Читать книгу Grünes Licht für flotte Bienen: Kriminalroman - Der Baron 28 - Glenn Stirling - Страница 9
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ОглавлениеDer Morgen war grau in grau. Der Blick auf den Noorder-Amstel-Kanaal glich kaum dem, den das Hilton Hotel als Postkartenansicht auf seinem Hausprospekt anpries. Dunst kroch vom brackigen Wasser empor, und drüben, dem Hilton gegenüber, schaukelte ein vom Nachttau stumpf wirkendes Rundfahrtboot an den Leinen. Autoverkehr und der davon hervorgerufene Lärm drang vom Apollaan herüber, einer der großen Avenuen dieser Stadt.
Alexander von Strehlitz saß im Morgenrock am Fenstertisch und frühstückte. Sein Zimmer im Hilton lag im ersten Stock. Nebenan hatte sich Alexanders Freund Le Beau einquartiert, aber der hatte nach der glücklichen Heimkehr eine rauschende Ballnacht hinter sich und war erst vor einer Stunde ins Bett gekommen.
Als Alexander sein Ei aufklopfte, summte das Zimmertelefon. Erst beim dritten Summen ließ Alexander das Ei ein Ei sein, stand mürrisch auf und ging zum Telefon, das auf dem Nachttisch stand. Die Empfangsdame meldete sich.
„Entschuldigen Sie, Herr Baron, aber hier bittet Sie Herr Dr. van Eiken von der Kriminalpolizei um ein dringendes Gespräch.“
„Ah, sehr gut. Schicken Sie ihn zu mir!“
„Ja, sofort, Herr Baron.“
Alexander kratzte sich am Kinn. Was bringt van Eiken? Ihm hatte er gestern ein Foto von Dina Bovenkampers mit der Bitte gegeben, seinerseits auch nach ihr zu forschen. Hatte van Eiken sie gefunden? Immerhin standen dem Leiter der Fahndungsstelle alle Möglichkeiten offen. Und van Eiken war nicht nur ein tüchtiger Kriminalist, sondern auch ein guter Freund des Barons. Ein Grund übrigens, weshalb sich Alexander nicht großartig anzukleiden brauchte. Er konnte van Eiken im Morgenrock empfangen.
Und da klopfte es schon. Ein mittelgroßer, kräftig gebauter Mann mit kantigem, markantem Gesicht, blondem Haar und relativ dunklen, stark buschigen Augenbrauen trat ein. Ein Mann Mitte Vierzig, mit hellen, wachsamen Augen, in denen der Schalk blitzte.
Er lachte, als er Alexander sah, schüttelte ihm die Hand und meinte: „Jetzt, wo unsereiner schon drei Stunden Dienst hinter sich hat, frühstückt dieser Mensch! Alexander, ich habe Neuigkeiten für dich!“ Er sah sich um. „Wo steckt denn dein Adlatus Robert? Und deine wandelnde Dynamitstange Le Beau?“
„Robert ist in Deutschland. James fährt ihn. Robert verhandelt mit Fernsehfritzen wegen des Expeditionsfilmes, den ich mit Cousteau gemacht habe. Le Beau befindet sich vermutlich im Tiefschlaf. Er hat seine Tour de France durch alle Vergnügungslokale von Amsterdam hinter sich. Als er heute morgen kam, konnte er nur mit Mühe davon abgehalten werden, die vier Mädchen, die er bei sich hatte, ins Hotelzimmer mitzunehmen. Anschließend wollte er dem Etagenkellner, der ihn ins Zimmer brachte, ein indianisches Würfelspiel beibringen, ihn gleichzeitig animieren, die Marseillaise ins Niederländische zu übersetzen und mit ihm abzusingen. Ich bin davon munter geworden und habe dem Spuk ein Ende gemacht.“
„Ins Bett geschickt?“
„Erst eine kalte Dusche, und dann ins Bett. Seitdem ist Ruhe. – Und nun zu dir, Willem. Was bringst du an Neuigkeiten? Hast du etwas von Dina erfahren?“
Das eben noch heitere Gesicht van Eikens wurde schlagartig ernst. Er griff in die Tasche seines dunklen Anzugs, holte das Foto heraus, das ihm Alexander gestern gegeben hatte. Es zeigte ein rassiges, schlankes Mädchen mit blondem Haar, so um die achtzehn Jahre: Dina.
Aber er holte noch ein Foto heraus. Es wirkte etwas unterbelichtet. Eine ganze Gruppe von Frauen und auch Männern stand vor einer Mauer. Die Gesichter der Mädchen und Frauen waren dennoch gut zu erkennen. Die der Männer hatte man durch Tuschestriche unkenntlich gemacht.
Eines der Mädchen sah aus wie Dina.
Der Baron starrte wie gebannt auf dieses Bild.
„Nicht wahr, du erkennst sie auch?“, meinte van Eiken.
Alexander hob den Kopf. „Ist sie es?“
„Ja, wir haben alles verglichen. Sie muss es sein. Weißt du, wo das ist?“
„Hmm, das sieht ja fast aus, als wäre es …“
Van Eiken unterbrach ihn. „Es sieht nicht nur so aus, Alexander. Das ist der Kontakthof, wie man das nennt, des Eros Centers. Die Damen da, die du siehst, sind einwandfrei Prostituierte. Wir machen routinemäßig auf diesem Kontakthof Fotos. Wir benutzen Infrarot dazu, weil es ja in der Regel zu dunkel für normale Bilder ist. Reiner Zufall, dass wir sie gleich drauf hatten. Der Kollege von der Sitte, dem ich eine Kopie von Dina Bovenkampers Foto ebenso gab wie allen anderen Ressortchefs, hat sie sofort erkannt. – Alexander, es tut mir sehr leid, vor allem auch für die Bovenkampers, die eine angesehene, honorige Familie dieser Stadt sind. Aber wir können nichts machen. Die Kleine ist sogar gemeldet, registriert, und sie ist über achtzehn Jahre alt. Sie ist nicht verheiratet, sie hat kein Kind, das verwahrlosen könnte. Das ärztliche Untersuchungsblatt eines zugelassenen Facharztes liegt auch vor … Wir können nichts, aber auch rein gar nichts machen.“
„Dina Bovenkampers eine Hure!“, entfuhr es Alexander. „Die Tochter eines Mannes, der sein Kind behütet hat wie seinen Augapfel, der …“
„Hör zu, Alexander, ich kenne auch die andere Seite solcher Familien. Wenn du wüsstest, wie viele junge Leute wir aufgabeln, ja, wie viele davon sogar im Gefängnis landen, deren Eltern zu den sogenannten guten Familien dieses Landes zählen. Die Bovenkampers sind sogar noch mehr dafür prädestiniert als andere. Ich habe erst vor Kurzem einen jungen Mann vor den Richter stellen müssen, wegen versuchten Raubmordes und wegen vollendeten Raubüberfalls, Alexander. In dieser Familie ging es zu wie bei den Bovenkampers. Der Morgen begann mit einem Gebet, dann wurde sehr spartanisch gefrühstückt. Das Familienoberhaupt bestimmte, wie der Tag weiter zu verlaufen hatte. Man erlaubte keinerlei Luxus. Dem Sohn erst recht nicht. Nach der Schule strengstes Silentium, karges Mittagsmahl, und immerzu ist von Pflicht die Rede. Nachmittags musste der Junge in einer religiösen Gruppe arbeiten. Ich glaube, die haben da geistliche Lieder gesungen. Kontakt mit anderen Jungen oder gar Mädchen war dem Jungen ansonsten verboten. Nach dieser Sache kehrte er heim und saß in seinem Zimmer, angeblich, um sich zu üben in Dingen, die am nächsten Tag von der Schule gefordert wurden. Über die Schularbeiten hinaus also. Abends schleifte man den Jungen zu stocknüchternen Versammlungen, oder er musste still dabeisitzen, wenn ebenso puritanische Freunde seiner Eltern gekommen waren. Endlich war auch das zu Ende, und Punkt neun abends musste der Junge ins Bett – auch noch mit siebzehn. Er begann natürlich beizeiten nach den Auswegen zu suchen. Er schwänzte die Liedergeschichte am Nachmittag mehr und mehr. Er kniff nachts durch Fenster aus, um sich mit Freunden zu treffen. Dadurch sanken die Schulleistungen ins Bodenlose herab, weil er mitunter erst früh nach Hause kam, wieder durchs Fenster natürlich. Und weil er nie Geld hatte, aber auch gar keines – Geld verdirbt den Charakter von Kindern, sagte man ihm zu Hause – wollte er sich Geld beschaffen. Der Raubüberfall war das Resultat. Seine Mittäter entstammten allesamt sogenannten gutbürgerlichen Familien. Ich sehe das bei Dina Bovenkampers nicht anders. Vielleicht ist das, was sie da macht, Alexander, verglichen mit einem Raubüberfall noch, ausgesprochen harmlos.“
„Und ich glaube nicht, dass sie es nur aus Trotz tut“, widersprach Alexander.
„So oder so, ich kann nichts tun, Alexander. Gar nichts. Da müsste schon nachgewiesen sein, dass man sie dazu gepresst hat. Aber das, Alexander, ist nur etwas für die Illustrierten. In Wirklichkeit kommt das alle zwanzig Jahre einmal vor. Die meisten von diesen Mädchen haben nur eines im Kopf: Geld, viel Geld, damit sie nicht arbeiten müssen. Schnell und leicht viel Geld machen. Und ich wette mit dir, diese kleine Bovenkampers denkt da keinen Deut anders!“