Gerne, Meister. Um 5:30 Uhr stellten Sie Ihre Reparaturarbeiten ein und zogen sich um. Um sechs Uhr stiegen wir beide in eine Kutsche, die uns in 47 Minuten bis zum Wealdstone Brook in Kingsbury brachte. Sie stiegen zuerst aus und baten den Kutscher, auf uns zu warten und nicht weiterzuerzählen, was er sehen würde. Darauf trafen wir Sir Arthur Swinston und seinen Butler. Um sieben Uhr baten Sie mich, fünf Yard entfernt vom Treffpunkt zu stehen und zuzuschauen. Dann verteilte der Butler die Pistolen und Sie und Swinston liefen in entgegengesetzte Richtungen, bis der Butler auf mich zusprang und mich fing. Sie befahlen mir, mich zu befreien und kamen anschließend auf mich zu, um mich als Waffe zu benutzen. Sie zerstörten den Butler und bedrohten Swinston. Anschließend stieg Swinston in seine Kutsche und wir in die unsere, wo wir uns jetzt befinden.“

„D-du kannst doch nicht auf so etwas programmiert sein... Hast du also tatsächlich alles verstanden, was um dich herum passiert? Heißt das, du kannst tatsächlich denken?“

„Das kann ich nicht selber beurteilen, Meister.“

Baxter spürte einen kalten Schauer seinen Rücken herunterlaufen und konnte auch selber nicht beurteilen, was er dazu dachte oder fühlte. Hatte er Angst, doch noch eine Frau vor sich zu haben? Davor, dass das, woran er wochenlang fasziniert gearbeitet hatte, am Ende doch ein unberechenbares und egozentrisches menschliches Wesen war? Oder bestand ganz im Gegenteil die Angst darin, solch ein fast menschliches Wesen vor sich zu haben, welches sich selbst als komplette Leere wahrnahm? Als er Mary in den Klauen des Butlers gesehen hatte, hatte es ihn erschrocken, das zu verlieren, worin er seinen Geist und sein Leben gelegt hatte, oder war es erschreckender, ein menschenartiges Wesen zu sehen, welches seiner eigenen Sicherheit gegenüber komplett indifferent war?

„Du kannst tatsächlich denken...“, murmelte Baxter heiser. „Vielleicht auch sogar fühlen...“

„Ich danke Ihnen, Meister.“

Und wenn dem so war, dann war die Warnung vor den Schattenkäfern auch kein Fehler gewesen, und Mary wusste viel mehr über sich selbst, als Baxter dachte, vielleicht hatte sie sogar einen anderen Namen als Mary und die Antwort, die er so lange in ihren Mechanismen gesucht hatte, konnte sie direkt beantworten, wenn er nur die richtige Frage stellte. Baxter musste unbedingt weiter fragen. Er entschloss sich, weiter zu reden, und schaute ihr tief in die schwarzen, reglosen Augen. Bevor er es dann merkte, waren sie schon zuhause und stiegen aus. Es war für Baxter ein langer Tag gewesen und, ärgerlich wie es war, brachte er nicht mehr die Kraft zusammen, um so tiefe Fragen zu stellen. Mary half ihm, seine Kratzer und blauen Flecken zu behandeln, aber erst als Baxter sie darum bat. Irgendwann würde er sie nach ihrer Vergangenheit fragen, dachte er, aber heute war er dafür viel zu müde.

Das Herz des Zahnradmädchens

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