Читать книгу "DER SCHNUCKENTANZ" - Gloria Fröhlich - Страница 5

3. Kapitel

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Doch eines war klar. Die Frauen würden auch diesmal sicher sein, dass sie alles richtig gemacht hatten und würden wieder ein außerordentlich heiteres Bild abgeben, wie die vielen farbigen Fotos an der schwarzen Wand im Gemeindehaus einige Tage nach dem „Schnuckentanz“ belegen würden. Genauso wie jedes Jahr. Da Agnes von der Wirkung der Tropfen in den Baisers doch noch etwas zu erfahren hoffte, las sie in dem Buch der Heidekatze neugierig und sorgfältig die nächsten Zeilen. Da hieß es, dass diejenigen, die sich an den präparierten Baisers ergötzt hatten, keinesfalls aus den Augen gelassen werden durften, wenn ein Erfolg gewünscht wurde. Dafür wäre es wichtig, sich möglichst unauffällig in deren Nähe aufhalten. Wie benahmen die Männer sich denn dann? Woran sollte Agnes erkennen, welcher Mann von den präparierten Baisers gegessen hatte? Und wenn sie es herausfand, was sollte sie dann tun? Das große Fragezeichen hinter Agnes Stirn blieb. Sie musste geduldig den „Schnuckentanz“ abwarten. Es war noch nicht aller Tage Abend! Außerdem ist jeder seines Glückes Schmied. Auch das hatte ihre Mutter damals mit Nachdruck in der Stimme in den gemütlichen Abend vor dem warmen Ofen geflüstert, ohne jedoch konkret zu werden. Agnes hatte wie immer brav zugehört und sich wieder einmal als Versagerin gefühlt, weil sie genau wusste, dass sie gemeint war. Damals war noch kein pickliger Junge mit feuchten Händen verliebt um die Kate geschlichen und hatte Steine an ihr Fenster geworfen. Und bis zum heutigen Tag hatte sich auch noch kein heiratswütiger Mann für sie interessiert. Sie sollte gefälligst mal selbst dafür sorgen, dass das männliche Geschlecht etwas mit ihr zu tun haben wollte. Durch die Blume gab die Mutter ihr das zu verstehen. Das war natürlich „geschlechtlich“, wie die Mutter Sex verächtlich und mit heruntergezogenen Mundwinkeln umschreiben würde, wenn sie das Wort überhaupt jemals in den Mund genommen hatte. Deshalb verkniff sich auch Agnes dieses peinliche Substantiv, weil sie das Gefühl hatte, sie würde damit die Kate, ihr zu hause, entweihen. Da sie über Sex besser Bescheid wusste, als die Mutter es sich wohl jemals erlaubt hatte, tat Agnes dann auch naiv und brav genug, um nicht schlafende Hunde zu wecken. Sie war viel zu vorsichtig, um die Mutter so richtig in die Enge zu treiben und einfach nachzufragen, was sie in der Beziehung denn Negatives durchgemacht hatte. Fragte nicht, was denn nun genau damit gemeint war und wie das denn zu erreichen sei, was zu erreichen beabsichtigt wurde mit dem Glück und dem Schmied, und hatte, während sie sich wegen der Sprachlosigkeit und Prüderie beinahe amüsiert für die Mutter schämte, dann nur noch die Hände im Schoß geknetet. Dabei war es auch geblieben. Auch das war nun schon so lange her. Mit schnellen Schritten tänzelte Agnes auf Zehenspitzen in ihre Schlafkammer und an das wenig geöffnete, niedrige Sprossenfenster. Sie war schon sehr gespannt und kribblig neugierig, was sich dort im Laufe des Tages getan haben könnte. Sie war freudig überrascht. Die lockende, dickflüssige Süße des Honigs hatte in dem selbst hergerichteten Fliegenfänger tatsächlich für einige Opfer gesorgt. Sie hatte das richtige Fingerspitzengefühl gehabt und lächelte zufrieden. Mit Begeisterung fixierten ihre Augen die Beute. Dann näherten sich ihre geschickten Finger den noch völlig intakten Fliegen unterschiedlicher Körperlichkeit und Farbgebung, die sich zwangsweise in unzumutbarer Haltung nur noch träge bewegten und kampflos ergaben, und Agnes in einem bereitstehenden Eierbecher, auf den sie mit den Fingern einen Bierdeckel drückte, in den Garten begleiten mussten. Doch bevor das geschah, hatte Agnes bohrender Blick etwas entdeckt, das sie nicht aus den Augen ließ, während sie sich auf Zehenspitzen anschlich und den Eierbecher vorsichtig auf dem Stuhl neben ihrem Bett abstellte. Mit unvergleichbarem Krawumm schlug sie mit der flachen Hand das knallrote Blut aus der Mücke an der Lehmwand, die sie schon nächtelang nicht nur verfolgt, in Rage und um den erholsamen Schlaf gebracht, sondern mehrmals hinterlistig in sie hinein gestochen und sich an ihrem Blut gütlich getan hatte. „Du widerliche Kreatur“, zischte sie mit gepresster Stimme und fühlte wohltuende Gerechtigkeit wegen der juckenden Quaddeln an ihren Armen und der Innenseite an einem ihrer Oberschenkel, während sie mit dem Zeigefinger die klebrigen Reste wegschnippte und mit dem Bündchen des Ärmels ihrer braunen Strickjacke die restlichen Spuren vom Rauputz entfernte. Es blieb ein ovaler, hellroter Fleck. Die winzige Kreuzspinne draußen zwischen dem üppigen Grün der Geranien, das diese sorgsam und fest mit den langen Fäden ihres wunderschönen Radnetzes verbunden hatte, war hungrig! Sehr hungrig sogar! Die Spinne musste noch tüchtig zulegen, um den Widrigkeiten der folgenden kalten Jahreszeiten zu trotzen und lauerte schon seit Tagen bewegungslos in der Netzmitte auf Beute. Soweit Agnes es beurteilen konnte, bisher vergeblich, denn es gab keinerlei Kampfspuren einer mörderischen Aktion in dem intakten Netz. Als Agnes dicht zu der Spinne trat, um das fein gezeichnete Kreuz auf dem Spinnenrücken auch an diesem Abend wie ein Gemälde zu bewundern, huschte ein anerkennendes Lächeln über ihr Gesicht. Agnes befand sich in einem angenehmen Rausch. Gut und Böse waren jetzt so relativ, je nachdem von wessen Seite es betrachtet wurde und beides lag beklemmend dicht beieinander, denn sie würde augenblicklich über das Wohl und Wehe der Fliegen, als auch über das der Kreuzspinne entscheiden. Agnes hielt den Atem an, denn jetzt, im nächsten Augenblick schon, war sie die Tötin. Sie war nicht seine Gehilfin, nein, sie nahm hier dem Tod das Zepter aus der bleichen Knochenhand. Mit diesem Bewusstsein und großer Genugtuung schob sie ganz langsam den Bierdeckel vom Eierbecher, den sie akribisch genau vor das Spinnennetz hielt. Einigen Fliegen gelang es, unbeschadet ihr Leben fortzuführen, während andere ahnungslos den direkten Weg in das klebrige Netz nahmen und dem schnellen Zugriff der Spinne nicht entkommen konnten, nacheinander gebissen und dann gut verschnürt im Netz hingen, wie ein stattlicher Vorrat an Kohlrouladen. Agnes Hände zitterten vor Erregung, ihr Herz schlug schneller, und sie verfolgte diese unterschiedlichen Lebenssituationen, als würde sie sich ein spannendes, dramatisches Theaterstück ansehen. Es war ein gelungener Abend für sie und die Spinne, die sich nun nicht mehr beherrschen konnte und sofort damit begann, eine der Fliegen fest zu umklammern und auszusaugen. Bis in den Herbst hinein wird es noch Fliegen geben, und so lange würde Agnes täglich zufüttern. Dann würde die Spinne in kurzer Zeit an Größe und Gewicht ordentlich zulegen und schwer schaukelnd in die Mitte ihres Netzes krabbeln und mit einer Engelsgeduld auf Beute warten können, ohne abzumagern oder zu verhungern, bis sie sich in das welkende Blattwerk der Geranien zurückzog, um dort bis zum Frühjahr zu verharren. So würde sie den Winter mit Agnes Hilfe gewiss unbeschadet überleben. Agnes fühlte sich mit der Spinne eng verbunden und saß wenig später in der Stille des Abends auf der Birkenbank neben der niedrigen Haustür, schaute und schaute, mal in den Himmel und dann mit zusammen gekniffenen Augen bis zum Horizont über die wulstige, violett blühende Heide. Das tat sie solange, bis die Sonne untergegangen war, es zu kühl wurde und sie zu frösteln begann. Sie erhob sich und ging ins Haus. Das Feuer im Herd war inzwischen nur noch eine glimmende Glut unter weißer, flatternder Asche. Agnes nahm den Deckel und zwei der Eisenringe mit Hilfe des langen Schürhakens vom Ofenloch und legte drei dicke Holzscheite nach. Sie war hungrig und griff nach der schwarzen Eisenpfanne, tat eine Messerspitze Schmalz hinein und stellte sie auf das Ofenloch, unter dem das Feuer nun wieder gierig an dem trockenen Brennmaterial leckte. Agnes verquirlte die zwanzig Eidotter mit Milch, gab ordentlich Salz und Pfeffer dazu und freute sich schon auf eine tüchtige Portion Rührei, von dem nach dem Essen noch so reichlich vorhanden sein würde, dass es auch noch am nächsten Tag ihren Magen füllen würde. Agnes begegnete allen Menschen liebevoll, und auch sie war beliebt. Sehr sogar. Sie war keine Rivalin, die man fürchten musste und absolut keine Konkurrenz für irgendeine Frau. Sie war in dem Heidedorf aufgewachsen, war freundlich, hilfsbereit, und besaß eine anrührende Naivität. Sie kannte natürlich jeden und jeder kannte selbstverständlich „unsere Agnes“. Als sie noch ein kleines Mädchen war und ausgelassen Spaß am Leben hatte, spürte sie noch nicht, dass sie es später schwer haben würde, denn es war kaum anzunehmen, dass sich Einiges an ihr, das doch ganz erheblich von der Norm abwich, vielleicht noch verwachsen würde. Erst später ahnte sie aber schon, dass die körperlichen Unzulänglichkeiten genetisch sein könnten und daran nichts zu ändern war. So haderte sie mit dieser Ungerechtigkeit schon, während sie die Pubertät durchlief. Da halfen auch nicht die gut gemeinten Worte der Mutter: „Beten scheif, hadd Gott leiw“. Schmerzlich nahm sie die traurige Gewissheit hin, dass sie keinen Mann, und sei er noch so anspruchslos oder sogar blind, auf sich aufmerksam machen, geschweige denn, für sich gewinnen würde. Es bestand vom anderen Geschlecht nicht einmal mäßiges Interesse an ihr. Die Männer sahen einfach nicht hin und hörten nicht zu, wenn sie da war und sprach. Agnes versuchte trotzdem unbeirrt, weiter auf sich aufmerksam zu machen und mühte sich mit Gesten ab, wie zum Beispiel einem geschmeidigen Hüftspiel beim Gehen oder einem Augenaufschlag, der eher einen Tick vermuten ließ, bei dem eventuell ein Psychiater helfen könnte, als dass er mit einer Aufforderung zum Tanz in Verbindung gebracht worden wäre. Aber sie war nicht dazu bereit, sich damit abzufinden, in den Augen der Männer keine weiblichen Reize zu haben und kämpfte geradezu verbissen immer wieder um Aufmerksamkeit. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit nahm sie mit einer Trotzigkeit allen Mut zusammen und war aufdringlich und wenn schon nicht schön, so wollte sie doch wenigstens überaus charmant sein und warf mit dick aufgetragenen Komplimenten und ausgesprochen markanten Attributen für das starke Geschlecht um sich. Als sie hinnehmen musste, dass auch das vergebliche Liebesmüh war, versuchte sie es schließlich mit einer naiven Frivolität. Als auch das keinen Mann beeindruckte und lediglich damit abgetan wurde, ihr mitleidig die Wange zu tätscheln und sich umgehend wild balzend der Reize der anderen, wenn auch relativen Schönheiten des Dorfes, zu erinnern, unterließ sie diese Anstrengungen mehr als frustriert – vorerst jedenfalls. Agnes war für alle Männer ob jung oder alt, eben nur Agnes, ein vermeintlich geschlechtsloses Wesen, mehr nicht. Durch diesen grausamen Umstand, wuchs Agnes Unmut bis hin zur grenzenlosen Verzweiflung voller Trauer und Unmengen Tränen. Ihr ohnehin schwaches Selbstwertgefühl ging mehr und mehr verloren. Die anderen jungen Leute ihres Alters gingen zum Tanzen und flirteten. Agnes wusste, dass sie sich wie wild im Schutze der Dunkelheit in den weitläufigen, wulstigen Heidekissen hinter den hohen Wacholdern mit geschürzten Lippen gegenseitig fast auffraßen und war neidisch. Sie hörte, wie erzählt wurde, dass sie sich auf Wolldecken auf den kühlen Sandflächen zwischen dem Heidekraut wälzten, unverblümt über Sex sprachen, als handelte es sich um den Genuss des tiefbraunen Schokobrotaufstrichs in einem handlichen Glas mit weißem Schraubverschluss. Und es blieb Agnes nicht verborgen, dass schließlich in ebensolchem Weiß in der Kirche paarweise und häufig schon schwanger, mit „JA!“ geprasst wurde. Frustriert kroch sie weit hinter der alten Lehmkate auf den kühlen Sand in das finstere Hünengrab zwischen den sieben Birken und wand einen Kranz nach dem anderen aus platt gedrückten Grashalmen für ihr dünnes, hellbraunes Haar, während sie die Lippen tapfer fest aufeinander presste, um nicht zu heulen. Danach drückte sie sich die Kränze bis tief in die Stirn, krabbelte auf allen Vieren aus dem „Grab der Riesen“ zu dem gewaltigen Wacholder, dem Methusalem der Heide, setzte sich in seinen Schatten und vertraute ihm ihren Kummer an. „Es wird langsam Zeit, wenn das mit dir noch was werden soll“, hatte ihre Mutter damals im August beim Kochen oder wiederholt auch beim Wäschebügeln, resigniert hören lassen, als Agnes sich nicht zum ersten Mal weigerte, zum „Schnuckentanz“ zu gehen. Der Verzicht auf dieses allgemeine Vergnügen war für sie nicht so schmerzlich, wie die Demütigung, übersehen zu werden und als Mauerblümchen sitzen zu bleiben, während um sie herum bis tief in die Nacht hinein geschwoft wurde. Agnes war besonders empfindlich, wenn sie bei derartigen Bemerkungen ihrer Mutter heraushörte, dass die wenig Hoffnung zu haben schien, sie unter die Haube zu bringen. Nur wie sollte Agnes es anstellen? Wie sollte sie es schaffen, an der Hand eines heiratswilligen Kavaliers durch die Heide zu schlendern, eng mit ihm verschlungen und küssend an seinen Lippen klebend, darin zu verschwinden, wenn es dabei doch auch um Sex ging, was auf ihre Mutter stets schockierend wirkte, allen anderen aber Spaß zu machen schien. Agnes war verunsichert. Auch das ist lange her. Sie ist ohne goldenen Ring am Finger gereift und inzwischen Mitte Dreißig. Das bedeutete aber nicht, dass sie in ihrem weiteren Leben keinerlei Ansprüche mehr an die „sexuelle Geschichte“ stellte, die mit Männern leider zwangsweise einhergeht, wie die Mutter ihr in der Pubertät mit einem bitteren Ton in der Stimme versichert hatte, als wäre das der Gang zum Schafott. Ihre Mutter war längst tot und konnte ihr nichts mehr vermiesen. Je älter Agnes wurde, desto dringender wurde ihr Begehren nach einer würdevollen Existenz als Frau. Nichts weiter, denn schließlich hatte sie nicht vor, es ihrer Mutter gleichzutun und ihr Leben lang an der heißen Bügelstation im Wasserdampf oder an der Mangel zu stehen, chemisch gereinigte Kleidung auf Bügel zu hängen und Stapel von Handtüchern und gemangelter Bettwäsche in weißes Papier einzupacken, auch wenn sie die Reinigung ihr Eigen nennen konnte, die ihr aber nicht einmal einen kurzen Urlaub ermöglichte. Agnes weigerte sich, eine alte Jungfer zu werden und würde in diesem Jahr beim „Schnuckentanz“ in der blühenden Heide, ihrem Glück so richtig auf die Beine helfen, koste es, was es wolle. Der Kampf um ihr Glück, machte es nötig, gründlich über ihr Äußeres nachzudenken, und das mit einer brutalen Ehrlichkeit, wie nie zuvor mit einem längeren Blick in den ovalen Spiegel über dem Waschtisch in dem winzigen Raum neben der Küche. Sie war davon überzeugt, dass das, was sie im Spiegel sah, allein die Ursache ihres Übels war. Es nützte nichts, sich etwas schön oder geht so, zu reden. Sie musste dazu stehen und sie musste handeln! Und zwar zeitnah! Nicht völlig uninformiert, jedoch ungeübt, in der nun so wichtig gewordenen Angelegenheit, dachte sie an professionelle Hilfe. Gleich am nächsten Tag fuhr sie zum Supermarkt und erwarb einige Frauenzeitschriften, in der berechtigten Erwartung, darin eine Menge Tipps zu finden. Informativer Lesestoff für Frauen in Schönheitsnot. Nun auch für Agnes die handfeste, schriftliche Hilfestellung, auf dem Tisch in der alten Kate! Ein ungewohnter Anblick, aber ein Hoffnungsschimmer. Bei einem Glas frischer Buttermilch saß Agnes auf der Ofenbank und blätterte zunächst Seite für Seite um. Mit wachsender Neugier und einem eigenartigen, fremden Gefühl hinter dem Bauchnabel. Neugierig verschlang sie die gut gemeinten Ratschläge. Unter anderem auch, was Frauen mit ihren Brüsten anstellen konnten, wenn sie dort waren, wo sie gewachsen waren, aber dem augenblicklichen Schönheitsideal nicht entsprachen, weil ihnen noch eine tüchtige Portion Silikon fehlte, die nur unter Vollnarkose implantiert werden konnte. Agnes schüttelte sich. Es war aber auch ohne Operation möglich, den Brüsten auf die Beine zu helfen, indem man sie mit festem Griff beider Hände in einen „Wonderbra“, einem bügelgesetzten, gepolsterten BH, der die Beschaffenheit der Brüste optimierte, unterbrachte. Dort gut verpackt, konnten sie einen völlig anderen Platz einnehmen und ein Volumen vortäuschen, das garantiert so nicht vorhanden war. Agnes assoziierte. Beim Ablegen dieses textilen Wunderwerks, wurde der deprimierende Urzustand dann zwangsläufig von einer Sekunde zur anderen, grausam wiederherstellt und dabei ging nicht nur ein Männertraum für immer verloren, sondern mit Sicherheit auch der Mann der Begierde. Agnes las mit gekrauster Stirn den bebilderten Artikel, dass es ein Höschen mit enorm stabilem, geradezu schusssicherem Einsatz im vorderen Bereich gab, in das sich Frauen hineinzwängen, um das lästige Bauchfett zur Raison zu bringen. Eine ebensolche Täuschung mit dem gleichen erbarmungslosen Effekt wie beim Wonderbra, wenn man sich des Höschens wieder entledigte. Agnes mochte sich nicht vorstellen, wie die über Stunden malträtierte Bauchhaut wohl aussah und jeden Mann verschrecken und in die Flucht schlagen würde. Nun schaute sie auf der nächsten Seite neugierig auf die dicke Schicht weiße Spachtelmasse auf einem Gesicht, das gerade die Pubertät hinter sich hatte. Die Masse kam aus einem Tiegelchen und wurde gegen Falten eingesetzt. Welche Falten meinten die denn bei dem jungen Ding, wunderte sich Agnes verständnislos. Ziemlich teuer war das angebliche Wundermittel zusätzlich. Aber wenn die Paste tatsächlich in der Lage war, den völligen Verfall aufzuhalten, wenn er schon nicht zu verhindern war und schon ab zwanzig begann, würde man wohl gern in den sauren Apfel beißen und dafür teuer bezahlen wollen. Dann blieben vielleicht auch die Männer. Verunsichert griff Agnes sich ins Gesicht. Sie kam sich inzwischen vor, als hätte sie so viel verpasst, was man für sich tun musste und was eine wirkliche Frau auszumachen schien. Kein Wunder, dass sie noch niemals eine Beziehung hatte und sich kein Mann für sie interessierte, wenn sie so gar nichts an wichtigem Hilfsmaterial für die Schönheit auf den Regalen in ihrer Waschkammer hatte, was bei einer „richtigen“ Frau das Nonplusultra war. Außerdem hatte sie bisher versäumt, sich Gedanken um ihre Körperbehaarung zu machen. Sie war gar nicht auf die Idee gekommen, dass Haare, wenn sie nicht auf dem Kopf wuchsen, woanders nicht hingehörten und nicht nur das, sondern total igittigit waren. Sie konnte sich ohne diese schreckliche Erfahrung gemacht zu haben, nur allzu gut vorstellen, dass das unglaublich wehtun musste, wenn der unzumutbaren Behaarung der Bikinizone, wie „das da unten“ in der Illustrierten so ganz locker genannt wurde, mit Hilfe langer Wachsplatten, auch an den Beinen, zu Leibe gerückt wurde. Die Haare wurden brutal mit Stumpf und Stiehl ausgerissen. Das ganz Normale sollte einfach weg! Für die Beinbehaarten, und da fiel sie zu ihrer Erleichterung aus dem Raster, gab es jedoch eine Alternative für die Grausamkeit. Einen Rasierapparat in kräftigem Pink oder eine Tube Enthaarungscreme, der ein Schaber beigefügt war, mit dem einem Schwein, das nach alter Sitte mit kochendem Wasser überbrüht worden war, die drahtigen Borsten von der Schweinehaut abgeschabt wurden. Wie furchtbar, dachte Agnes. Sie war inzwischen angereichert mit Wissen, von dem sie bisher keine Ahnung hatte, dass das überhaupt wichtiges Wissen war! Und das alles, damit Männer Frauen nicht übersahen und die Finger nicht von ihnen lassen konnten? Lohnte sich das denn überhaupt? Ihre Augen überflogen die nächsten Seiten. Botox! Dass das ein schweres Nervengift ist, das hatte sich auch schon bis zu ihr in die alte Lehmkate herumgesprochen. Es wird an den schrumpeligen Stellen unter die Haut gespritzt und lähmt die Gesichtsmuskeln! Die Falten waren nicht weg, sondern durften nur nicht! Agnes verzog den Mund. Botox klammerte sie für ihre Aktion völlig aus. Über die anderen Reparaturen, dachte sie jedoch ernsthaft nach. Einiges konnte sie akzeptieren, aber auf keinen Fall alles, nur um sich einen Mann zu angeln. Sie ließ es dann aber doch zu, in den Sog der Herde zu geraten, die dem Schönheitswahn verfallen war. Es gehörte sich vielleicht so, denn die anderen machten es schließlich auch. „Wat mutt, dat mutt“, hörte sie ihre Mutter im Geiste sagen. Jedenfalls musste sie etwas tun, für sich, für ihr weiteres Leben, für ihr Glück, wenn es für sie überhaupt eins gab. Auf einem großen Zettel notierte sie in klitzekleiner Schrift, damit alles Platz hatte, genau wie bei einem Koch- oder Backrezept, wenn das Endergebnis befriedigen sollte, welche Zutaten, beziehungsweise Hilfsmittel, unbedingt nötig waren, um ringsum on point gestylt zu sein. Sie schrieb unablässig und notierte auch die Fragen, die sie bei den Beratungen stellen wollte. Als sie auch noch las, dass dünnes, struppiges Haar überhaupt kein Problem darstellte, griff sie sich prüfend an den Hinterkopf. O.k., dachte Agnes, keine Frau, und somit auch ich nicht, muss sich damit abfinden, derart räudig herumzulaufen. Dass die meisten Blondinen, Rot- und Schwarzhaarigen nicht echt sind, war nichts Neues für sie, und dass sie sich künstliche Haarsträhnen einflechten lassen konnte, das war für Agnes wie sechs Richtige im Lotto, denn damit war ihr Haarproblem überhaupt keins mehr. Ihre Hoffnung wuchs ins Unermessliche, eine perfekte Schönheit werden zu können, weil sie tatsächlich auch über die vorhandene Kümmerlichkeit an ihren Lidrändern etwas ändern und daran lange, dichte, künstliche Wimpern kleben konnte. Das Gleiche wusste sie bereits, ging auch mit Fingernägeln aus Plastik, die am Ende so grade abgeschnitten waren, als hätte man in eine Häckselmaschine gegriffen. Das fand sie ziemlich hässlich. Es gab sie mit transparenten, sowie bunten Lacken, auf die Muster gemalt oder geklebt werden konnten. Auf der nächsten Seite der Illustrierten ging es um den Mund. Besser gesagt, um Lippen so dick wie Sofapolster. So etwas hatte sie nur in Krimis gesehen, wenn es tüchtig was aufs Maul gegeben hatte. Und in echt und zartem rosa in einer Fernsehsendung über die schwarzen Stumpfnasenaffen, die in China auf dem Dach der Welt leben. Wie schmollend sie bei Frauen auf Wunsch aufgespritzt werden konnten, war für Agnes Empfinden beinahe schmerzhaft gruselig, und sie hatte das Gefühl, sie brauchte nur lange genug drauf zu schauen, um dabei zu sein, wenn die Nähte platzten. Lippen, so prall wie überreife Pfirsiche im August! Agnes konnte sich in dieser Hinsicht entspannt zurücklehnen, denn da haperte es bei ihr nicht. Ihre vollen Lippen öffneten sich, lange vor dem Spiegel trainiert, geringfügig beim Sprechen, um ihre zwar weißen, aber schiefen Vorderzähne zu verbergen. Und zu lachen gab es für sie ohnehin wenig. Für sie war es sofort nachvollziehbar, dass bei solch sinnlichen Lippenpaaren, bei jedem Mann die Spucke dünn wird, wenn er sich vorstellt, dass sein Mund darin wie in einem warmen, gerade aufgegangenen Hefeteig verschwindet. Agnes Herz sprang aufgeregt gegen das Brustbein wegen dieser vielleicht großartigen Aussichten, wenn es tatsächlich etwas zu küssen geben würde beim „Schnuckentanz“, denn das Pläsier hatte dann ja nicht nur der Mann. Agnes dachte einfach mal im Konjunktiv. Der „Schnuckentanz“ wurde für sie mehr und mehr zu einem festen Halt und zu einer großen Hoffnung. Agnes war ein gutgläubiger Mensch. Sie konnte aber, wenn es zu drastisch wurde und ihr etwas nicht plausibel war, geringfügig kritisch sein. Das war sie dann auch durchaus, als sie Zeile um Zeile verschlang und erfuhr, dass bei einem faltigen Dekolleté, bei dem ihrer Meinung nach ein Mann, gleichgültig in welchem Zustand es sich befindet, sowieso nicht gleich nach dem Kennen lernen, etwas mit seinen Händen zu suchen hatte, mit Hämorrhoidensalbe ein überraschend gutes Ergebnis erzielt werden kann. Agnes lachte bittersüß. Ihr Busen sah bei einem entsprechenden Ausschnitt zwar aus wie ein klitzekleiner Popo, aber an Brüsten gab es schließlich keinerlei anusspezifische Peinlichkeiten und an ihren sowieso nichts zu straffen. Irgendwann vielleicht, wenn der ganz normale Alterungsprozess ihnen übel mitspielte. Für den Fall gab es da noch einen Rest in der Tube, die ihre verstorbene Mutter hintergelassen hatte. Agnes ließ keine Zeit verstreichen, fuhr in die Stadt und ging entschlossen ans Werk. Sie war schlau. Um peinliche Fragen und Getuschel hinter ihrem Rücken in ihrem Dorf erst gar nicht aufkommen zu lassen, was denn mit ihr los wäre, machte sie nicht beim hiesigen Friseur, sondern bei einem Haarstudio in der Stadt einen Termin für den Tag vor dem „Schnuckentanz“. Dem Haarstudio war ein Nagelstudio angeschlossen, so dass Agnes lediglich die Räumlichkeit zu wechseln brauchte, nach dem zu erwartenden, aufwendigen, feuchtwarmen Handgemenge beim Friseur. Sie betrat danach einige Straßen weiter einen Kosmetiksalon und besprach mit einer blühenden Schönheit die kosmetische Zuwendung, die ihre Augenbrauen brauchten, sowie die Beseitigung der Mitesser dazwischen, auf den Nasenflügeln und dem Kinn und bekam einen Termin am selben Tag nach dem Durchlauf beim Friseur und dem Nagelstudio. Als auch das erledigt war, arbeitete sie in mehreren Geschäften, sowie in schicken Boutiquen und im großen Kaufhaus in der belebten Fußgängerzone sehr sorgfältig und gut überlegt, Stück für Stück ihre Einkaufsliste ab. Dazu gehörten unter anderem Dessous, sowie auch die Auswahl eines geeigneten Stoffes für ein neues Kleid, das sie sich nähen wollte. Nach langem Hin und Her, und eher überflüssigen Bedenken, vielleicht doch zu auffällig beim „Schnuckentanz“ zu erscheinen, entschied sie sich schließlich für drei Meter violett changierenden Seidentaft, der sich über ihren Händen bauschte, wie die wulstige Heide über dem weichen Sandboden. Ein gutes Omen, dachte Agnes. Sie war in dem Bücherladen einige Straßen weiter, schon fast wie zu hause, in dem sie sich das Buch besorgte, das auf der Bestsellerliste ganz unten stand. Das machte sie absichtlich, um auch den Autoren eine Chance zu geben, die es manchmal sogar eher verdient hätten, ganz oben zu stehen. Mit diesen Büchern las sie sich jeden Abend unter dem Licht der Nachttischlampe in den Schlaf. Diesmal war sie auf der Suche nach einer Anleitung für Schminktipps, wurde ziemlich schnell fündig und verließ zufrieden den Laden. Je praller ihre Einkaufsbeutel wurden, desto mehr wuchs ihr Selbstbewusstsein. Ihr Gang veränderte sich merklich, wurde sicher und federnd, und mit erhobenem Kopf und gut gelaunt, fuhr sie aus der Stadt und trug ihre zukünftige, in Seidenpapier und viel Plastik verpackte Schönheit in ihre alte Lehmkate. Alles ist jetzt möglich, jubelte es in ihr. Alles! Sie konnte die bevorstehende, aufregende Situation ihrer Verwandlung ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, durchziehen, denn sie wurde nicht durch eine lästige Frömmigkeit an der grundlegenden Veränderung ihres gesamten Outfit behindert. Die Tage vergingen, die Nähmaschine ratterte, und unter ihren geschickten Händen entstand ein traumhaft schönes und dazu noch wahnsinnig raffiniertes Festtagskleid, das lang genug, nur ein Stück ihrer spargeldünnen, aber von Natur aus haarlosen Beine zeigte. Der „Schnuckentanz“ rückte unaufhaltsam näher. Und näher rückten somit auch die Termine in der Stadt. Am Morgen des Tages, an dem die Restaurationen an ihr vorgenommen werden sollten, die Reinigung blieb an diesem Tag geschlossen, betrachtete sie sich nach dem Aufstehen im Spiegel, was sie sonst aus verständlichen Gründen eher vermied, um sich nicht täglich die Laune zu verderben. Kritisch musterte sie ihr blasses Gesicht. Der Spiegel offenbarte ihr das ganze Elend gnadenlos und ohne Rücksicht im Schein der Hängelampe über dem Tisch mit der großen Waschschüssel. Sie fuhr sich mit den Händen durch das räudige Fell auf ihrem Kopf. Verflixt noch mal, mit dem „Schnuckentanz“ im Nacken, sehe ich noch viel schrecklicher aus als sonst, flüsterte sie. Sie ließ ihren Bademantel von den nackten Schultern gleiten und ging unter die Dusche. Der Wasserdampf legte einen transparenten Schleier um ihren Körper, während das warme Wasser liebkosend an ihr herunter lief. Das waren einige Momente der grenzenlosen Entspannung, in denen sie sich gewärmt und gestreichelt fühlte, bevor sie in etwa zwei Stunden den kritischen Blicken und prüfenden spitzen Fingern der Friseurin an ihren mickrigen Haaren ausgeliefert sein würde. Sie brauchte nicht lange zu warten. Kitti war blutjung und wahnsinnig gut drauf. Korallenrot gefärbt, wucherte ihr das dichte, gegelte Haar frech geschnitten, um das hübsche Gesicht, aus dem sie Agnes mit strahlenden, dunklen Augen und Wahnsinnswimpern zu verstehen gab, wie sehr sie sich freute, sie bedienen zu dürfen. Mit je zwei Silberringen durch die Nasenflügel und etlichen Silberkügelchen, die eng beieinander beide Ohrmuscheln säumten, wie Mausezähnchen an gehäkelten Topflappen, war Kitti für Agnes sofort Beweis genug dafür, was man aus sich machen konnte, wenn man nur wollte, oder in ihrem Fall, einfach mal den Mut dazu aufbrachte, sich zu trauen. Kitti nahm Agnes zwitschernd unter ihre Fittiche, schob sie in einen Raum mit ekelhaft viel hellem Licht und zwang sie sofort auf eine der vielen bequemen Sitzgelegenheiten, hinter denen die Waschbecken auf alle Nacken dieser Welt lauerten. Mit geschickten Händen und enorm redselig, verhalf sie Agnes nach etlichen Vorbereitungen und viel Zeit, zu atemberaubend mehr Haar mit blonden Strähnen, als Agnes es je für möglich gehalten hatte. Die Schönheit schien sich Stück für Stück über sie herzumachen. Zufrieden mit Agnes Freude über den künstlichen Haarzuwachs, entließ Kitti ihre Kundin trällernd ins Nagelstudio gleich nebenan, dem diese nach einer ganzen Weile mit weichen, duftenden Handrücken und makellosen, langen Fingernägeln in dunkelblau mit violetten Punkten und einem Gefühl, als würde sich über ihr der Himmel zum Glück auftun, den Rücken kehrte. Auf dem Weg zum Kosmetikstudio erschrak Agnes freudig, nein, geradezu grenzenlos euphorisch über ihr Spiegelbild in den Schaufenstern, an denen sie vorbei ging und betrat selbstbewusst das duftende Studio, einige Straßen weiter. Ein atemberaubendes Ambiente in Grautönen, in dem Mona sie strahlend vor Glück, mit dem Bewusstsein, tausendmal schöner zu sein, als alle Frauen dieser Welt, in Empfang nahm. Das Gesicht mit lichtgrauen, feuchtwarmen Tüchern abgedeckt, entspannte sich Agnes auf der mausgrauen Lederliege und wäre beinahe eingeschlafen. Richtig wach wurde sie, als es doch mit ziemlich roher Gewalt und undefinierbaren Geräten an die Vernichtung ihrer Mitesser ging. Und es waren viele, wie Mona mit heruntergezogenen Mundwinkeln kundtat, was Agnes peinlich berührte. Es tat weh, und Agnes erwartete Blut. Die Spuren dieser Tortour würden bis zum nächsten Morgen abklingen, versprach die mädchenhafte Mona, die, so fand Agnes es als ungerecht, mit einer so makellosen Haut gesegnet war, wie Schneewittchen. Die sanfte Gesichtsmassage mit zart duftenden Essenzen tat Agnes sehr gut. Danach wurden die Augenbrauen mit ruckartiger, schmerzhafter Zupftechnik in eine schwunghafte Form gebracht und anschließend gefärbt. Von den kläglichen Wimpern ließ Mona die Finger. Agnes hatte mit einem ihrer Finger auf deren Wimpern gezeigt und mit dem Kopf geschüttelt. Das war dann für Mona ein Beweis dafür, dass ihre Kundin trotz ihres Alters total up to date zu sein schien, und dass das mit den Wimpern wahrscheinlich längst zu deren täglicher, fingerfertigen Prozedur gehörte. Mona schnatterte ununterbrochen und überzeugte Agnes keinesfalls, was sie dringend in ihre Haut einmassieren, vorher selbstverständlich verantwortungsvoll und gründlich zu reinigen und auch nachts aufzutragen hatte, um Schlimmes zu verhindern. Nein, Mona hob eine Augenbraue und überzeugte mit Argumenten und schaffte es, das Agnes zustimmte und sämtliche Produkte kaufen wollte, mit denen sie in der vergangenen Stunde in Kontakt gekommen war. Agnes hatte das Gefühl, wenn sie sich dieser wichtigen Prophylaxe, die ihren drohenden, völligen Verfall garantiert aufhalten konnte, verweigerte, würde das Bild, das sie sich bei Mona über eine Stunde hart erarbeitet hatte, sofort zunichte gespart. Da war kein vernünftiges Gegenargument erlaubt. Mona war zufrieden, sortierte und stapelte neben Agnes die Kosmetik zu einer beachtlichen Höhe und addierte dann flink mit dem Taschenrechner. So war dann auf Agnes Konto per Kreditkarte den ganzen Vormittag Hochbetrieb, ja, geradezu der Teufel los. Eine zauberhaft, bunt bedruckte und prall gefüllte, stabile Papiertüte, mit einer pinkfarbigen, dicken Kordel als Henkel, deren kostbaren Inhalt Agnes nun ihr Eigen nennen durfte, wurde von ihrer Faust umklammert und war auf dem Weg in die Lehmkate. Für Agnes auch noch mit einem irrsinnig guten Gefühl, unter den munteren Händen von Fachfrauen zu einer richtigen, und zwar zu einer so richtigen großartigen Frau mit wohl ganz natürlichen Bedürfnissen, die einfach dazugehörten und enormen, ebenso normalen Ansprüchen, geworden zu sein. Agnes war sich durchaus sicher, dass das jeder Mann sofort als unverkennbar weiblich registrieren würde, sowie sie sich zu einer selbstbewussten, wunderschönen Frau gestylt haben und in einem der Festzelte beim „Schnuckentanz“ sehen lassen würde und nach ihrer großartigen Verwandlung dann auch durchaus sehen lassen konnte! Alle, die sie bisher als weibliches Wesen übersehen hatten, und da konnte es von der männlichen Seite her doch gar keine Ausnahme geben, würden sie endlich als Frau wahrnehmen müssen, es war gar nicht anders möglich! Allein dafür lohnten sich auch schon die high heels, auf denen Agnes noch gehen lernen musste, als hätte sie niemals andere Schuhe getragen. Sie hatte all ihren Mut zusammengenommen, um sich als modebewusste Frau zu beweisen und die Schuhe in einem frechen Magenta mit Perlmutteffekt gewählt. Mehr hatte sie nicht für sich tun können. Wieder im Schutze ihrer alten Lehmkate, schüttete sie die Papiertüten aus und sortierte mit Neugier und spitzen Fingern ihre Ausbeute auf dem großen Esstisch unter dem niedrigen Sprossenfenster. Da waren Flakons, Tuben, ein Konturenstift, eine Tages- und eine Nachtcreme für Mischhaut, ein winziger Naturschwamm, ein Lippen- und ein Augenbrauenstift, mit einer kleinen Bürste unter einer goldfarbigen Hülle, wasserfestes Mascara, Rouge, Lidschatten in verschiedenen Tönen, Lipgloss, mattierendes Make-up in unterschiedlichen Nuancen, Gesichtswasser ebenfalls für Mischhaut, Peeling, Augen-Make-up-Entferner, sowie ein Foltergerät, das aus einer kleinen Rolle mit Griff, wie bei einer Zahnbürste, bestand. Die Rolle war übersät mit kurzen, feinen Stahlstiften, mit denen sich auch noch die letzte abgestorbene Hautzelle unter leichtem Schmerz abtransportieren ließ, wenn man sich genau an die Gebrauchsanweisung hielt, auf die Rolle einen leichten Druck ausübte und sie erst waagerecht, dann senkrecht und dann diagonal über die Gesichtsflächen und die Nase rollte, als würde man einen Acker umpflügen. Es kam Agnes so unrealistisch vor, diese Dinge zu besitzen. Sie, die es bisher völlig überflüssig fand, sich das Gesicht oder die Hände einzucremen. Konnte es sein, dass mit diesem zusammengesuchten Sortiment tatsächlich die so begehrenswerte „Schönheit“ gemeint war, die sie eigentlich gar nicht wollte? Dass es aber ohne diese kosmetischen Lügen kein Glück geben würde? Ihr Erscheinungsbild war jenseits der Norm, aber warum kam sie nicht auf die Idee, die einmal infrage zu stellen? Sie schaute etwas skeptisch auf den ganzen Krempel, als hätte sie nichts damit zu tun. Als würde sie sich mit diesen Dingen verraten, geradezu auslöschen wollen, indem sie sich übermalte, wie ein Maler es mit einem missglückten Bild tat, um es nicht dulden oder gar üble Kritik ernten zu müssen. Sich mit diesen Hilfsmitteln zu arrangieren, war nur möglich, weil sie um ihre Unversehrtheit unter der Maske wissen würde. Hin und her gerissen von der Realität und der Lüge, ging sie in das kleine Waschzimmer, schaute in den Spiegel und erkannte sich aufgrund ihrer Haarpracht kaum wieder. Doch sie begann, sich dann doch unsagbar zu gefallen, und eine kribbelnde Eitelkeit nahm von ihr Besitz. Ein zufriedenes Lächeln huschte über ihr Gesicht und sie bewegte sich wie auf Wolken, trällernd zurück zu ihren Schätzen, mit denen sie sich nun so richtig vertraut machen wollte.



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