Читать книгу Butler Parker Paket 3 – Kriminalroman - Günter Dönges - Страница 18
ОглавлениеGünter Dönges
Killer für zwei schlanke Beine
Das Wetter war alles andere als angenehm.
Kathy Porter, die attraktive Gesellschafterin Lady Agathas, saß am Steuer ihres Mini-Cooper und war auf der Heimfahrt nach London. Es goß aus Kübeln. Der Regen peitschte gegen die Windschutzscheibe. Die Sicht war scheußlich und ließ kein schnelles Fahren zu.
Kathy hatte das Autoradio eingeschaltet und dachte nicht daran, sich leichtfertig den Hals zu brechen. Von Reading aus hatte sie Josuah Parker verständigt und ihm ihr späteres Ankommen angekündigt. Der Butler hatte sie beschworen, kein unnötiges Risiko einzugehen, und ihr Hinweise auf die Gefahren des Aquaplaning gegeben.
Davon schien der Fahrer nichts zu wissen, dessen Scheinwerfer plötzlich im Rückspiegel des Mini-Cooper erschienen und sich ungewöhnlich schnell näherten. Der Mann hatte die Lichter voll aufgeblendet und scherte sich den Teufel darum, daß er lästig war.
Kathy Porter minderte unwillkürlich das Tempo ihres kleinen Wagens. Sie war zwar eine ausgezeichnete Fahrerin, wollte aber diesen rücksichtslosen Flegel so schnell wie möglich an sich vorbeilassen. Daß es sich um einen männlichen Chauffeur handeln mußte, stand für Kathy so gut wie fest, denn eine Frau hätte solch ein riskantes Tempo wohl nie gewählt.
Ein Wagen zischte an ihr vorbei …
Kathy erkannte im Lichtkegel der Scheinwerfer die langgestreckte Haube eines Sport-Jaguar, der wie ein Blitz vorbeihuschte, und sah dann die Rücklichter, die sehr schnell klein wurden und hinter einer leichten Wegbiegung verschwanden.
Kathy befand sich nicht auf der Hauptstraße von Bristol nach London. Wegen eines Verkehrsstaus infolge eines Massenunfalls auf der Schnellstraße Nr. 4, von dem sie im Autoradio gehört hatte, war sie nach Basingstoke ausgewichen, um über die Autostraße Nr. 30 nach London zu kommen.
Diese Verbindungsstraße zeichnete sich nicht gerade durch eine besondere Breite aus, dafür war sie aber streckenweise geteert, deshalb also noch nicht griffig und eingefahren, was der Fahrer des Jaguar wohl zu spät bemerkte.
Kathy Porter hörte nichts von dem Unfall, dazu trommelte der Regen zu intensiv auf das Wagendach. Sie sah nur plötzlich einen steil in die Luft schießenden Feuerschein und wußte im selben Moment, daß der Jaguar nicht mehr auf seinen vier Reifen stand.
Helfen, das war das einzige, woran die junge Frau sofort dachte. Kathy steigerte das Tempo, vielleicht kam es auf jede Sekunde an. Sie näherte sich der Straßenbiegung und entdeckte den bereits lichterloh brennenden Wagen, der von der Fahrbahn abgekommen war. Der Jaguar lag auf dem Dach und produzierte immer neue Feuergarben, die auch von dem strömenden Regen nicht gelöscht wurden.
Hart hielt sie an, griff nach dem Feuerlöscher, drückte die Tür auf und rannte zur Unfallstelle. Kathy trug sportlich lange Hosen und konnte sich frei bewegen. Sie war in Sekunden bis auf die Haut durchnäßt. Sie achtete nicht weiter darauf, daß die leichte Bluse bereits an ihrem Körper klebte, löste den Sicherungsstift des Feuerlöschers und brauchte für ihr Gefühl fast eine kleine Ewigkeit, bis sie endlich den brennenden Wagen erreicht hatte.
Kathy sah auf den ersten Blick, daß der Fahrer nicht mehr im Wagen saß.
Er mußte herausgeschleudert worden sein.
Kathy kämpfte sich ah die sengende Hitze heran, um nach einem etwaigen Beifahrer Ausschau zu halten. Erleichtert stellte sie fest, daß der Sitz leer war. Der Jaguar konnte also ausbrennen, hier war nicht mehr viel zu machen. Doch wo war der Fahrer?
Der Feuerschein reichte aus, um die nähere Umgebung des Wagens abzusuchen.
Kathy stolperte über Grasbüschel, versank bis zu den Fußknöcheln in der sumpfigen Wiese und ging in einem weiten Bogen um den Wagen herum, doch den Fahrer entdeckte sie nicht. Schließlich blieb sie nachdenklich am Ufer eines Baches stehen. Als gerade wieder eine Flammengarbe zum Himmel schoß, glaubte sie Schleifspuren an der Böschung zu erkennen.
Hatte der Fahrer des Jaguar sie hinterlassen? Hatte er nach diesem schrecklichen Unfall noch die Kraft gehabt, bis hierher an den Bach zu kommen?
Sie rief laut „Hallo“, ging ein Stück am Ufer entlang, schüttelte ratlos den Kopf und drehte sich wieder zu dem brennenden Wagen um.
Endlich entdeckte sie den Fahrer!
Er lag in einer flachen Mulde, hatte sich halb aufgerichtet und winkte ihr mit der Hand matt und kraftlos zu. Kathy konnte sich zwar nicht erklären, wieso sie den Mann übersehen hatte, doch darauf kam es jetzt überhaupt nicht an. Sie rannte hinüber zu dem Mann und wollte helfen.
Als sie sich zu ihm hinunterbeugte, wurde der Verunglückte allerdings sehr munter.
Seine Hände schossen blitzschnell vor und legten sich um ihren Hals, worauf Kathy Porter unter gewissen Luftschwierigkeiten litt …
*
Butler Parker war leicht verstimmt.
Er stand in der Vorhalle des Stadthauses von Lady Agatha Simpson und musterte sehr distanziert die beiden Bücherkisten, die vor einer halben Stunde abgeliefert worden waren. Sie gehörten zu einer Massensendung, die seine Herrin bestellt hatte.
Agatha Simpson, die Dame des Hauses, steinreich und skurril, hatte sich nämlich entschlossen Schriftstellerin zu werden. Das hatte sie ihrem Butler vor einigen Tagen erst am Frühstückstisch offenbart, worauf Parker sicherheitshalber vorerst mal mit keiner Wimper gezuckt hatte. Er kannte die exzentrischen Hobbys seiner Herrin und wußte aus Erfahrung, daß sie selten von langer Dauer waren.
Diesmal schien die Sache allerdings ernst zu werden.
Lady Agatha hatte sich eine elektrische Schreibmaschine kommen lassen, Diktiergeräte und Wagenladungen von Manuskriptpapier. Sie war fest entschlossen, Bestseller zu schreiben, und wollte sich auf dem Spezialgebiet des Kriminal-Thrillers einen Namen machen. Wie sie ihrem Butler gegenüber geäußert hatte, besaß sie auf diesem Fachgebiet genug Erfahrung.
Während Mylady seit Tagen die Technik ihrer Kollegen eingehend studierte, hatte Parker die Arbeit. Er mußte nämlich die Kisten auspacken, die Bücher ordnen und unterbringen. Seiner bescheidenen Ansicht nach quoll das altehrwürdige Haus in Shepherd’s Market fast über, und er wußte kaum noch, wo er all die vielen Bände unterbringen sollte. Sie waren bereits über sämtliche Zimmer verteilt, doch Lady Agatha erwartete von ihrem Butler, daß er selbstverständlich auf Anhieb zu sagen wußte, wo sich welches Buch befand.
Die leidenschaftliche Amateurdetektivin hatte sich für Fachliteratur entschieden und sämtliche Standardwerke eingekauft, die auf dem Buchmarkt zu haben waren. Angefangen von der Gerichtsmedizin bis zur Psychologie des Verbrechens stand ihr alles zur Verfügung. Es war Myladys Ehrgeiz, eine gewisse Agatha Christie zu übertreffen. Für die nahe Zukunft hatte Lady Agatha sogar Bühnenwerke angekündigt. Darüber hinaus gedachte sie, die BBC mit Fernseh-Kriminalspielen zu beglücken, und zweifelte nicht eine einzige Sekunde lang an ihrer einmaligen Begabung.
Butler Parker deutete eine höfliche Verbeugung an, als Agatha Simpson in der Vorhalle erschien.
Sie erinnerte an eine Walküre, war groß, majestätisch und 60 Jahre alt, wovon sie aber nicht gern sprach. Nach dem Tod ihres Mannes war sie die Alleinerbin eines sagenhaften Vermögens geworden. Lady Agatha war eine ungewöhnliche Frau. Sie liebte das Abenteuer und witterte hinter alltäglichen Banalitäten stets einen großen Kriminalfall.
Sie war auf ihre Art liebenswert.
Verschwistert und verschwägert mit dem Hochadel des Landes, stand ihr praktisch jede Tür offen. Auf der anderen Seite konnte sie noch derber sein als eine Blumenfrau vor Covent Garden. Wenn sie in Rage geriet und schimpfte, spitzten selbst abgebrühte Taxifahrer die Ohren und lernten freudig dazu. Ihre Ungeniertheit selbst höchstgestellten Personen gegenüber war erfrischend.
In jungen Jahren hatte Lady Agatha sich sportlich betätigt. Auch jetzt spielte sie noch hervorragend, wenn auch sehr regelwidrig. Golf, Tennis und war eine Meisterin im Sportbogenschießen. Beim Tontaubenschießen war ihre Trefferquote bestürzend hoch und gut. Kurz, sie stand mit ihren stämmigen Beinen immer noch fest auf dem Boden.
Als sie in der Vorhalle des Stadthauses erschien, trug sie ein wallendes Gewand, eine Kreuzung zwischen Nachthemd und Morgenmantel. Sie hielt ein dickes Buch in der Hand, schlug es auf und präsentierte dem leicht indignierten Butler einige Tatortfotos aus der Gerichtsmedizin.
„Sehen Sie diese wunderbaren Nahaufnahmen an“, begeisterte sie sich.
„Die Würgemale am Hals des Opfers sind geradezu einmalig.“
„Wie Mylady meinen“, erwiderte Parker mit deutlicher Zurückhaltung.
„Aber das ist noch gar nichts gegen diese herrlichen Fotos“, stellte Lady Agatha fest und blätterte weiter in dem dicken Band. „Interessieren Sie sich für Vergiftungen?“
„Nur bedingt, Mylady“, sagte Parker, „falls sie sich nämlich nicht auf meine bescheidene Wenigkeit beziehen.“
„Dann werde ich Ihnen Aufnahmen eines Opfers zeigen, das von seinem Mörder in Stücke zerlegt wurde.“
„Darf ich mir erlauben, Myladys Aufmerksamkeit auf die Bücherkisten zu lenken?“ Parker war an einem Wechsel des Themas sichtlich interessiert.
„Und?“ Sie sah ihn ein wenig enttäuscht an und klappte den dicken Fachband zu.
„Ich sehe mich außerstande, noch weitere Bücher im Haus unterzubringen, Mylady.“
„Aber wir haben doch Platz genug“, stellte Agatha Simpson erstaunt fest und deutete ins Treppenhaus. „Lassen Sie Bücherregale anbringen, Mr. Parker. Bücher sind die schönste Tapete, die ich mir vorstellen kann.“
„Sehr wohl, Mylady.“
„Ich werde in den nächsten Tagen mit meinem ersten Romankapitel beginnen, Mr. Parker.“
„Das war zu erwarten, Mylady.“
„Sorgen Sie dann dafür, daß ich auf keinen Fall gestört werde! Ich brauche absolute Ruhe und Konzentration.“
„Darf ich mir eine Frage erlauben, Mylady?“
„Natürlich, Mr. Parker. Ich ahne schon, worauf Sie hinauswollen.“
„Mylady?“ Parker fühlte sich mißverstanden.
„Ihr Wunsch sei Ihnen gewährt“, versprach Agatha Simpson großzügig, obwohl Parker nun wirklich keinen Wunsch geäußert hatte. „Sie dürfe die ersten Seiten selbstverständlich anlesen.“
„Eine hohe Auszeichnung, Mylady!“
„Habe ich Ihnen schon gesagt, worüber ich meinen ersten Thriller schreiben werde?“
„Mylady waren in dieser Hinsicht sehr verschwiegen.“
„Ein Spionagethema“, redete Agatha Simpson weiter und wanderte in der Vorhalle auf und ab. „Der Fall wird bis in höchste Regierungskreise hineinspielen.“
„Bemerkenswert, Mylady.“
„Es wird sich aber nicht um einen normalen Spionagefall handeln.“
„Eine äußerst geschickte Variante, Mylady.“ Parker war ein höflicher Gesprächspartner. „Demnach ist mit einem unnormalen Spionagefall zu rechnen, Mylady?“
„Richtig, diese Formulierung trifft es haargenau. Ich muß mir allerdings erst noch überlegen, was ich speziell wählen soll. Vielleicht sollten wir uns mal darüber ausführlich unterhalten, Mr. Parker.“
„Sobald ich die Bücher ausgepackt habe, Mylady.“
„Das hat Zeit.“ Man sah es ihr an der Nasenspitze an, daß sie einen Menschen brauchte, der ihr eine Idee lieferte.
„Sehr wohl, Mylady, dann wäre für Miß Porter noch ein kleiner Imbiß zu richten“, entschuldigte sich Parker weiter, „danach stehe ich Mylady sofort zur Verfügung.“
„Ja, wo bleibt eigentlich Kathy?“ wunderte sich Agatha Simpson und sah auf die alte Standuhr in der Vorhalle. „Sie müßte doch längst hier sein. Hoffentlich ist nichts passiert. Die Zeiten sind so unsicher!“
Es war nicht Sorge, die aus ihr sprach, sondern freudige und hoffnungsvolle Erwartung.
Mylady sehnte sich wahrscheinlich wieder mal nach einem Fall!
*
Im ersten Moment war sie keiner Gegenwehr fähig.
Zu überraschend war der Angriff gekommen, zu fest schlossen sich die stahlharten Finger um ihren Hals und schnitten ihr die Luft ab. Doch dann besann Kathy sich auf all das, was sie von einem gewissen Josuah Parker gelernt hatte und was sie von sich aus konnte.
Sie versuchte erst gar nicht, die Klammer um ihren Hals zu lösen. Dabei hätte sie mit Sicherheit zuviel Zeit verloren. Kathy stieß nicht nur mit dem Knie zu, sondern langte auch nach den Ohren des Angreifers und drehte sie wie einen Lichtschalter nachdrücklich zur Seite, was dem Mann überhaupt nicht bekam.
Er brüllte, gab ihren Hals frei und merkte kaum, daß Kathy hochsprang.
Leider war das aber auch alles, was Kathy erreichte.
Als sie die Flucht ergreifen wollte, erhielt sie einen harten Schlag auf den Hinterkopf und verlor augenblicklich das Bewußtsein. Sie merkte nicht, daß der Mann, der hinter ihr aufgetaucht war, sie auffing, und sah nicht, daß der angeblich Verunglückte blitzschnell aufstand und nach ihren Beinen griff.
Die beiden Männer hatten es es eilig. Der lichterloh brennende Wagen schien sie sehr zu stören.
Sie schleppten die junge, bewußtlose Frau in einem weiten Bogen um das Wrack herum und steuerten einen schmalen Feldweg an, der bis hinunter zum Bach verlief. Hier erreichten sie einen dunklen Kastenlieferwagen, der hinter hohen Sträuchern stand.
Während dieser Minuten träumte Kathy Porter einen Traum, der mit der harten Realität überhaupt nichts zu tun hatte. In diesem Traum lag sie auf einer Luftmatratze und ließ sich von den sanften Wellen eines Sees wiegen. Das sanfte Wiegen wurde allerdings plötzlich sehr hart. Kathy erwachte, schaute sich verwirrt um und begriff dann, daß sie sich auf der harten Ladefläche eines Wagens befand, der durch tiefe Schlaglöcher rumpelte.
Die Entführte wußte sofort, was passiert war, richtete sich auf und merkte bei dieser Gelegenheit, daß man sie an Händen und Füßen gefesselt hatte. Isolierband ersetzte die sonst üblichen Stricke und war wesentlich wirkungsvoller.
Kathy Porter ließ sich vorsichtig zurückgleiten und dann weiter durchschütteln.
Warum man sie gekidnappt hatte, war ihr rätselhaft.
Daß Sie es mit zwei Gegnern zu tun hatte, war ihr hingegen klar. Der scheinbar verunglückte Mann mußte noch einen Helfershelfer gehabt haben. Es mußte sich schon um sehr eigenartige Retter handeln, die herunter zu dem brennenden Autowrack gekommen waren.
Wie lange Kathy besinnungslos war, ließ sich nicht berechnen. Demnach konnte sie auch noch nicht mal schätzen, seit wann sie sich in diesem scheußlichen Wagen befand. Sie ärgerte sich nur, auf diese heimtückische Art hereingelegt worden zu sein. Handelte es sich um ehemalige Gegner, die ihr während der ganzen Heimfahrt auf der Spur gewesen waren? Oder hing dieser Überfall mit dem brennenden Jaguar zusammen?
Bevor Kathy Porter sich in weiteren Spekulationen ergehen konnte, hielt der Wagen jäh an.
Haltlos rollte die junge Frau herum und landete vor der Längsseite des Wagens. Sie hörte das Öffnen und Zuschlägen der beiden Türen, dann Schritte. Wenig später blinzelte Kathy in das grelle Licht einer Taschenlampe.
„Schreien ist wohl völlig sinnlos, nicht wahr?“ fragte sie.
„Kluges Kind“, sagte eine Männerstimme. „Wer schreit, kriegt eins aufs Maul!“
Sie zerrten Kathy wenig sanft an den Rand der Ladefläche. Starke Arme lifteten sie an und legten sie über eine breite Männerschulter, dann wurde sie über einen mit Steinplatten ausgelegten Weg in ein Haus getragen, von dem sie nur die Umrisse erkannte. Der Regen war noch stärker geworden.
Der zweite Mann schloß hinter ihr die Tür, dann landete Kathy Porter mit viel Schwung und wenig Liebe auf einem Sofa, dessen Federn ausgeleiert waren.
Neugierig sah sie die beiden Männer an, die Licht gemacht hatten.
Einer von ihnen – der sie getragen hatte – war groß und breitschultrig. Er wirkte ein wenig beschränkt. Der zweite Mann hingegen behagte Kathy überhaupt nicht. Er war mittelgroß, schlank und litt noch eindeutig unter dem Kniestoß, den sie ihm versetzt hatte. Seine Augen rissen ihr die Kleider vom Leib, waren in ununterbrochener Bewegung und gehörten einem Menschen, der mit Sicherheit ein Sadist war.
*
„Ihre Ruhe möchte ich haben, Mr. Parker.“
Lady Agathas Stimme grollte verärgert. Sie hatte sich hinter ihrem Butler aufgebaut und räusperte sich nachdrücklich.
„Mylady?“ Parker wandte sich höflich um und wußte, was ihm blühte. Agatha Simpson hatte sich in der Zwischenzeit umgekleidet und machte einen äußerst unternehmungslustigen Eindruck. Sie trug ein derbes Tweed-Kostüm, flache Wanderschuhe und einen Hut, der an den Südwester eines Segelschiffkapitäns erinnerte. An ihrem linken Handgelenk baumelte der Pompadour, diesmal allerdings handelte es sich um eine wettersichere Ausführung. Der Pompadour war ein Lederbeutel, der neben Myladys „Glücksbringer“ noch einige andere nützliche Utensilien enthielt.
„Worauf warten Sie noch?“ grollte die Detektivin.
„Mylady haben bestimmte Pläne?“
„Wir werden nach Kathy suchen“, ordnete die walkürenhafte Dame energisch an. „Ich erwarte, daß wir in weniger als drei Minuten losfahren können.“
„Wie Mylady wünschen.“ Widerspruch war sinnlos, das wußte der Butler seit geraumer Zeit. Wenn Lady Agatha sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war sie auch nicht mehr von einem Kampfpanzer zu bremsen. Parker griff nach seinem schwarzen, knielangen Covercoat, der im Vorflur an der Garderobe hing, setzte die schwarze Melone auf und versorgte sich mit seinem altväterlich gebundenen Universal-Regenschirm. Nach insgesamt zwei Minuten saß er am Steuer seines hochbeinigen Monstrums, während Mylady im Fond des ehemaligen Londoner Taxis Platz genommen hatte. Sie machte einen äußerst zufriedenen Eindruck, denn endlich gab es für sie etwas zu tun. Vielleicht war sie aber auch nur erleichtert, daß sie nicht mehr vor der Schreibmaschine zu sitzen brauchte.
Die Fahrt durch das dunkle, regenüberflutete London war erstaunlich problemlos, der Verkehr geradezu harmlos. Schon nach einer halben Stunde hatten sie die Ausfallstraße Nr. 30 erreicht.
„Wollen Sie an einem Wettrennen für Schnecken teilnehmen, Mr. Parker“, erkundigte Lady Agatha sich vorwurfsvoll, „oder soll ich das Steuer übernehmen?“
Josuah Parker bekam fast so etwas wie einen elektrischen Schlag, als Mylady diese Ankündigung vom Stapel ließ. Er kannte die einmalige Fahrkunst der unternehmungslustigen Dame. Dennoch war er der Ansicht, auf die schlechte Sicht der Straßenverhältnisse hinweisen zu müssen. Er machte auf die Gefahren des Aquaplaning aufmerksam und deutete an, man könne unter Umständen von der Straße fliegen.
„Ich denke, Sie haben Ihr Pilotenexamen“, war Myladys grollende Antwort. „Verschonen Sie mich mit diesen unwesentlichen Kleinigkeiten, ich bitte mir etwas mehr Tempo aus, Mr. Parker!“
Bruchteile von Sekunden später wurde Lady Agatha sehr nachdrücklich in ihren Sitz zurückgeworfen, denn Parker hatte wunschgemäß Gas gegeben.
*
Pete Malbert war ein Stromer, Trinker und Schnorrer.
Der Mann, etwa 50 Jahre alt und klein, hatte ein gedunsenes Gesicht und eine rote Schnapsnase. Pete schlug sich mehr schlecht als recht durchs Leben, machte lange Finger, wo die Gelegenheit sich bot, hatte schon ein paar Jahre gesessen und war im Grunde harmlos.
In diesen Minuten fühlte er sich prächtig.
Er hatte sich eigentlich schon seit langem gewünscht, wieder mal am Steuer eines Wagens sitzen zu können. Der letzte Versuch war böse für ihn ausgegangen und hatte ihn ein halbes Jahr Gefängnis gekostet, doch das lag inzwischen schön gut ein Jahr zurück.
Er war bis auf die Haut durchnäßt und dampfte aus allen Poren. Er hatte die Wagenheizung des Mini-Cooper voll aufgedreht, das Radio eingeschaltet und fuhr in Richtung London. Den Mini-Cooper hatte er sich „entliehen“, wie er es ausgedrückt hätte. In der Handtasche, die auf dem Beifahrersitz lag, hatte er 20 Pfund entdeckt und sofort eingesteckt, ganz zu schweigen von den Münzen. Er verfügte über ein Vermögen und war bereit, es in London so schnell wie möglich durchzubringen. Er gierte nach Bier und Whisky.
Pete Malbert hatte den Unfall bis ins letzte Detail genau mitbekommen, doch schon halb wieder vergessen. Daran war eine Flasche Wermut schuld, deren Inhalt durch seine Adern kreiste. Diese Flasche hatte er unter dem Bogen einer schmalen Bachbrücke geleert.
Die 20 Pfund waren wichtiger als der ganze Unfall.
Pete fingerte nach den Scheinen in seiner linken Rocktasche und steuerte den Mini-Cooper über die leere, kurvenreiche Straße. Er gratulierte sich zu seinem Glück, diesen Wagen oben auf der Straße entdeckt zu haben. Die langen Meilen bis nach London waren für ihn keine Strecke mehr. Er hatte sich vorgenommen, den Wagen gleich an der Peripherie der Stadt sehenzulassen. Ärger mit der Polizei wollte er nicht haben. Er kannte sich da aus.
Sein Fahrstil war nicht besonders gut.
Der Wermut hatte die Schärfe seines Blicks leicht gestört, der Alkohol beflügelte ihn, in sanften Schlangenlinien zu fahren. Dennoch war Pete heiter und vergnügt, bis plötzlich aus einer Kurve die grellen Lichtfinger voll aufgedrehter Scheinwerfer hervorstachen.
Pete Malbert reagierte prompt falsch.
Er kurbelte am Steuerrad, als müsse er einen schweren Raddampfer bewegen, kam von der Straße ab und schlitterte auf eine weite Wiese, nicht ohne vorher noch einen soliden Weidezaun in Stücke zu fahren.
Nach dieser Anstrengung legte Pete Malbert sich mit seinem Oberkörper über das Steuerrad und schlief ein. Er hatte sich nichts getan, doch er war plötzlich sehr müde.
*
„Wo steckt Burt Lister?“ fragte der Mann mit dem beiläufigen Ton eines Partyteilnehmers. Seine kleinen, flinken Augen glitten über Kathy, die verständnislos den Kopf schüttelte.
„Ich kenne keinen Lister“, erwiderte sie wahrheitsgemäß. „Sie müssen mich verwechseln. Ich bin doch nur runter zum Wagen gelaufen, um der Insassen zu helfen.“
„Haben wir uns da nicht ’ne prima Märchentante eingefangen?“ Der Mittelgroße mit den wieselflinken Augen wandte sich an seinen breitschultrigen Partner und lächelte dünn. Dann widmete er sich wieder Kathy, kam näher und beugte sich über sie. „Wohin wollte Lister, Süße? Wenn du scharf drauf bist, kitzel’ ich das auch aus dir raus. Es soll mir ein Vergnügen sein.“
Zur Unterstreichung seiner Worte holte er ein Rasiermesser aus der Ziertuchtasche seines Jacketts und klappte es auf. Er prüfte die Schneide sorgfältig mit seinem Fingernagel.
Während dieser Prozedur verzog der Breitschultrige sein Gesicht. Er machte einen durchaus angewiderten Eindruck und schien mit den Methoden seines Partners überhaupt nicht einverstanden zu sein.
Kathy überlegte blitzschnell.
Sie wirkte nach außen hin zwar wie ein scheues Reh, war in Wirklichkeit aber eine junge Frau, die sich ihrer Haut zu wehren wußte. Sie hatte in der Vergangenheit schon manches Abenteuer durchgestanden und wußte, wie man sich in einem solchen Fall verhalten mußte.
Die beiden Entführer verwechselten sie offensichtlich.
Es war sinnlos, ihnen das Gegenteil einreden zu wollen, sie hätten ihr doch kein Wort geglaubt Also mußte sich Kathy Porter einiges einfallen lassen.
„Wir … wir wollten nach Staines“, schwindelte sie munter drauflos und wich ängstlich vor dem Rasiermesser zurück. „Burt wollte mir sein neues Cottage zeigen.“
„Ach nee!“ Der Schlanke war ehrlich überrascht.
„Und wo genau?“ warf der Breitschultrige ein.
„Das weiß ich nicht es sollte ja eine Überraschung werden“, redete Kathy unbekümmert weiter, wobei sie selbstverständlich nervös und ängstlich tat.
„Staines“, sagte der Schlanke und dachte nach. „Überleg, Süße, ob er nicht ’ne Andeutung gemacht hat!“
„Ich weiß nicht“ Kathy gab sich hilflos und verzweifelt „Doch, jetzt fällt mir etwas ein.“
„Dein Glück“, drohte der Schlanke sofort.
„Laß sie doch ausreden“, fuhr der Breitschultrige seinem Partner in die Parade. Er beugte sich erwartungsvoll vor.
„Das Haus muß an einem Bach liegen. Er hat etwas von einem Mühlrad gesagt das sich für uns drehen wird.“
„Wie romantisch.“ Der schlanke Bursche grinste ironisch. „Seit wann kennst du Lister?“
„Seit ein paar Wochen“, stammelte Kathy hastig. „Wir lernten uns in einem Lokal kennen und sahen uns dann öfter.“
Sie hatte keine Ahnung, wer dieser gesuchte Burt Lister war, und wußte nur, daß es sich um den Fahrer des Jaguar handeln mußte. Jedes weitere Wort, das sie sagte, mußte genau überlegt werden. Die beiden Männer durften keinen Verdacht schöpfen.
Sie redeten leise miteinander, wobei sie hin und wieder schnell zu ihr herüberschauten.
„Was hat er beim Unfall abbekommen?“ fragte der Schmale, sich ihr wieder zuwendend.
„Ich weiß es wirklich nicht“, gab Kathy zurück und hob hilflos die Schultern. „Als ich wieder zu mir kam, war er bereits weg.“
„Und was dann?“ Der Breitschultrige mischte sich ein.
„Ich suchte nach ihm. Auf der Wiese und dann am Bach, aber ich konnte ihn nicht mehr finden.“
Kathy Porter fragte sich, warum sie nicht auf ihren Mini-Cooper zu sprechen kamen. Sie mußten ihn doch oben am Straßenrand gesehen haben. Allerdings ahnte sie nicht, daß ein gewisser Pete Malbert mit ihm losgeprescht war, bevor man sie im Kastenlieferwagen weggeschafft hatte.
Die beiden Kidnapper sprachen wieder leise miteinander.
Kathy Porter hatte endlich Zeit, sich in dem Wohnraum umzusehen. Es mußte sich um ein kleines Ferienhaus handeln, in das man sie geschafft hatte. Ob es den beiden Männern gehörte oder ob sie es gemietet hatten, darauf wußte sie keine Antwort.
„Mein Partner wird nach Staines fahren“, sagte der Breitschultrige schließlich, „Das Cottage wird sich ja finden lassen. Gnade dir Gott, Puppe, wenn du uns belogen hast, dann kannst du dich auf was gefaßt machen!“
Ein paar Minuten später war Kathy mit dem massiven Mann allein.
Er hatte sich auf die Kante eines schmalen Wandtisches gesetzt, ließ die Beine herunterbaumeln und sah sie intensiv und eindringlich an.
„Um was geht es eigentlich?“ fragte Kathy gespielt naiv und schüttelte ratlos den Kopf. „Was hat Burt denn angestellt?“
„Was du nicht weißt, macht dich nicht heiß“, lautete seine Spruchweisheit „Das Schwein will uns reinlegen.“
„Sie waren die ganze Zeit von Bristol aus hinter uns her?“ wunderte sie sich. Kathy brauchte Informationen. Sie ahnte, welche Fragen Butler Parker und Lady Simpson später stellen würden. Falls es ihr gelang, noch mal mit heiler Haut davonzukommen.
„Hinter ’nem Jaguar? Und mit Lister am Steuer?“ Der Breitschultrige lachte leise und schüttelte den Kopf. „Wir haben unterwegs auf ihn gewartet.“
„Ist … Burt ein Verbrecher?“ fragte sie zögernd und schlug gekonnt die Augen nieder.
„Laß die Fragerei, Kleine“, meinte der Breitschultrige. „Besser, du hättest diesen gerissenen Hund nie kennengelernt. Jetzt sitzt du in der Tinte.“
„Aber ich kenne ihn doch kaum.“ Kathy schluchzte überzeugend.
„Dafür kennst du jetzt uns“, antwortete er und sah etwas verlegen zur Seite. In diesem Moment wußte Kathy Porter, daß man sie umbringen würde. Sie war da in eine Sache hineingeraten, die tödlich endete, falls ihr nicht etwas einfiel.
*
Pete Malbert schnarchte hemmungslos und war auch durch derbes Rütteln an der Schulter nicht zu wecken. Parker wandte sich ein wenig hilflos zu Lady Simpson um, die seitlich hinter ihm stand.
„Wenden Sie endlich den dritten Grad an, Mr. Parker“, herrschte die kriegerische Dame ihren Butler an. „Wieviel Zeit wollen wir denn noch verlieren? Lassen Sie mich mal!“
Sie drängte den Butler zur Seite, schwang ihren Pompadour und ließ den Handbeutel aus Leder gegen Petes Seite pendeln. Der „Glücksbringer“ darin tat voll seine Wirkung. Pete schnaufte auf und stöhnte prompt. Er hatte den Eindruck, von einem Pferdehuf geküßt worden zu sein. Was im übertragenen Sinn sogar durchaus stimmte, denn Myladys „Glücksbringer“ war ein veritables Hufeisen, das Rippenbögen leicht zum Klingen und Singen brachte.
Aus verglasten Augen starrte Pete auf Lady Simpson.
„Hallo, Wachtmeister“, sagte er dann und nahm Haltung an. Er hielt die Dame für einen Vertreter des Gesetzes, wozu Myladys Südwester vielleicht ein wenig mitwirkte.
„Lassen Sie das, Sie Lümmel!“ Agathas Stimme dröhnte wie eine schlecht gestimmte Glocke. „Wie sind Sie an den Wagen gekommen?“
Pete Malbert bemerkte seinen Irrtum und wollte frech werden, zumal er den Butler nicht sah, der von Lady Agathas Rücken verdeckt wurde. Was verständlich war, denn Myladys Figur war imposant und erinnerte an die einer Wagner-Sängerin alten Stils.
„Hallo, Mädchen“, sagte er und stieg aus. Das heißt, er fiel förmlich aus dem Wagen, hielt sich an Mylady fest und merkte Bruchteile von Sekunden später, daß er das besser nicht getan hätte. Sie trat ihm sehr nachdrücklich gegen das linke Schienbein, worauf Pete erbärmlich schluchzte.
„Wo haben Sie den Wagen her?“ herrschte Lady Agatha den Stromer erneut an. „Antworten Sie, oder ich werde Sie verprügeln!“
Er glaubte ihr aufs Wort und stotterte seine Geschichte herunter, wobei er allerdings einige Kleinigkeiten verschwieg, wie sich später noch herausstellte.
„Und jetzt will ich Ihren Namen hören, Sie Flegel!“
„Harry Pool“, schwindelte er geistesgegenwärtig. „Ehrenwort, Lady, ich wollt’ den Schlitten nur zur nächsten Polizeistation bringen.“
Parker durchsuchte inzwischen Kathy Porters Handtasche und wurde wie Lady Simpson von der plötzlichen Flucht des Stromers überrascht, der sich ein Herz gefaßt hatte und losrannte.
„Halten wir uns nicht auf“, knurrte Lady Simpson, als Parker die Verfolgung aufnehmen wollte. „Lesen wir Miß Porter auf. Das arme Ding wird hilflos über die Straße irren.“
Parker hatte ein ungutes Gefühl, den Stromer ziehen zu lassen. Er hätte sich gern noch etwas intensiver mit ihm unterhalten, doch Lady Agathas Wunsch war ihm selbstverständlich Befehl. Er geleitete die ältere Dame zurück zum Wagen und öffnete den hinteren Schlag. Er nahm am Steuer Platz, setzte dann die Fahrt fort, hatte die Scheinwerder voll aufgedreht und suchte nach einer Gestalt, die einen Wagen zu stoppen versuchte.
Unterwegs begegnete ihnen ein dunkler Kastenlieferwagen, in dem aber nur ein Fahrer zu erkennen war, bevor Parker abblenden mußte. Sie passierten eine Reihe kleiner Steinhäuser, die offensichtlich zu einer Feriensiedlung gehörten, und erreichten dann schließlich die Unfallstelle, von der der Stromer berichtet hatte.
Eine lange Reihe parkender Wagen stand am Straßenrand, darunter auch zwei Polizeifahrzeuge.
Der Jaguar, von dem der Stromer berichtet hatte, war ausgebrannt. Die Unfallstelle wurde von zwei kleinen Standscheinwerfern der Polizei angestrahlt. Neugierige Menschen drängen sich auf der Wiese.
Parker stieg aus, öffnete seinen Regenschirm und begab sich hinunter zur Unfallstelle.
„Nun?“ fragte Agatha Simpson, als Parker nach wenigen Minuten zurückkehrte.
„Ich muß bedauern, Mylady“, antwortete der Butler. „Miß Porter war leider nicht anzutreffen. Sie scheint sich inzwischen schon eine andere Fahrgelegenheit verschafft zu haben.“
„Zurück nach London“ entschied die Detektivin. „Sehr enttäuschend, diese Ausfahrt, Mr. Parker, sehr enttäuschend! Ich hatte mir mehr davon versprochen.“
„Möglicherweise wartet Miß Porter bereits in der Stadtwohnung auf Myladys Rückkehr.“
„Rufen Sie von irgendwo an, Mr. Parker!“ Agatha Simpson war nicht mehr ganz bei der Sache. Ihre stille Erwartung, ein Abenteuer zu erleben, hatte sich nicht erfüllt. Sie war ein wenig ärgerlich.
Parker wendete den Wagen und fuhr zurück in Richtung London. Er erinnerte sich der Feriensiedlung und wollte von dort aus die Stadtwohnung anrufen.
Er konnte nicht wissen, daß Mylady dadurch doch noch zu ihrem Abenteuer kommen würde …
*
Er hatte das Isolierband an ihren Fußgelenken durchgeschnitten und brachte sie zur Tür des Badezimmers. Bei dieser Gelegenheit zeigte sich, daß er sich in dem kleinen Ferienhaus nicht auskannte. Er hatte nach diesem Baderaum erst suchen müssen.
Kathy nahm an, daß die beiden Kidnapper gewaltsam in dieses leerstehende Haus eingedrungen waren. Daher hatten sie auch wohl darauf verzichtet, die Deckenbeleuchtung einzuschalten. Im Wohnraum brannte nur eine kleine Lampe, die auf einem fast leeren Bücherbord stand.
„Mach bloß keinen Ärger“, sagte der Breitschultrige. Er öffnete die Tür, sah sich prüfend in dem kleinen Baderaum um und schob sie dann durch die Tür. Er war beruhigt, das kleine quadratische Fenster war kaum groß genug, selbst für einen schlanken Körper als Durchschlupf. Zudem war es sehr hoch angebracht.
Kathy atmete auf, als sie allein war.
Jetzt hatte sie eine echte Chance, den Kidnappern doch noch zu entwischen.
Die Zeit reichte natürlich nicht, das stramm sitzende Isolierband auch von den Handgelenken zu entfernen.
Kathy stieg geschmeidig hinauf auf den Toilettensitz und sperrte das kleine quadratische Fenster auf. Wenn man die Tür öffnete, mußte man es sofort sehen.
Dann baute sie sich hinter der Tür auf und wartete ab. Sie hielt in beiden Händen den Griff einer langstieligen Rückenbürste, eine improvisierte Waffe, die erst mal Verwirrung stiften sollte.
„Na, was is’?“ Der Breitschultrige vor der Tür wurde bereits unruhig und klopfte.
Kathy Porter antwortete nicht, hob die Rückenbürste aber bereits an.
„Was is’ denn? Ich komm’ jetzt rein!“ Der Kerl wurde ungeduldig, klopfte noch mal an und drückte dann die Tür schwungvoll auf.
„Verdammt!“ sagte er, als er das geöffnete Fenster sah. Er nahm an, daß sein Opfer die Flucht ergriffen hatte, machte einen großen Schritt ins Badezimmer und drehte dabei ganz automatisch Kathy den Rücken zu.
Sie ließ sich nicht lange bitten.
Mit aller Kraft schlug sie zu und traf das linke Ohr des Mannes, der vor Überraschung und Schmerz laut aufheulte. Bevor er sich auf die junge Frau einstellen konnte, benutzte sie ihre gebundenen Hände als weitere Waffe. Sie verabreichte dem mächtigen Kerl einen gekonnten Karatehieb.
Er blieb wie angewurzelt stehen, sah sie aus glasig werdenden Augen an, wollte noch an seine Schußwaffe, die in einer Schulterhalfter steckte, verlor jedoch die Kontrolle über seine Bewegungen und rutschte dann in sich zusammen.
Kathy war eine geschulte Sekretärin.
Sie ergriff nicht gleich die Flucht, sondern zupfte dem Mann erst mal die Schußwaffe aus der Halfter, stieg dann über ihn hinweg, steckte den Türschlüssel um und schloß von außen ab. Dann lief sie in den Wohnraum und blieb in der kleinen Pantry vor einem Küchenbüfett stehen. Sie zog eine Schublade auf, entdeckte ein Messer und schob es sich in den Mund. Das Messer mit den Zähnen festhaltend, zerschnitt sie dann das stramme Isolierband. Kathy arbeitete konzentriert und ruhig, als lege sie eine Geschicklichkeitsprüfung ab. Nach knapp dreißig Sekunden waren ihre Hände frei.
Kathy massierte sich gerade die schmerzenden Handgelenke, als sie draußen vor dem Haus Schritte hörte.
Der zweite Kidnapper!
Sie lief zur nächsten Tür und drückte sie auf. Der Lichtschein sickerte den Raum hinein, der sich als ein Schlafzimmer entpuppte. Kathy rannte zurück und nahm gleich neben der Haustür hinter einem bis zum Fußboden reichenden Vorhang Deckung.
In einem bestimmten Rhythmus wurde leise gegen die Tür geklopft.
Da die junge Dame darauf selbstverständlich nicht reagierte und auch der Breitschultrige sich außerstande sah, einen Laut von sich zu geben, wurde der nächtliche Besucher sehr ungeduldig. Er trat oder warf sich gegen die Tür, die daraufhin aufsprang.
Es handelte sich um den schlanken Mann mit den kalten, sadistischen Augen.
Er war mißtrauischer als sein großer Partner, hielt bereits einen kurzläufigen 38er in der rechten Hand und rief verhalten den Namen „Jack“. Als keine Antwort kam, entschied er sich für das Schlafzimmer und pirschte sich an die halb geöffnete Tür heran. Dabei wurde er von Schritt zu Schritt immer schneller, wahrscheinlich war er ärgerlich und glaubte, sein Partner vertreibe sich die Zeit mit gewissen Spielereien.
Diesen Augenblick nutzte Kathy.
Sie huschte geräuschlos hinaus in die nasse Nacht, verließ sofort den mit Steinplatten ausgelegten Weg und schlug sich seitwärts in die Sträucher und Büsche. Sie erreichte ein benachbartes Grundstück, rannte über glitschigen Rasen, erreichte die Straße und sah dann knapp vor sich einen dunklen Kastenlieferwagen, in dem sie wohl transportiert worden war.
Nur zu gern hätte sie sich ans Steuer gesetzt und wäre losgefahren. Doch sie riskierte es nicht. Sie wußte nicht, wo der zweite Kidnapper sich befand. Kathy blieb im Schutz der Büsche und Sträucher stehen, prägte sich aber das beleuchtete Nummernschild genau ein.
Da kamen auch schon die beiden Kidnapper.
Der Breitschultrige litt augenscheinlich unter Konditionsmängeln, denn er ging nur langsam und torkelte wie betrunken. Er mußte von seinem schmaleren Partner nachdrücklich gestützt werden. Nur eine halbe Sekunde lang spielte Kathy mit dem Gedanken, alles auf eine Karte zu setzen und die beiden Männer anzugreifen.
Dann aber dachte sie an den kurzläufigen 38er. Eine tödliche Waffe in der Hand eines Killers!
Sie ließ die beiden Kidnapper ziehen.
Nach wenigen Minuten verschwand der dunkle Kastenlieferwagen hinter dichten Regenschleiern. Kathy Porter atmete auf und wußte, daß sie dem Tod gerade noch einmal entwischt war. Jetzt ging es darum, heil und sicher nach London zurückzukommen Sie durfte diesen beiden Männern nicht noch mal in die Hände fallen.
Als Kathy Scheinwerferlicht auf der Straße entdeckte, verließ sie ihre Deckung, winkte und hoffte auf Mitnahme. Als der Wagen neben ihr hielt, schluckte Kathy vor Überraschung.
„Ich möchte meiner ehrlichen Freude darüber Ausdruck verleihen, Miß Porter, Sie hier zu sehen“, sagte eine ihr mehr als wohlbekannte Stimme.
„Mr. Parker!“ Sie jubelte innerlich auf.
„Wo, zum Henker, treiben Sie sich denn eigentlich herum, Kindchen!?“ dröhnte Myladys Stimme aus dem Wagen, knurrig, aber erleichtert zugleich.
„Hoffentlich bringen Sie eine gute Geschichte mit“, sagte Agatha Simpson, als Kathy neben ihr im Fond von Parkers hochbeinigem Wagen saß, „sonst wäre Ihr Benehmen nämlich unentschuldbar.“
„Ich glaube, Mylady, Sie werden zufrieden sein“, deutete Kathy an.
„Sie begeistern mich, Kindchen. Eine Geschichte für meinen ersten Roman?“
„Sie hätten sie nicht besser erfinden können, Mylady“, gab Kathy zurück, „geheimnisvoll und mörderisch. Ich bin nämlich gekidnappt worden.“
„Ist das nicht wunderbar, Mr. Parker?“ freute sich die angehende Autorin sichtlich. „Kindchen, Sie sind ein Schatz! Kidnapping ist ja auch ein schönes Thema!“
„Sehr wohl, Mylady“, gab Parker gemessen zurück, „allerdings weniger für den, der entführt wurde, wie ich in aller Bescheidenheit feststellen möchte.“
*
Josuah Parker hatte den Tee serviert und sich dann zusammen mit Lady Simpson die abenteuerliche Geschichte von Kathy Porter angehört. Agathas Wangen waren vor Aufregung gerötet. Als Kathy geendet hatte, sah die Lady ihren Butler ein wenig irritiert an.
„Irgendwie enttäuschend“, meinte sie schließlich, „die beiden Kidnapper sind verschwunden. Und wir wissen noch nicht mal, wo wir sie unter Umständen suchen müssen.“
„Wenn Mylady gestatten, möchte ich mir die Freiheit nehmen zu widersprechen“, antwortete der Butler in seiner gewohnten barocken Art. „Es gibt da doch einige Anhaltspunkte, die ich als durchaus erfreulich bezeichnen möchte.“
„Wir wissen, wie der Fahrer des Jaguar heißt“, zählte Kathy sofort auf.
„Ein gewisser Burt Lister, der offensichtlich in Bristol beheimatet ist“, pflichtete der Butler Myladys Sekretärin bei und nickte ihr wohlgefällig zu.
„Falls das sein richtiger Name ist“, warf Agatha Simpson ein.
„Doch, Mylady, die beiden Männer hatten keinen Grund, mich zu täuschen“, fuhr Kathy weiter fort. „Immerhin wollten sie mich später für immer mundtot machen. Das hörte ich deutlich heraus.“
„Dann wissen Sie, Mr. Parker, was Sie zu tun haben. Stellen Sie fest, wer dieser Burt Lister ist!“ Myladys Augen funkelten schon wieder hoffnungsvoll. „Was haben wir sonst noch? Mein erster Krimi kann schließlich nicht nur aus einem einzigen Kapitel bestehen.“
„Vielleicht sollten Mylady erst mal eine Kurzgeschichte verfassen“, ließ Parker sich vernehmen.
„Papperlapapp“, herrschte sie ihn sofort an. „Mit solchen Kleinigkeiten gebe ich mich gar nicht erst ab. Kurzgeschichte! Einfach lächerlich! Ich will einen Bestseller schreiben, vergessen Sie das bitte nicht!“
„Besagter Mr. Lister scheint in regelmäßigen Abständen von Bristol nach London gefahren zu sein“, zählte der Butler weiter auf. „Wie Miß Porter berichtete, wurde er von den beiden Kidnappern wiederholt dabei beobachtet.“
„So habe ich den breitschultrigen Mann verstanden“, erklärte Kathy und nickte.
„Wenn Mylady erlauben, möchte ich nun auf die Handlungsweise des besagten Mr. Lister kommen“, ließ der Butler sich wieder vernehmen, sehr höflich und zurückhaltend. „Er erlitt einen Unfall, wurde wahrscheinlich aus dem Wagen geschleudert und suchte in einer Art Schockzustand das, was man gemeinhin das Weite nennt.“
„Oder er war angetrunken und fürchtete sich vor einer Blutprobe“, warf Lady Simpson ein.
„Auch diese Möglichkeit sollte man durchaus in Betracht ziehen, Mylady“, antwortete, der Butler, „es gäbe da aber noch eine dritte Art des Verhaltens.“
„Sie machen es wieder mal sehr spannend, Mr. Parker“, äußerte Lady Simpson leicht ungehalten.
„Besagter Mr. Lister hat etwas zu verbergen.“
„Vor den beiden Strolchen, die Kathy gekidnappt haben?“
„Falls er von der Beobachtung seiner Person wußte, Mylady, würde ich dieser Theorie beipflichten, ich dachte allerdings, wenn Sie erlauben, an eine andere Reaktion. Mr. Lister fürchtet den Kontakt mit der Polizei, ohne betrunken gewesen zu sein.“
„Er hat also etwas zu verbergen!“ Lady Simpsons Stimme klang triumphierend. Sie nickte ihrem Butler beifällig zu. „Ich denke da an illegale Dinge. Vielleicht ist er ein Spion.“
„Es gibt der Möglichkeiten mehrere, Mylady.“ Parker wollte auf das Thema Spionage nicht näher eingehen, er kannte die Phantasie seiner Herrin.
„Es handelt sich um Spionage“, wiederholte Lady Agatha noch mal, diesmal sehr nachdrücklich. „Ich spüre das, Mr. Parker, ich spüre das sehr deutlich. Wunderbar! Das paßt genau zu dem Krimi, den ich schreiben werde.“
„Mylady sollten sich vielleicht nicht zu früh festlegen“, warnte der Butler vorsichtig.
„Papperlapapp“, herrschte sie ihn daraufhin an, „nur ein Spion benimmt sich derart ungewöhnlich. Was sagen Sie dazu, Kindchen?“
„Natürlich, Mylady.“ Kathy nickte ergeben. Widerspruch war ohnehin sinnlos, das wußte sie aus Erfahrung.
„Wir müssen diesen Mr. Lister finden, bevor er von der Polizei aufgespürt wird“, begeisterte Mylady sich weiter. „Das Kennzeichen des Jaguar ist schnell ermittelt, damit auch der Besitzer des Wagens und dessen Wohnort. Wollen Sie mir etwa widersprechen, Mr. Parker?“
„Das Mylady, würde ich mir nie erlauben.“
„Also dann an die Arbeit“, entschied Agatha Simpson und strahlte. „Der Polizei gegenüber haben wir bereits einen beträchtlichen Vorsprung, den wir nicht verspielen wollen. Wir kennen den Namen des Jaguar-Fahrers und wissen, daß er aus Bristol kam und dort wahrscheinlich auch wohnt. Dieser Mann muß demnach doch zu finden sein, oder?“
„Mylady haben spezielle Wünsche hinsichtlich meiner Aktivitäten?“
„Bristol ist keine Entfernung“, präzisierte die kriegerische ältere Dame und erhob sich energisch. „Oder sollten Sie darüber anders denken, Mr. Parker?“
„Keineswegs, Mylady.“
„Dann wünsche ich Ihnen eine gute Fahrt“, meinte sie leutselig. „Ich erwarte beste Nachrichten. Wenn Sie zurück sind, werde ich Ihnen bereits die ersten beiden Kapitel meines Thrillers vorlesen. Spionage ist immer ein rasantes Thema.“
*
Josuah Parker war ein eigenwilliger Mensch.
Natürlich dachte er nicht eine Sekunde daran, die nächtliche Fahrt nach Bristol zu unternehmen. Mylady hatte in ihrem Eifer übersehen, daß es Telefone gab. Und private Verbindungen wollte Parker nutzen. Er war zwar mit seinem hochbeinigen Wagen losgefahren, landete aber in der Fleet Street, im Herzen von London. Hier suchte er den Redakteur eines Massenblattes auf, der ihm verpflichtet war. Parker hatte diesem wohlbeleibten Mann mit dem riesigen Schnauzbart vor Jahresfrist mal aus einer Affäre herausgeholfen.
„Wie war der Name?“ fragte Hubert Falsom. „Burt Lister?“
„Ihr Gedächtnis ist bemerkenswert, Mr. Falsom.“
„Ich werde einen Kollegen in Bristol anrufen“, meinte der Zeitungsschreiber und zog den Telefonapparat zu sich heran. „Kann ich eventuell mit einer Titelstory rechnen, Mr. Parker?“
„Diese Annahme ist nicht von der Hand zu weisen, Mr. Falsom.“
„Moment“, entschuldigte sich der Wohlbeleibte und wählte eine Nummer. Parker sah und hörte, wie schnell und präzise der Redakteur arbeitete. Er sprach mit seinem Kollegen in Bristol, schien auf Anhieb einen Treffer gezogen zu haben, ließ sich Namen und weitere Telefonnummern geben, wählte, sprach, machte sich Notizen, sah zwischendurch immer wieder zu Parker hinüber, war ungeduldig mit seinen jeweiligen Gesprächspartnern, dann wieder überaus höflich und verbindlich, um schließlich den Hörer zurück in die Gabel zu donnern.
„Mann“, sagte er dann und wischte sich den Schweiß von der Stirn, „Mann, Mr. Parker, wissen Sie eigentlich, wer dieser Burt Lister ist?“
„Um das zu erfahren, Mr. Falsom, lenkte ich meine Schritte zu Ihnen“, erwiderte Josuah Parker gemessen.
„Burt Lister ist Leiter der Forschungsgruppe ‚Schneegans‘, begreifen Sie?“
„Nicht ein Wort, wie ich zu meiner Schande gestehen muß.“
„Es geht da um ein Zukunftsprojekt für die Air Force“, erläuterte Falsom. „Diese Forschungsgruppe bastelt an einem neuen Jagdbomber für den Überschallbereich.“
„Aufregend neu“, kommentierte der Butler mit sanfter Ironie.
„Dieses Ding soll unerreichbar für jede Radarortung sein.“
„Das wäre in der Tat sensationell, Mr. Falsom.“
„Einzelheiten lassen sich natürlich nicht in Erfahrung bringen“, redete Falsom weiter. „Können Sie mit dem Begriff ‚Konturenflug‘ etwas anfangen, Mr. Parker?“
„Flug in unmittelbarer Erdnähe“, antwortete der Butler sofort. „Solch ein Luftfahrzeug würde sich den künstlichen Konturen einer Landschaft anschmiegen.“
„Und wäre vom Radar nicht zu erwischen.“ Falsom nickte bestätigend.
„Also fast abschußsicher, um es mal laienhaft auszudrücken, Mr. Falsom.“
„Das ist es, Mr. Parker, darauf kommt es an. Ihr Burt Lister ist ein Bursche, der die Teilbereiche dieses Projekts koordiniert.“
„Er dürfte demnach sehr gründlich Bescheid wissen, oder sollte ich mich irren?“
„Der Mann ist mit Gold nicht aufzuwiegen“, ereiferte sich Hubert Falsom. „Was ist mit ihm? Sie wissen mehr, als Sie mir gesagt haben, Mr. Parker.“
„Ich weiß, daß er wahrscheinlich mit seinem Jaguar verunglückt ist.“
„Und das sagen Sie mir erst jetzt?
Das muß ich unbedingt in der morgigen Ausgabe bringen. Erzählen Sie!“
„Wenden Sie sich an die Polizei“, bat der Butler, „und vergessen Sie tunlichst meinen Namen!“
„Sie sind hinter Lister her, nicht wahr?“
„Wenn Sie gestatten, Mr. Falsom, werde ich Sie stets rechtzeitig informieren“, schlug der Butler vor und erhob sich. „Bevor ich gehe, möchte ich gern noch erfahren, wo Mr. Lister in Bristol zu erreichen ist.“
Falsom kritzelte eine Adresse auf ein Stück Papier und reichte es dem Butler.
„Wo ist Lister verunglückt?“ fragte er dazu. Parker hatte keine Bedenken, ihm den entsprechenden Hinweis zu geben. Als er ging, griff Falsom bereits hastig nach dem Telefonhörer und ließ sich von der Hausvermittlung mit der Polizei verbinden.
Parker fuhr mit dem Lift hinunter in die große Empfangshalle und dachte an Lady Agatha Simpson. Seine Herrin schien, und das wunderte ihn, auf der richtigen Fahrig zu sein. Hier war tatsächlich Spionage im Spiel. Myladys erste Romankapitel waren so gut wie gesichert.
Agatha Simpson saß vor der neu angeschafften elektrischen Schreibmaschine und starrte konzentriert und tiefsinnig auf das fast leere Manuskriptblatt, das sie eingespannt hatte. In harter Gedankenarbeit hatte sie sich bereits den vorläufigen Titel ihres Spionagethrillers einfallen lassen: „Killer für zwei schlanke Beine“.
Ob dieser Titel gut war, wußte sie nicht mit letzter Sicherheit, doch sie fand, daß er bereits gewisse interessante Hinweise und Elemente enthielt. Killer, das deutete auf Mord und Aktion hin, schlanke Beine sprachen für ein gewisses Maß an Sex, der in einem Krimi nicht fehlen durfte.
Dieser vorläufige Titel war ganz auf ihre langbeinige Sekretärin abgestellt. Man hatte immerhin versucht, Kathy zu ermorden. Der Grund hierfür war der Lady vollkommen klar, denn ihre Gesellschafterin kannte schließlich die Gesichter der beiden Killer.
Nun rang Lady Agatha leicht verzweifelt mit dem ersten Satz ihres Romans.
Er mußte ihrer Ansicht nach wie eine Bombe einschlagen. Doch diesen Satz galt es erst mal zu finden. Sie ärgerte sich ein wenig, daß er sich nicht von allein anbot, stand auf, marschierte an den Reihen ihrer Bücher entlang und suchte nach Inspiration. War dieser erste Satz erst einmal gefunden, war der Krimi so gut wie geschrieben, dann brauchte sie ihrer Phantasie nur noch freien Lauf zu lassen.
Dankbar nahm sie allerdings zur Kenntnis, daß unten an der Haustür geklingelt wurde.
Das bedeutete Ablenkung und Anregung zugleich.
Lady Agatha hörte, wie Kathy zur Tür ging, dann allerdings nichts mehr. Sie wartete darauf, von ihrer Sekretärin gerufen oder verständigt zu werden, doch es blieb still im Erdgeschoß.
Die Hausherrin marschierte auf ihren stämmigen Beinen zur Zimmertür und lauschte nach unten.
Nichts!
Ihre Phantasie wurde sofort angeheizt. Es mußte sich um einen nächtlichen Überfall handeln. Die beiden Killer, mit denen Kathy es zu tun gehabt hatte, waren auf der Bildfläche erschienen, um ihre Tat nun doch noch auszuführen. Anders konnte es überhaupt nicht sein. Zudem paßte eine solche Situation in den Roman, den sie zu schreiben gedachte.
Agatha Simpson sah sich nach einer geeigneten Waffe um, merkte aber leider nicht, daß hinter ihrem Rücken die Tür leise geöffnet wurde. Plötzlich wurde die Besitzerin des Hauses in ihren eigenen vier Wänden angesprochen.
„Mach keine Dummheiten, altes Mädchen“, sagte eine fast fröhliche und amüsierte Stimme. „Dreh dich langsam um und heb die Patschhändchen hoch!“
„Sie Lümmel!“ Lady Agatha hatte sich umgedreht und sah sich einem breitschultrigen Mann gegenüber, der nur mit dem identisch sein konnte, von dem Kathy Porter berichtet hatte. Dieser etwas naiv aussehende Mann mit der niedrigen Stirn hielt einen Revolver in der linken Hand, nachlässig und nicht besonders wachsam.
„Langsam, nicht so frech, altes Mädchen.“ Der Breitschultrige grinste. „Reiß die Klappe nicht so auf!“
„Sie stehen einer Lady gegenüber!“ Agatha Simpson blitzte ihn an.
„Ach nee!“ Der Breitschultrige verzog seinen Mund. „Und was ändert das?“
„Hoffentlich Ihr unqualifiziertes Benehmen“, stellte Lady Simpson fest. „Wer sind Sie? Etwa dieser Jack?“
„Die Kleine hat also bereits alles ausgequasselt?“ Der Breitschultrige lächelte nicht mehr.
„Jedes Detail“, gab Agatha hoheitsvoll zurück. „Wie haben Sie uns gefunden?“
„Das wird Ihnen mein Partner Herbert sagen“, antwortete der Killer munter und grinste bereits wieder. „Los, kommen Sie schon, wir werden unten im Salon erwartet!“
„Was versprechen Sie sich von diesem schamlosen Überfall auf zwei wehrlose Frauen?“
„Sag das Herbert“, meinte Jack. „Kommen Sie schon, er wartet nicht gern, er wird dann immer so schnell nervös.“
Der Killer schätzte die Dame des Hauses völlig falsch ein, doch das wußte er noch nicht. Er hielt sie für eine alte Frau, die mit den Realitäten des Alltags nichts anzufangen wußte. Gefährlich konnte sie auf keinen Fall werden.
Majestätisch rauschte sie an dem breitschultrigen Killer vorbei, maß ihn mit einem gekonnt verächtlichen Blick und … trat ihm gegen das Schienbein.
Das versetzte den Mann in einiges Erstaunen, zumal dieser Tritt nicht von schlechten Eltern war. Jack heulte auf wie ein Steppenwolf bei Vollmond und wollte instinktiv den Revolver hochreißen, hielt ihn aber plötzlich nicht mehr in der Hand. Mylady hatte seine Hand gegen den Türrahmen geschlagen, worauf Jack die Waffe verlor. Anschließend fing er sich einige Ohrfeigen ein, die ihn an den Rand einer mittelschweren Gehirnerschütterung brachten. Er wich automatisch zurück, wollte sich neu aufbauen, wie es in der Fachsprache der Boxer heißt, und geriet ungewollt an den Rand der Freitreppe, die hinunter ins Erdgeschoß führte.
Die streitlustige Lady war eine gerissene Einzelkämpferin.
Sie stellte Jack raffiniert ein Bein, worauf der Killer prompt Sein Gleichgewicht verlor.
Er heulte erneut auf, warf die Arme hoch in die Luft und flog über die Stufen nach unten, ohne sich dabei seiner Beine zu bedienen. Er absolvierte etwa auf der Mitte der Treppe einen leider etwas verunglückten Salto und landete krachend auf dem Rücken, als er im unteren Teil des Hauses in der Vorhalle eintraf Hier blieb er regungslos liegen und stöhnte.
Mylady hatte inzwischen den Revolver an sich genommen und wollte weiter den Kriegspfad beschreiten, als Kathy Porter aus dem Salon kam.
Das junge, langbeinige Mädchen machte einen gehemmten Eindruck, was wohl mit der Revolvermündung zusammenhing, die man ihr gegen den Rücken preßte. Diese Waffe wurde von einem mittelgroßen, schlanken Mann gehalten, der knapp hinter Kathy stand.
„Ich knall’ die Kleine ab, Madam, wenn Sie die Waffe nicht sofort runterschmeißen“, rief der Mann nach oben. „Ich warte nur drei Sekunden. Und eine davon ist bereits weg.“
Lady Simpson wußte, daß es sich nicht um eine leere Drohung handelte. Sie reagierte augenblicklich, warf die Waffe nach unten und hob die Arme. Dann stieg sie langsam abwärts, Tragik um sich verbreitend.
„Sie sind ja das reinste Naturwunder“, sagte der Mittelgroße, dessen Augen interessiert und fasziniert funkelten. „Wissen Sie, wen Sie da gerade fertiggemacht haben?“
„Einen ausgemachten Flegel!“
„Einen erstklassigen Profi, aber bei Frauen scheint er in letzter Zeit Pech zu haben.“
Zusammen mit Kathy trat er respektvoll zur Seite, als Agatha Simpson die Treppe verließ. Er traute ihr nicht über den Weg und ließ sich auf kein Risiko ein. Im Salon mußte die Detektivin und Autorin sich in einen altehrwürdigen Ledersessel setzen. Der Mittelgroße blieb dicht hinter Kathy stehen und gab sich keine Blöße.
„Machen wir’s kurz“, sagte er, „wir werden die Kleine hier mitnehmen. Sobald Lister sich gemeldet hat, tauschen wir sie aus, klar?“
„Wer ist Lister, junger Mann?“ Myladys Stimme gollte.
„Keine Quasseleien“, fuhr er sie an, „keine Zeitschinderei! Wie Sie zu ihm stehen, ist mir schnurz und piepe, Hauptsache, er meldet sich. Ich lasse ihm Zeit bis acht Uhr.“
„Und wo, junger Mann, soll er sich melden?“ Lady Agatha ging auf das Ultimatum sofort ein.
„Das weiß Lister sehr genau. Er soll mich anrufen.“ Während der Mittelgroße noch redete, erschien der breitschultrige Killer hinkend im Salon und marschierte auf Lady Agatha zu. Er produzierte dabei Töne, die an die eines gereizten Gorillas erinnerten. Er hatte die eindeutige Absicht, Agatha Simpson zu schlagen.
„Sollten Sie das wagen, vergesse ich mich!“ Die Lady funkelte den Killer gereizt an. Und der Mann begriff! Er wich zurück, ließ seinen bereits erhobenen rechten Arm wieder sinken und wirkte ein wenig ratlos.
„Die alte Fregatte hat mich die Treppe runtergeschmissen“, beklagte er sich bei seinem Partner.
„Rindvieh“, kommentierte der Mittelgroße und lächelte dünn. „Hättest ja aufpassen können. Laß sie in Ruhe, ich will keinen Ärger! Vorerst wenigstens noch nicht. Wir gehen!“
Lady Simpson konnte für Kathy nichts tun.
Die Sekretärin und Gesellschafterin schien sich übrigens in ihr Schicksal gefügt zu haben. Sie wußte sehr wohl, daß der Mann hinter ihr schoß, falls sie einen Befreiungsversuch unternahm. Sie ließ sich von ihm zurück zur Tür des Salons dirigieren und zwinkerte Agatha Simpson dabei beruhigend zu.
Jack wartete in der Vorhalle, bis sein Partner zusammen mit Kathy auf dem Rücksitz eines Morris saß. Dann erst kam er nach, übernahm das Steuerrad und fuhr los.
Lady Simpson war nicht ängstlich.
Sie stand bereits an der Tür und sah dem davonpreschenden Wagen nach, der um das Rasenviereck des kleinen Platzes kurvte und dann auf der nahen Hauptstraße verschwand.
Agatha Simpson war sehr verärgert, aber auch besorgt.
Kathy Porter, erneut gekidnappt, sollte als Geisel und Faustpfand für zwei Killer dienen. Diesmal hatte sie gewiß keine Chance mehr, sich aus eigener Kraft zu befreien. Die beiden Männer waren gewarnt.
Und ausgerechnet jetzt war ihr Butler auf dem Weg nach Bristol!
Hatte es einen Sinn, die Polizei zu verständigen? Wahrscheinlich nicht. Die beiden Killer benutzten mit Sicherheit einen gestohlenen Wagen und würden ihn bereits in einer der nächsten Straßen gegen einen anderen austauschen. So hätten es die Killer wenigstens in ihrem Kriminalroman getan. Agatha Simpson ging zurück ins Haus, schloß die Tür und hatte überhaupt keine Lust, sich wieder ihrem Thriller zu widmen.
*
Die Fahrt dauerte nicht lange.
Unterwegs hatte Kathy den Wagen wechseln müssen. Nach dem Morris war ein kleiner VW-Käfer an der Reihe gewesen. Dieser stand jetzt in einer Garage in Soho.
Kathy hatte sich selbstverständlich den Weg ihrer Entführung genau eingeprägt. Da man ihr aber die Augen nicht verbunden hatte, stand nicht zu hoffen, daß man sie tatsächlich gegen diesen Burt Lister austauschen würde. Die beiden Killer waren nach wie vor entschlossen, sie im geeigneten Zeitpunkt umzubringen.
Kathy stieg aus dem Käfer und wurde von dem breitschultrigen Jack über eine steile Eisentreppe ins Obergeschoß des Hauses geführt Diesmal paßte der Killer höllisch auf. Er hatte wahrscheinlich keine Lust, noch mal die Treppe hinunterzusteigen, ohne dabei auf die Stufen zu treten.
Das Versteck der beiden Killer war gut gewählt.
Das Haus stand in einer Reihe ähnlicher Bauten, die alle im Erdgeschoß mit Einzel- oder Doppelgaragen ausgestattet waren. Es handelte sich um alte Häuser, die man um- oder ausgebaut hatte. Hier in dieser Gegend wohnten, was Kathy wußte, Künstler aller Art. Hier kümmerte sich grundsätzlich kein Mensch um seinen Nachbarn, hier lebte man nach seiner eigenen Fasson.
Jack stieß sie in einen kleinen Korridor und bugsierte sie mit dem Lauf seiner Waffe an einigen Türen vorbei. Sie blieb vor einer Schiebetür stehen.
„Worauf wartest du noch?“ fragte Jack, worauf Kathy die Tür öffnete und erstaunt verharrte.
Sie sah in ein sehr gut ausgestattetes Fotoatelier. Es gab Scheinwerfer auf fahrbaren Dreibeinstativen, eine große Porträtkamera, einen weiß bespannten Rundhorizont und Kleinmaterial aller Art.
Die Scheinwerfer flammten plötzlich auf. Kathy schloß geblendet die Augen. Die Lider reichten allerdings nicht aus, die Lichtflut wegzuschneiden. Sie hatte den Eindruck, von diesem Licht durchbohrt zu werden.
Jack stieß die junge Dame in diese Lichtglut hinein, bis ihre Knie die Kante eines Sessels berührten. Kathy mußte sich setzen und ihre Hände auf die Lehne legen. Bevor sie es überhaupt richtig mitbekam, schlossen sich breite Lederriemen um und über ihre Unterarme. Sie saß hilflos fest.
Das Licht blendete intensiv.
Sie hörte Schritte, die sich ihr näherten. Schnelle, katzenhafte Schritte, die ihre Nerven unwillkürlich vibrieren ließen. Kathy hatte Angst!
„Sehr hübsch“, stellte eine weiche, fast weibische Stimme fest. „Sehr hübsch!“
Kathy öffnete vorsichtig die Augen, um etwas zu erkennen, doch das Licht war gnadenlos und veranlaßte sie, die Augen wieder schleunigst zuzukneifen.
„Wer sind Sie?“ fragte sie. Ihre Stimme brauchte sie nicht zu verstellen. Die Angst in ihr steigerte sich.
„Sie hat Angst, die Kleine.“ Die weibische Stimme klang fast mitleidig. Kathy war sich jetzt sicher, daß sie einem Mann gehörte. Und sie zuckte wie unter einem Hieb zusammen, als eine Hand ohne jede Vorankündigung über ihre linke Brust fuhr, weich, fast wie ein Hauch. Eine Gänsehaut lief über ihren Körper, Kathy krampfte sich zusammen, war ganz Abwehr und Angst.
„Rührend, einfach süß“, redete die weibische Stimme weiter. „Lister hat schon immer einen guten Geschmack gehabt.“
„Können Sie nicht das Licht abschalten?“ bat Kathy.
„Aber nein, Kleine, ich muß mir jede Einzelheit genau ansehen.“
Kathy hatte zwei Möglichkeiten.
Sie konnte ihre Angst aktivieren und treten. Sie spürte, daß der Mann mit der weibischen Stimme jetzt genau vor ihr stand. Das Licht schwächte sich etwas ab. Aber damit hätte sie wohl nur unnötig verraten, daß sie nicht nur süß aussah. Instinktiv entschied sie sich für die zweite Möglichkeit. Die Angst in ihr mußte dieser Mann weiterhin spüren, das verlieh ihm eine Überlegenheit, die er wohl brauchte. Damit gewann sie Zeit, die vielleicht noch sehr wertvoll werden konnte.
„Wie oft warst du mit Lister im Bett?“ fragte die Stimme, eine Frage, die Kathy völlig verblüffte.
„Im Bett?“ Sie nahm ruckartig und empört den Kopf hoch und blieb bei der gerade gewählten Rolle.
„Im Bett!“ wiederholte die Stimme des Mannes lüstern. Er mußte der Chef der beiden Killer sein, denn weder Herbert noch Jack hatten bisher etwas gesagt.
„Nie, Sir“, antwortete Kathy aufgebracht, „ich bin kein Straßenmädchen.“
„Reizend, ganz reizend!“ Der Mann strich um sie herum. Sie fühlte sich wie ausgezogen und spürte seine Augen auf ihrer Haut. Dieser Mann mußte unnormal sein! Ihre Angst steigerte sich …
„Wie … wie haben Sie mich nur gefunden?“ fragte Kathy, um diese unwirkliche Atmosphäre zu durchbrechen.
„Uninteressant, Kleine“, erwiderte die weibische Stimme. „Das Frage-und-Antwort-Spiel betreiben wir später. Wir wollen uns doch nicht ablenken lassen, nicht wahr?“
Sie spürte schnelle und wissende Finger auf ihrer Brust und merkte, daß diese Hände ihre leichte Bluse aufknöpften, unter der sie so gut wie nichts trug …
*
„Wo haben Sie denn nur gesteckt, Mr. Parker?“
Myladys Stimme war eine Mischung aus grenzenloser Erleichterung und Groll, als sie ihren Butler in der Vorhalle ihres Stadthauses in Shepherd’s Market empfing. Sie war sich der Tatsache nicht bewußt, daß Parker überhaupt nicht in Bristol gewesen sein konnte, denn seit dem Verlassen des Hauses war höchstens eine Stunde verstrichen.
„Muß ich unterstellen, Mylady, daß es gewisse Unannehmlichkeiten gab?“ fragte Parker sofort.
„Kathy ist entführt worden!“
„Das, Mylady, ist allerdings eine böse Nachricht.“ Parker entledigte sich seines schwarzen, knielangen Covercoats und der Melone. „Darf man etwas über die näheren Umstände erfahren?“
Sie berichtete kurz und knapp, beschränkte sich auf die wesentlichen Dinge und schloß mit dem Ultimatum, das die beiden Killer gestellt hatten.
„Wo wollen wir diesen Burt Lister hernehmen?“ schloß sie dann. „Ich kann mir dieses Phantom doch nicht aus den Rippen schneiden.“
„Seine Adresse in Bristol ist meiner bescheidenen Wenigkeit inzwischen durchaus bekannt, Mylady, ebenfalls sein Beruf.“
„Dann treiben Sie den Burschen gefälligst auf, Mr. Parker. Sie wissen, was Kathy droht, wenn wir Lister nicht liefern können.“
„Besagter Mr. Burt Lister ist bereits aufgetrieben worden, Mylady.“
„Und? Muß ich Ihnen wieder mal jedes Wort aus der Nase ziehen, Mr. Parker? Machen Sie mich nur nicht ärgerlich!“
„Mr. Burt Lister hat das gesegnet, Mylady, was man im Volksmund das Zeitliche nennt.“
„Er … er ist tot?“ Mylady schnappte nach Luft.
„So kann man es selbstverständlich auch ausdrücken, Mylady. Die Polizei fand Mr. Lister unweit der Unfallstelle hinter einem Brückenbogen. Bis dorthin müssen seine Kräfte noch ausgereicht haben, bevor er verschied. Es war ein reiner Zufall, daß man ihn so schnell fand.“
„Du lieber Himmel! Und was jetzt?“ Sie sah ihren Butler entgeistert an.
„Damit dürfte das Tauschobjekt für Miß Kathy eindeutig fehlen, Mylady.“
„Und das sagen Sie so ruhig? Für mich stürzt der Himmel ein. Was soll jetzt aus Kathy werden?“
„Die Tatsache seines Todes – ich rede von Mr. Lister – muß den Killern vorenthalten werden, Mylady.“
„Und Sie glauben, das läßt sich machen?“
„Man muß es versuchen, Mylady.“
„Dann tun Sie endlich etwas, Mr. Parker! Ihre Ruhe macht mich noch wahnsinnig.“
„Vorerst dürfte nur Mr. Falsom von gewissen Zusammenhängen wissen, Mylady, ich werde sofort mit ihm telefonieren.“
„Sollten wir uns nicht mit Chefinspektor Sounders in Verbindung setzen?“
„Dies, Mylady, wäre durchaus anzuempfehlen.“
„Woher können diese beiden Strolche gewußt haben, wo Kathy wohnt? Darüber zerbreche ich mir den Kopf, Mr. Parker.“
„Sie blieben wahrscheinlich in der Nähe des Ferienhauses und beobachteten das Einsteigen Miß Porters in meinen Wagen. Eine andere Erklärung vermag ich zur Zeit nicht zu finden.“
„Ich habe noch eine schwache Hoffnung, Mr. Pariser.“
„Ich glaube zu wissen, woran Mylady denken.“
„Vielleicht nehmen diese Monster an, Lister habe mit uns zusammengearbeitet, gleich, was er auch immer getan haben mag.“
„Dies, Mylady, erlaube auch ich mir zu hoffen“, antwortete der Butler gemessen wie immer. „Da sie früher oder später erfahren werden, daß Mr. Lister verschieden ist, werden sie sich möglicherweise an Mylady und an meine bescheidene Person halten.“
„Und dann sollen diese Strolche etwas erleben“, versprach die resolute Sechzigerin. „Ich werde mich dann selbst nicht mehr kennen.“
„Gewiß, Mylady.“ Parker konnte Lady Simpsons Erregung nur zu gut verstehen. Kathy war für ihre Herrin so etwas wie eine Tochter, für die die ältere Dame sich verantwortlich fühlte. „Darf ich erfahren, Mylady, wie Miß Porter gekleidet war, als man sie entführte?“
„Ist das überhaupt noch wichtig?“
„In der Tat, Mylady, davon hängt ab, über welche Geheimwaffen Miß Porter verfügt.“
„Richtig!“ Lady Simpson wußte jetzt, worauf ihr Butler hinauswollte. Kathy Porter verfügte über einige sehr weibliche Utensilien wie Lippenstift, Kamm, Puderdose und Parfümzerstäuber, die alle eine Art doppelten Boden besaßen. Parker hatte sie in seiner Bastelstube in wirkungsvolle Verteidigungswaffen umgebaut.
„Lassen Sie mich nachdenken“, bat Mylady. „Nein, Mr. Parker, ich muß Sie und mich enttäuschen! Sie trug nur Rock und Bluse …“
„Das sieht allerdings nicht gut aus“, stellte Parker fest. „Trug Miß Porter wenigstens ihre Perlenkette?“
„Nein, ich glaube nicht.“
„Dann sieht es sogar sehr schlecht aus“, steigerte Parker, ohne die Miene zu verziehen. „Dann sollte man vorerst auf die psychologische Geschicklichkeit von Miß Porter setzen.“
*
Er öffnete nur zwei Knöpfe der leichten Bluse.
Kathy Porter war ehrlich überrascht, als sie danach seine Finger nicht mehr spürte.
„Die Inkarnation der Unschuld“, sagte die weibische Stimme begeistert, jetzt seitlich neben ihr. „Sieht sie nicht bezaubernd aus?“
Die beiden Killer antworteten nicht.
Entweder waren Jack und Herbert gegangen, oder aber sie wußten aus Erfahrung, daß ihr Kommentar nicht erwünscht war. Kathy spürte, daß das intensiv grelle Licht sich ein wenig milderte. Sie öffnete erneut die Augen spaltbreit und konnte jetzt tatsächlich den Mann sehen, der sich die ganze Zeit über mit ihr beschäftigt hatte.
Er trug weite, schwarze Hosen aus einem seidigen, glänzenden Stoff und darüber eine Art Kittel in dunkelroter Farbe. An einer langen Halskette baumelte ein überdimensional großes Medaillon. Der Mann war knapp mittelgroß, zierlich, schlank und hatte ein feingeschnittenes Gesicht mit einem schmalen Oberlippenbärtchen. Sein rabenschwarzes Haar lag in lockeren Wellen auf dem Kopf, war lang und reichte fast bis tief in den Nacken hinunter.
Die Stimme paßte zu dem Mann.
Er hatte bemerkt, daß Kathy blinzelte und ihn beobachtete. Er stellte sich sofort in Positur und lächelte gewinnend.
„Sie sind eine echte Überraschung für mich, meine Liebe“, sagte er. „Mit dieser Erscheinung hätte ich nun wirklich nicht gerechnet. Ich werde ein paar Bilder von Ihnen machen. Ich hoffe, Sie sind einverstanden.“
Kathy Porter hatte schon manches Abenteuer hinter sich.
Sie war an Gangster geraten, die Pornoaufnahmen mit ihr machen wollten, um sie zu erpressen, sie hatte es mit Tugendräubern zu tun gehabt, die in ihr nur das Lustobjekt sahen, doch solch einem Menschen war sie noch nie begegnet.
„Bis zum Morgengrauen haben wir ausreichend Zeit, meine Liebe“, redete der Mann weiter. „Dann wird es sich erweisen, was mit Ihnen geschieht.“
„Sie werden mich umbringen lassen“, sagte Kathy provozierend.
„Vielleicht, meine Kleine, vielleicht. Das ist durchaus möglich …“ Er lächelte fast entschuldigend.
„Ich kenne Ihre beiden Killer und jetzt auch Sie! Sie werden das Risiko, mich freizulassen, nie eingehen.“
„Logisch gedacht, aber unsere Handlungen werden nicht nur von der Logik bestimmt.“ Er lächelte und zeigte regelmäßige, weiße Zähne.
„Ihnen traue ich Logik bis zur letzten Konsequenz zu“, antwortete Kathy.
„Aber nein, mein Kind, aber nein!“
Er schüttelte mißbilligend den schmalen Kopf. „Fast war das schon eine Beleidigung. Ein Künstler meines Formats gestattet sich Empfindungen. Was mit Ihnen geschehen wird, weiß ich jetzt wirklich nicht. Das hängt von meiner Stimmung ab, Kleine, von einer Stimmung, die Sie beeinflussen können.“
„Und was muß ich dazu tun?“
„Seien Sie mein Modell, Kindchen. Entsprechen Sie meinen Vorstellungen, haben Sie echte Chancen! Aber Sie werden sich ungeheuer anstrengen müssen, ich bin sehr verwöhnt …“
Während sie sich mit dem empfindsamen Künstler unterhielt, der ununterbrochen um sie herumschritt und maß, hielt Kathy Ausschau nach den beiden Killern. Sie schienen das Atelier tatsächlich verlassen zu haben.
Bot sich hier eine Chance?
Er war ein aufmerksamer Beobachter.
„Die beiden Rauhbeine warten draußen“, sagte er und lächelte amüsiert. „Sie würden meine inneren Schwingungen doch nur stören. Kommen Sie, Kindchen, machen wir uns an die Arbeit!“
Er drohte nicht und warnte nicht.
Er schnürte die breiten Lederriemen auf, die ihre Arme an den Sessellehnen festhielten, trat zurück und richtete dann die fahrbaren Stative der Scheinwerfer so ein, daß sie den weißen Rundhorizont ausleuchteten. Er hantierte mit Gazeblenden und Vorsatzfiltern und schien ihre Anwesenheit vergessen zu haben.
Kathy besaß einen feinen Instinkt.
Dieser Mann war ungemein gefährlich. Hinter seinen Redensarten war nichts anderes als Grausamkeit. Er glich einer geschmeidigen Katze, die mit der Maus spielt, bevor sie getötet wird. Er genoß die Atmosphäre der Angst, die er verbreitete und wußte um sie.
Waren ihre Chancen wirklich gut?
Draußen vor dem Atelier befanden sich die beiden Killer, die dieses grausame Spiel wahrscheinlich bis in die letzte Einzelheit kannten. Zudem war der Mann in seiner koketten Aufmachung bestimmt kein Weichling, was seinen Körper anbetraf. Wenn es darauf ankam, wußte er sich bestimmt nachdrücklich zu wehren.
Nein, sie mußte seine Wachsamkeit erst mal gründlich einschläfern und dieses Spiel mitspielen. Er mußte den Eindruck gewinnen, daß er es wirklich mit einer Unschuld vom Lande zu tun hatte.
„Worauf warten Sie noch, Kind?“ Er drehte sich zu ihr um und deutete auf den weißen Rundhorizont. „Dorthin, Kleine! Üben wir einige Positionen ein, ich hoffe, Sie werden mich beflügeln.“
Kathy beflügelte ihn also.
Sie trat vor den weißen Rundhorizont und bemühte sich um eine Mischung von Scham und Unbeholfenheit, aus natürlicher Koketterie und Neugier.
Sie traf seinen Punkt.
Der Mann war begeistert.
Er hielt eine japanische Spiegelreflexkamera in den Händen und dirigierte sie mit kurzen Zurufen und halblauten Kommandos. Er kniete, legte sich vor ihr auf den Boden, stieg auf einen Hocker und kreiste um sie herum.
Er schoß eine Aufnahme nach der anderen und war ununterbrochen in Aktion. Wie Kathy, die seinen Kommandos folgte und wechselnde Positionen einnahm. Sie legte von Aufnahme zu Aufnahme immer mehr von ihrer gespielten Unbeholfenheit ab und verwandelte sich in ein Fotomodell nach seinen Wünschen.
„Machen wir eine kleine schöpferische Pause“, sagte er endlich und legte die Kamera aus der Hand. Er klatschte in die Hände wie ein indischer Filmnabob, worauf sich prompt die Tür zum Atelier öffnete und Herbert hereinkam.
Auf einem Tablett trug er zwei knapp bis zum Rand gefüllte Longdrink-Gläser und setzte es auf einem Hocker ab. Er ging, ohne mit seinem Chef auch nur ein Wort zu wechseln.
Kathy trank gierig.
Das heiße Licht hatte sie durstig gemacht, in dem Atelier herrschte eine Temperatur einer bestens funktionierenden Sauna. Wovon dem Mann allerdings überhaupt nichts anzusehen war. Er wirkte kühl und beherrscht.
Als sie das Glas geleert hatte, wußte Kathy, daß sie in eine Falle gegangen war. Sie spürte einen leicht bitteren Nachgeschmack, der ihr sagte, daß der Drink präpariert worden war …
*
Lady Agatha Simpson marschierte auf ihren stämmigen Beinen im Salon ihrer Stadtwohnung umher und warf fordernde und ungeduldige Blicke auf Chefinspektor Sounders, den sie seit Jahren kannte.
Sounders, einem riesigen Bernhardiner gleich, saß tief in einem Sessel und labte sich an dem Whisky, den Parker gerade serviert hatte. Detektiv-Sergeant Morrison, sein ständiger Begleiter und Blitzableiter, wirkte verschlafen wie immer, was ihn jedoch nicht hinderte, dem Whisky zuzusprechen.
„Sie trinken meinen Whisky, Sounders, aber Sie produzieren keine Ideen“, grollte Lady Agatha schließlich. „Sagen Sie endlich, wie wir dem armen Kind helfen können.“
„Ich lasse Ihrem Butler gern den Vortritt“, wich Sounders aus.
„Bis zum gesetzten Zeitpunkt verbleiben uns noch etwas über acht Stunden, Mylady.“
„Die Zeit ablesen kann ich auch!“ Sie funkelte den Butler an. „Woher nehmen wir bis dahin einen Burt Lister?“
„Eben“, stellte Sounders fest und nahm einen ausgiebigen Schluck.
„Und wo soll er dann anrufen?“ fragte Morrison vorsichtig, denn er war es gewohnt, von einem Chefinspektor angeblasen zu werden.
„Junger Mann!“ Lady Agatha baute sich vor ihm auf. Morrison zog hastig den Kopf ein und rutschte noch tiefer in den Sessel.
„Junger Mann“, wiederholte Lady Agatha und … nickte beifällig, „endlich mal ein kluges Wort. Diese Tatsache dürften wir alle übersehen haben!“
Morrison schob sich wieder etwas höher aus dem Sessel heraus und errötete vor Stolz.
„Ein blindes Huhn findet auch mal ein Korn“, stellte Sounders gereizt fest.
„Oft läßt sich ein Wald vor lauter Bäumen nicht sehen“, zitierte der Butler eine Spruchweisheit.
„Ich weiß nun, was wir zu tun haben“, entschied Lady Simpson, deren Wangen zu glühen begannen. „In meinem Spionageroman würde ich die Tatsache des Todes von diesem Lister in alle Welt hinausschreien. Begreifen Sie?“
„Dann ist Kathy Porter im gleichen Moment geliefert“, behauptete Sounders und schüttelte den Kopf.
„Eben nicht!“ Lady Agatha verbiß sich in der Vorstellung, die sie von dem Fall hatte. „Wenn offiziell bekanntgemacht wird, daß Lister tot ist, steigt Kathys Wert.“
„Das müssen Sie mir erst mal erklären“, bat Sounders, während Parker aufmerksam zuhörte.
„In meinem Kriminalroman geht es um Spionage“, schickte Lady Simpson voraus. „Spionage, das heißt für mich, daß irgendwelche geheimen Dinge verraten werden. Spionage würde in meinem Thriller bedeuten, daß es um Fotokopien von technischen Unterlagen geht, verstehen Sie? Auf Mikrofilm natürlich.“
„Das hier ist kein Kriminalroman, sonder harte Realität“, begehrte Sounders auf.
„Papperlapapp“, fauchte Lady Agatha ihn an, „das Leben schreibt immer die besten Romane, oder wollen Sie das etwa bestreiten? Seien Sie still, Sounders, unterbrechen Sie nicht meinen Gedankenfluß. Erfahren die Killer also, daß Lister tot ist, wissen sie, daß sie auf normalem Weg nicht mehr an die Mikroaufnahmen herankommen. Es bleiben dann nur zwei Möglichkeiten.“
„Da bin ich aber mächtig gespannt Mylady.“
„Entweder stehlen sie sich ins Leichenschauhaus, um Listers Kleidung zu durchsuchen, oder aber sie hoffen über Kathy zusätzliche Informationen zu bekommen.“
„Klingt nicht schlecht“, räumte Sounders widerwillig ein. Josuah Parker verhielt sich ruhig. Er sah Lady Simpson allerdings aufmerksam an.
„Kathy würde also wertvolle Zeit gewinnen“, begeisterte Lady Agatha sich weiter. „Sie, Sounders, sollten das Leichenschauhaus diskret überwachen lassen. Dort werden diese beiden Strolche mit Sicherheit erscheinen.“
„Und uns dann zu Kathy Porter führen, nicht wahr?“
„Das will ich aber doch sehr hoffen“, grollte Lady Agatha, „in meinem Kriminalroman werde ich das so schreiben. Was sagen Sie dazu, Mr. Parker? Ich weiß, daß ich Ihnen kein Redeverbot erteilt habe.“
„Ich möchte mir erlauben, Mylady zu diesem Kapitel des Kriminalromans zu beglückwünschen“, antwortete der Butler gemessen. „Die Handlung ist zwingend, überzeugend und wird bei den Lesern Begeisterung auslösen.“
„Natürlich“, gab die alte Dame zurück, „diesen Roman werde schließlich auch ich schreiben! An die Arbeit, meine Herren! Ich erwarte von Ihnen, daß jeder seine Pflicht tut.“
Sie glich in diesem Moment Admiral Nelson vor der Schlacht von Trafalgar. Oder auch einer Walküre, die einen unsichtbaren Speer schwingt. Lady Simpson wirkte sehr angeregt.
*
Kathy Porter fühlte sich leicht und entspannt.
Sie wußte, daß der Drink irgendein Präparat enthalten hatte, doch das machte ihr jetzt überhaupt nichts mehr aus. Sie genoß die schwebende Leichtigkeit und das anregende Prickeln in ihrem Blut. Neugierig sah sie zur Tür hinüber, die sich öffnete.
Herbert, der mittelgroße, schmale Killer, trat ein und war kaum noch zu erkennen.
Er trug enganliegende, schwarze Lederhosen, wadenhohe, altertümliche Stiefel, die spitz ausliefen, und ein knappes Wams. Auf seinem Kopf saß eine spitze Kapuze, in der rechten Hand hielt er einige Peitschen. Er schien geradewegs dem Mittelalter zu entstammen.
„Ausgezeichnet, sehr schön“, lobte der große Künstler mit der empfindsamen Seele, „das wird einmalige Aufnahmen für meine Sammlung geben. Kommen Sie, Kleines, versäumen wir keine Zeit!“
Kathy lächelte.
Sie wußte längst, daß dieser Mann nicht normal sein mußte. Verrückt war alles in diesem Atelier. Angst hatte sie jedoch längst nicht mehr, der Drink war wie ein Zaubermittel gewesen.
Der Mann zog sie in eine Ecke des Ateliers, führte sie hinter den Rundhorizont und öffnete hier die Tür zu einem raumgroßen Kleiderschrank. Dicht aneinandergereiht befanden sich hier Kostüme aus allen Zeitepochen.
Er schaute sie kurz an und entschied sich dann für eine Art Nonnengewand. Er reichte es Kathy und nickte ihr begeistert zu.
„Streifen Sie sich das Kleid über, Kleines“, sagte er, „es wird zu Ihrer Unschuld wunderbar passen.“
Kathy hatte keine Bedenken und kam seinem Wunsch nach. Ungeniert zog sie sich Rock und Bluse aus und wollte das Gewand anlegen. Doch er schüttelte den Kopf.
„Sie müssen darunter vollkommen nackt sein“, sagte er. „Das Spiel der Falten auf ihrem Körper will ich fotografieren. Warten Sie, hier sind noch einige Korrekturen notwendig!“
Er wartete, bis sie seinem Wunsch nachgekommen war, führte sie zurück in das Licht der Scheinwerfer und riß dann so lange an dem Gewand, bis es jene Einblicke gewährte, die er zu sehen wünschte. Dann nickte er seiner Killer zu.
Herbert hatte inzwischen die Geschmeidigkeit seiner Lederpeitsche ausprobiert.
Er schien seine Rolle in- und auswendig zu kennen und bereits häufig gespielt zu haben.
Er wartete, bis sein Herr und Meister wieder die Spiegelreflexkamera in Händen hatte, und trat dann ebenfalls ins Licht der Scheinwerfer.
„Proben wir zuerst einige Positionen“, bat der große Künstler mit einer Stimme, in der jetzt Erregung und Gier zu erkennen waren. Kathy wußte nicht, was er meinte, doch Herbert in der Maske eines mittelalterlichen Henkers leistete Hilfestellung.
Die Situation war klar.
Der Fotokünstler wollte eine Serie dubioser Aufnahmen schießen. Kathy war das gequälte und hilflose Opfer. Sie sollte nichts anderes sein als williges Objekt.
Wie der Fotograf sich die Szenen gedacht hatte, wurde schnell deutlich.
Herbert fühlte sich in seiner Rolle außerordentlich wohl, riß Kathy an den Haaren zu Boden, schwang die Peitsche und ließ sie vorerst nur knallen.
Er sorgte dafür, daß die Kleidung seines Opfers stets so auseinanderfiel, daß große Hautpartien zu sehen waren.
„Ich bin soweit“, rief der Künstler. „Konzentration!“
Kathy stöhnte auf, als sie von einem ersten Peitschenhieb getroffen wurde.
Herbert deutete nicht nur an, er schlug hart und zielsicher zu, zwang Kathy zu Boden und spielte den Dompteur einer wehrlosen Frau. Der Künstler schoß eine Aufnahme nach der anderen, befand sich im Rausch, rief Herbert Kommandos zu und steigerte ihn in Ekstase hinein.
Kathy, die sich eben noch leicht und fast körperlos gefühlt hatte, stöhnte unter den Hieben, versuchte ihnen zu entkommen, wurde aber von Herbert immer wieder vor den Rundhorizont gezerrt. Es zeigte sich, daß er stark war.
Als die Lederriemen der Peitsche die Innenseite ihrer Schenkel trafen, schrie Kathy auf und wollte weglaufen. Herbert hielt sie an dem bereits stark lädierten Gewand fest, das jetzt zerriß und sie freigab. Kathy war nicht mehr trunken. Der Schmerz hatte sie nüchtern gemacht, die Wirkung der Droge war plötzlich nicht mehr vorhanden.
Die junge Dame setzte sich zur Wehr und erinnerte sich an all das, was sie an Selbstverteidigung gelernt hatte.
Ihr linker Fuß schoß hoch, traf genau die Hüfte des Killers und fegte ihn zur Seite. Er brüllte auf und wollte mit der Peitsche zuschlagen, wurde aber bereits von Kathy unterlaufen. Mit der Kante ihrer linken Hand schlug sie auf seinen Oberarm.
Er verlor die Peitsche, sah sich hilfesuchend zu seinem Herrn und Meister um und … mußte nun seinerseits Schläge einstecken. Kathy zahlte es ihm heim. Herbert hob abwehrend die Arme, um sein Gesicht zu schützen. Kathy trieb ihn mit harten Schlägen gegen den Rundhorizont.
„Entzückend, wunderbar, einmalig!“ Der Fotokünstler konnte sich vor Freude kaum fassen. Hier bekam er Bilder, wie er sie wohl noch nie fotografiert hatte. Sein Gesicht nahm jedoch einen beleidigten Ausdruck an, als Herbert durch den zerreißenden Rundhorizont segelte und hinter ihm verschwand.
„Aber was soll denn das?“ beschwerte sich der empfindsame Mann. „Sie zerstören ja meine ganze Inspiration!“
Er wurde noch nachhaltiger gestört.
Kathy war wütend, trat gegen eines der fahrbaren Stative und ließ das Dreibein samt Scheinwerfer auf die empfindsame Seele zurollen. Der Fotograf wollte ausweichen, verhedderte sich in den Stromkabeln, verlor das Gleichgewicht und fiel rücklings auf den Boden. Bruchteile von Sekunden später kippte das Dreibein über ihn.
Worauf er heulte wie ein kleines Kind.
Herbert erschien in dem Riesenloch des Rundhorizonts und wollte sich auf Kathy werfen. Sie schleuderte ihm einen Leichtmetallhocker vor die Knie und warf ihm anschließend zur Beruhigung eine Ersatzkamera an den Kopf. Genauer gesagt, an den linken Mundwinkel. Herbert keuchte vor Schmerz, blieb stehen, vergaß für einige Sekunden seine Gegnerin und mußte dann einsehen, daß dies ein böser Fehler war.
Kathy Porter knallte ihm einen mit leichter Gaze bespannten Holzrahmen über den Kopf, was ihn sichtlich behinderte. Anschließend behandelte sie ihn mit einem Scheinwerfer und schloß diese Spezialtherapie mit einem weiteren Handkantenschlag ab.
Herbert streckte sich auf dem Boden aus und spielte ab sofort nicht mehr mit. Dafür schien der edle Künstler aber zur Form aufzulaufen.
Zuerst sah es so aus, als ergreife er nur die Flucht. Er lief um den lädierten Rundhorizont herum, kam aber nach wenigen Augenblicken wieder zurück.
Kathy schluckte, als sie die Waffe in seiner Hand entdeckte.
Der Mann hatte sich mit einem langen Stoßdegen ausgerüstet und schien von der Handhabung solch einer Waffe auch viel zu verstehen. Er grüßte tatsächlich wie in einem Turnier, fiel dann aus und kam mit kurzen, entschlossenen Schritten auf sie zu. Die Spitze des Degens war auf Kathys Brust gerichtet, die noch nicht mal einen Fetzen Stoff als ersten Schutz aufwies.
*
„An inneren Verletzungen gestorben“, sagte der Gerichtsmediziner und deutete auf den großen, etwas korpulenten Mann, der auf der Bahre des Leichenschauhauses lag. „Wollen Sie Einzelheiten hören?“
„Ich glaube Ihnen, daß Lister tot ist“, grollte Lady Simpson, die zusammen mit ihrem Butler und Chefinspektor Sounders zum Leichenschauhaus gefahren war.
„Ließe es sich aber ermöglichen, die persönlichen Habseligkeiten des Verbuchenden zu inspizieren?“ bat Parker, sich an Sounders wendend.
„Kommen Sie, Morrison ist bereits an der Arbeit!“
Sie alle waren froh, den bis zur Decke gekachelten Raum verlassen zu können, in dem es süßlich nach Desinfektionsmitteln roch. Lady Simpson hatte sich sicherheitshalber ein Riechfläschchen mitgenommen, an dem sie jetzt ausgiebig schnüffelte. Sie nickte anerkennend, als Josuah Parker eine flache, lederumhüllte Taschenflasche aus einer der Innentaschen seines Covercoats zauberte. Er schraubte den Verschluß ab, der sich als kleines Trinkgefäß benutzen ließ.
„Cognac, Mylady“, sagte Parker.
„Ich bin eben eine schwache Frau“, stellte Lady Agatha fest und kippte sehr jugendlich den ersten Schluck hinunter. Sie reichte den kleinen Trinkbecher dem Butler zurück. „Rationieren Sie nicht unnötig, Mr. Parker! Mir ist immer noch nicht sehr gut!“
Der Butler gab Mylady einen zweiten Kreislaufbeschleuniger, worauf ihre Wangen sich leicht rosig färbten.
„Aller guten Dinge sind drei“, meinte sie dann fröhlich. „Gießen Sie nicht zu knapp ein, Mr. Parker!“
Josuah versorgte sie mit einer weiteren Erfrischung, worauf sie Sounders unternehmungslustig anschaute.
„Sie sind ja im Dienst“, meinte sie dann. „Ich will Sie nicht unnötig verführen, Sounders.“
„Keine Sorge Mylady“, antwortete Sounders und grinste. „Seit gut einer Stunde ist mein offizieller Dienst vorüber. Mr. Parker, Sie können mich also auch verwöhnen.“
Parker reichte Sounders einen Cognac, den er genießerisch über seine Zunge gleiten ließ.
„Keine Orgien“, entschied Lady Simpson, als er dem Butler auffordernd das Gefäß zurückreichte. „Daß Männer immer so übertreiben müssen, wenn es um Alkohol geht!“
Sie marschierte voraus und steuerte eine Tür an, hinter der sich eine Art Asservatenkammer befand. Hier inspizierte Detektiv-Sergeant Morrison bereits die Kleidung des Toten.
„Sie haben doch hoffentlich Mikrofilme entdeckt, junger Mann, oder?“ Lady Simpson sah Morrison funkelnd und abwartend an.
„Nichts, Mylady“, sagte der Detektiv-Sergeant. „Ich habe jede Naht der Kleidung abgesucht.“
„Und die Schuhe? Ein beliebtes Versteck für Kleinbildpatronen.“
„Die will ich mir gerade vornehmen, Mylady.“
„Dann tun Sie’s endlich!“
Sie trat vor den Tisch, auf dem die Habseligkeiten aus den Taschen der Toten lagen. Es handelte sich um eine Brieftasche, um eine Uhr mit dünner Goldkette, um einen Schlüsselbund, um eine schmale Ledermappe, in der sich Kreditkarten befanden, und schließlich noch um ein kleines Päckchen, das von Morrison schon geöffnet und ausgepackt worden war. Neben diesem Päckchen, das kaum größer war als eine Zigarettenschachtel, lag eine Ansteckbrosche, deren Brillanten funkelten und glitzerten.
Magisch angezogen von diesem Schmuckstück, beugte Mylady sich über die Brosche und nickte anerkennend.
„Ein teures Stück“, stellte sie fachmännisch fest, „ich schätze es auf wenigstens fünfhundert Pfund.“
„Für eine Frau“, sagte Sounders.
„Ihre Schlußfolgerung ist ja fast bestürzend“, raunzte Lady Simpson ihn an. „Sie hätten den Cognac besser nicht getrunken, Sounders, selbst dieser eine war schon zuviel für Sie.“
Detektiv-Sergeant Morrison grinste, worauf er von Sounders einen äußerst giftigen Blick erntete.
Parker durchsuchte inzwischen die Brieftasche mit geübten Fingern, bevor Sounders sich an diese Arbeit machen konnte. Nur Lady Simpson bemerkte, daß ihr Butler mit schnellen Fingern etwas verschwinden ließ, aber sie sagte selbstverständlich nichts.
*
„Sie sind nicht gerade fair.“ Kathy zwang sich zur Ruhe. Sie tat so, als sei der lange, nadelspitze Degen überhaupt nicht vorhanden, gab sich gelassen und lächelte sogar ein wenig abfällig.
Der empfindsame Künstler, in dessen Augen Mordlust war, blieb verblüfft stehen.
„Fair?“
„Sie geben mir nicht die geringste Chance“, redete Kathy Porter weiter. „Sie erinnern mich an einen Schlächter.“
„Oh, meine Liebe, das sollten Sie aber nicht sagen“, antwortete der Mann betroffen. „Wie stellen Sie sich Ihre Chance denn vor?“
„Haben Sie keinen Degen für mich?“
Er lächelte amüsiert und strich sich mit der freien Hand über das schmale Oberlippenbärtchen, musterte Kathy, als habe er eine völlig andere Frau vor sich, und verbeugte sich, wobei er mit dem Degen salutierte.
„Sie sollen Ihre Chance haben“, meinte er dann. „Drüben in der Requisitenkammer werden Sie etwas Passendes finden.“
Kathy ging auf den Künstler zu, hoffte, nahe genug an ihn heranzukommen, doch er traute ihr nicht über den Weg, ging einen Schritt zurück und ließ sie passieren. Kathy stieg durch das große Loch im Rundhorizont und fand in dem zimmergroßen Kleiderschrank tatsächlich einige Krummschwerter, Säbel und Degen. Sie entschied sich für ein Florett und kam zurück ins grelle Licht des Ateliers.
Sie wirkte ein wenig verlegen und unbeholfen und schien mit dem Florett kaum etwas anfangen zu können. Der Künstler salutierte, fiel dann plötzlich aus und startete einen ersten Scheinangriff.
Nein, er wollte sie nicht sofort töten, er wollte sich erst noch an ihrer Angst und Unbeholfenheit weiden. Kathy spürte das, gab sich noch ungeschickter und schien überhaupt zum ersten Mal in ihrem Leben ein Florett in der Hand zu haben.
Sie versuchte zu parieren, verfehlte ihn, wich ängstlich zurück, schrie leise auf, als er erneut ausfiel, und … parierte diesmal hart und elegant zugleich, wie sie es auf der Fechtschule gelernt hatte. Sie ließ dem Mann keine Sekunde, sich erneut aufzubauen, drang mit Finten vor, zwang ihn zum Rückzug und beschäftigte ihn ununterbrochen.
Das Lächeln hatte sich längst verloren und war einer Grimasse gewichen. Der Empfindsame hatte bereits gemerkt, daß er es mit einer Gegnerin zu tun hatte, die mit dem Florett umzugehen verstand. Er kam nicht mehr dazu, seinem Entzücken Ausdruck zu verleihen, geriet in Schweiß, wehrte sich und zeigte dabei, daß er vom Fechthandwerk herzlich wenig verstand.
Kathy bugsierte ihn geschickt zurück ins Kabelgewirr auf dem Atelierboden und schlug ihm dann den Degen aus der Hand. Der Chef der beiden Killer schrie wütend auf und wollte sich auf Kathy stürzen, wurde jedoch von der Florettspitze gestoppt, die sie gegen seinen Hals drückte.
Kathy hatte es geschafft.
Schwer ging ihr Atem, sie war sich ihrer Blöße kaum bewußt. Sie schaute kurz hinüber zu Herbert, der sich gerade etwas bewegte und aufstehen wollte, jedoch kraftlos wieder in sich zusammenrutschte. Nein, dieser Mann war vorerst keine Gefahr für sie.
„Sie haben mich gemein getäuscht“, beschwerte sich der Künstler wütend. „Das werde ich Ihnen nicht verzeihen!“
„Ich könnte Sie töten“, erwiderte Kathy.
„Das werden Sie nicht wagen!“
„Wird sie auch nicht, Chef“, ertönte leider in diesem Moment eine Stimme hinter Kathy. Sie gehörte dem zweiten Killer. Er schob sich in Kathys Blickfeld und zeigte ihr den Lauf seiner Schußwaffe, der mit einem Schalldämpfer versehen war.
„Wenn Sie schießen, steche ich zu“, warnte Kathy, entschlossen, sich nicht ins Bockshorn jagen zu Lassen.
„Du verschätzt das Kaliber, Puppe“, sagte der breitschultrige Jack gelassen und hob die Waffe. „Wollen wir’s drauf ankommen lassen?“
Kathy kannte sich auch in Schußwaffen aus.
Der Breitschultrige übertrieb nicht. Ein Geschoß aus dieser Waffe würde sie herumschleudern und ihr keine Zeit mehr lassen, einen tödlichen Stoß anzubringen.
Sie ließ die Spitze des Floretts sinken und trat einen halben Schritt zurück.
Der empfindsame Künstler wich sofort zur Seite, brachte sich erst mal in Sicherheit, ergriff eine der schweren Peitschen und wollte auf die junge Frau einschlagen.
„Stopp, Chef“, sagte Jack scharf, „das Spiel ist aus, die Vorstellung beendet! Ich zieh’ die Kleine erst mal aus dem Verkehr.“
„Wer hat hier zu bestimmen?“ kreischte der Künstler hysterisch auf. „Ich verbitte mir diesen Ton.“
„Halt doch endlich mal die Klappe.“ Jack ließ sich überhaupt nicht aus der Ruhe bringen und nickte Kathy zu. „Komm Puppe, gleich bricht er bestimmt noch in Tränen aus, ich kenn’ das!“
Kathy begriff nicht, was hier gespielt wurde. Wer war nun der Chef?
Wieso erlaubte sich der Breitschultrige diesen Ton? Und warum ließ die empfindsame Seele sich das gefallen?
Sie stellte natürlich keine Fragen und näherte sich Jack, während der Künstler Trost bei Herbert suchte, der endlich zu sich gekommen war und stöhnend den schmerzenden Hals massierte.
„Lister ist nämlich hin“, sagte Jack jetzt zu den beiden anderen Männern. „Eben kam’s durchs Radio. Das dürfte die Lage leicht verändern, oder?“
*
Parkers hochbeiniger Wagen fiel überhaupt nicht auf.
Er stand inmitten anderer parkender Wagen am Straßenrand. Von hier aus war der Zugang zum Leichenschauhaus besonders gut zu kontrollieren. Lady Agatha hatte es sich im Fond des Wagens bequem gemacht und nippte gerade an einem kleinen Kreislaufbeschleuniger, den Parker ihr durch die geöffnete Trennscheibe gereicht hatte.
Sounders und Morrison hielten sich im Leichenschauhaus auf. Sie hatten sich als Angestellte verkleidet und trugen weiße, dienstlich aussehende Kittel. Sie alle warteten auf das Erscheinen des Killers.
Dank Lady Agathas Initiative war die Meldung über den tödlichen Unfall Burt Listers über die Sender gegangen. Diese Nachricht wirkte nicht betont herausfordernd, denn sie war schließlich eine echte Nachricht.
Die Falle war gestellt, geöffnet und wartete darauf, zuschnappen zu können.
„Ich warte auf eine Erklärung, Mr. Parker“, sagte Lady Agatha ungeduldig, als sie Parker den kleinen silbernen Schraubbecher zurückreichte.
„Mylady?“
„Ich habe doch genau gesehen, daß Sie etwas aus Listers Brieftasche hervorgezogen haben. Glauben Sie etwa, ich hätte Knöpfe vor den Augen?“
„Keineswegs, Mylady.“
„Also, bitte! Was haben Sie gefunden?“
„Eine bereits leicht vergilbte Zeitungsannonce, Mylady, in der eine Dame des offensichtlich horizontalen Gewerbes sich als strenge Gouvernante empfiehlt und neuartige Erziehungsmethoden verspricht.“
„Für Scherze, Mr. Parker, bin ich im Moment überhaupt nicht zu haben“, grollte Lady Agatha. „Halt, mir dämmert etwas!“
„Dies, Mylady, ahnte ich, wenn ich es so ausdrücken darf.“
„Eine Annonce für Masochisten, nicht wahr?“
„So läßt sich die bewußte Annonce durchaus deuten, Mylady.“
„Genuß durch Leiden!“ Lady Agatha schüttelte ein wenig irritiert den Kopf. „Nun ja, ich will mich nicht als Richter aufspielen, jedem das Pläsir, das er sich wünscht. Sie glauben, daß Lister Kontakt mit dieser Gouvernante aufgenommen hat?“
„Diese Möglichkeit wäre zu prüfen.“
„Das erklärt seine Fahrten von Bristol nach London.“ Lady Agatha hatte wieder eine Idee und wirkte sehr angeregt. „In meinem Kriminalroman würde solch ein Mann wie Lister seine Neigungen verschleiern und sich hüten, ihnen in Bristol nachzugehen, wo er bekannt ist. Er würde also in eine andere Stadt fahren, wo er sich, unerkannt bewegen könnte.“
„Eine durchaus akzeptable Annahme, Mylady.“
„Die uns aber im Augenblick nicht weiterhelfen wird, Mr. Parker. Wie können wir mit dieser Erkenntnis Kathy helfen?“
„Miß Kathys Entführer könnten mit dieser Gouvernante in enger Verbindung stehen, Mylady.“
„Sehr verwirrend, Mr. Parker.“
„Keineswegs, Mylady, wenn ich mir die Freiheit nehmen darf, Mylady zu widersprechen.“
„Ist die Adresse dieser Gouvernante in der Annonce genau angegeben?“
„Leider nur eine Chiffre, Mylady.“
„Dann wird uns die Annonce überhaupt nicht weiterhelfen, Mr. Parker. Sie haben in mir unnötige Hoffnungen geweckt.“
„Vielleicht könnte sich Mr. Falsom da hilfreich einschalten, Mylady. Die Annonce erschien erfreulicherweise in der Zeitung, für die er als Redakteur arbeitet.“
„Die technischen Einzelheiten interessieren mich nicht, Mr. Parker, aber schaffen Sie diese strenge Gouvernante herbei! Haben wir uns verstanden?“
„Mylady werden mit meiner bescheidenen Wenigkeit zufrieden sein.“
„Wollen wir hier noch weiter herumstehen? Ich hasse Passivität.“
„Sie könnte sich schnell in Aktivität Umschlagen, Mylady. Darf ich Myladys Aufmerksamkeit auf den Daimler lenken, der gerade vor dem Leichenschauhaus hält?“
Er durfte, und Lady Simpson beugte sich etwas vor, um besser sehen zu können.
Ein sehr teuer aussehender Wagen entließ gerade den Fahrer, der respektvoll den hinteren Wagenschlag öffnete. Ein mittelgroßer, schlanker Mann in dunklem Stadtanzug nickte dem Fahrer routiniert zu, ließ sich eine große Aktentasche reichen und verschwand dann zusammen mit ihm im Leichenschauhaus.
„Das sieht ja fast nach einem hohen Regierungsbeamten aus, stellte Agatha Simpson fest.
„Oder nach einer erstklassigen Vorbereitung, Mylady.“
„Sie glauben, Kathys Entführer sind da gerade aufgekreuzt?“ Agathas Stimme belebte sich freudig.
„Würden Mylady das in Myladys Kriminalroman anders beschreiben?“
„Nein, natürlich nicht. Das erhöht die Spannung, vollkommen richtig. Die Killer haben sich verkleidet, aber …“
„Mylady haben Bedenken?“
„So wie diese beiden Männer sahen die Killer nicht aus, das weiß ich mit Sicherheit.“
„Würde dies in Myladys Thriller der Fall sein?“ fragte der Butler.
„Richtig. Mr. Parker.“ Die Detektivin atmete auf. „In meinem Kriminalroman würde man selbstverständlich andere Leute schicken, deren Gesichter man noch nicht kennt.“
Bevor Josuah Parker sich dazu äußern konnte, waren die Andeutungen von Schüssen zu hören, die offensichtlich schallgedämpft waren. Sekunden später erschienen der Fahrer und sein Herr im Eingang des Gebäudes. Sie hatten es sehr eilig, rannten zu dem Daimler, verschwanden in ihm und schossen mit ihm davon.
Parker nahm sofort diskret die Verfolgung auf. Um Sounders und Morrison konnte man sich später immer noch kümmern, zumal sie ja nicht allein im Leichenschauhaus gewesen waren.
*
Jack, der breitschultrige Killer, deutete in den fensterlosen Kellerraum.
„Hier sind Sie erst mal vor dem Idioten sicher“, sagte er. „Spielen Sie bloß nicht verrückt, und verhalten Sie sich möglichst still! Der schäumt jetzt vor Wut.“
„Sie scheinen wenigstens normal zu sein.“ Kathy lächelte, als sie den kleinen Raum betrat, der hinter der Garage lag. Jack hatte sie unter Wahrung aller Vorsichtsmaßnahmen hierherbugsiert und ihr keine Chance gelassen.
„Kommen Sie mir bloß nicht mit Blumen“, gab Jack zurück. „Sie sind ein ganz raffiniertes Luder!“
„Vielen Dank für die Blumen“, antwortete Kathy und paßte sich geschickt der neuen Situation an. „Ich kann damit etwas anfangen.“
„Sie sind niemals die Unschuld vom Lande.“ Er sah sie prüfend an.
„Habe ich das je behauptet?“ Sie lächelte.
„Nee, das hat Cranford sich eingeredet.“
„Der Fotograf oben im Atelier?“
„Sie können seinen Namen ruhig wissen“, meinte Jack. „Eric Cranford.“
„Und er ist wirklich Ihr Chef? Das kann ich einfach nicht glauben. Das geht nicht in meinen Kopf.“
„Sie pflücken schon wieder Blumen, Puppe.“
„Ihr Cranford ist doch verrückt“, stellte Kathy kühl fest. „Wie Ihr Partner Herbert.“
„Reden Sie doch weiter“, sagte Jack, als Kathy eine kleine Pause einlegte. „Ich weiß, Sie haben noch was zu bieten, oder?“
„Was denn so zum Beispiel?“ Sie sah ihn herausfordernd an.
„Sie sind niemals ’ne Zufallsbekanntschaft von Lister gewesen“, stellte Jack fest und lehnte sich gegen den Rahmen der Tür. „Mir machen Sie nichts vor.“
„Wieso sollte ich das nicht gewesen sein?“ Kathy tat erstaunt.
„Sie sind zu clever, Puppe. Denken Sie mal an das Ferienhäuschen, wo wir Sie zuerst hochgenommen hatten. Wie Sie sich da verhielten, roch nach ’nem Profi.“
Kathy Porter überlegte blitzschnell, ob sie sich aufs Glatteis bewegen sollte, das er ihr gerade offerierte. Jack war nicht so naiv, wie er vielleicht aussah.
„Also, was vermuten Sie hinter mir?“ fragte sie schließlich.
„Sie wissen genau, was mit Lister los gewesen ist. Und ich gehe jede Wette ein, daß Sie auf ihn angesetzt wurden.“
„Jetzt machen Sie mich aber sehr neugierig.“ Sie lächelte verhalten. Sie war auf dem besten Weg, endlich die Informationen zu erhalten, die sie so notwendig brauchte.
„Sie stammen von der Konkurrenz, Puppe. Ich spür’ das.“
„Dafür spüre ich überhaupt nichts. Von welcher Konkurrenz sollte ich denn sein?“
„Von der, die ebenfalls hinter Listers Material her ist.“
Kathy senkte den Kopf, als fühlte sie sich durchschaut.
„Ich frag’ mich nur, ob Lister euch auch reingelegt hat“, sagte Jack.
„Darauf antworte ich nicht.“ Sie hatte sich für ihre neue Rolle entschieden, die Zeitgewinn bedeutete. Sie mußte für die beiden Killer und die empfindsame Künstlerseele interessant bleiben.
„Ich mach’ dir ’nen Vorschlag, Mädchen“, erklärte Jack und verfiel wieder in den kumpelhaften Ton. „Wechsle die Fronten und arbeite mit uns zusammen! Dabei kannst du dir ’ne goldene Nase verdienen.“
„Oder?“ Sie sah ihn abwartend an.
„Oder ich prügele das aus dir raus, was wir wissen wollen“, meinte er wie selbstverständlich. „Wetten, daß du reden wirst? Vielleicht nicht sofort, aber irgendwann bestimmt …“
„Wer soll mir denn die goldene Nase garantieren?“ erkundigte sich Kathy und lächelte ironisch. „Etwa dieser Eric Cranford da oben im Atelier?“
„Das ist doch nur ’ne Art Verbindungsmann“, beruhigte er sie, „nichts als Tarnung für den eigentlichen Chef.“
„Den ich nie sehen werde?“
„Natürlich nicht Kennst du deinen richtigen Chef?“
Sie antwortete nicht und wartete ab, was er ihr noch zu sagen hatte.
„Na also“, freute sich Jack, ihr Schweigen mißdeutend. „In unserer Agentenbranche ist man verdammt vorsichtig. Die wirklichen Geldgeber bleiben stets im Hintergrund. Man kann nur vermuten, in welchem Botschaftsgebäude die sitzen.“
„Und man sollte nie laut darüber reden.“ Sie nickte bestätigend.
„Kluges Mädchen.“ Er grinste wissend. „Also, kannst du Listers Material liefern? Wir wissen, daß er die Unterlagen bei sich hatte, als er in Bristol losfuhr. Wo sind sie jetzt?“
„Dreh’ dich um!“
Ihr Ton ließ erkennen, daß sie einen Entschluß gefaßt hatte. Wenigstens mußte Jack diesen Eindruck haben.
„Was, du hast das Zeug etwa die ganze Zeit über bei dir gehabt?“
„Dreh dich um!“
„Damit du mir eins gegen den Hals knallen kannst? Für wie blöd hältst du mich eigentlich, Puppe?“
„Na schön, dann schau wenigstens nicht zu neugierig hin.“
Sie drehte ihm halb den Rücken zu und nestelte an dem zerrissenen Gewand, hob den Saum an, nestelte an dem Dekolleté, das nur noch aus Fetzen bestand, und hörte hinter sich leise, schnelle Schritte. Sie wußte, daß sie seine Neugierde erregt hatte, wartete aber noch einen Moment ab. Nur jetzt keinen Fehler begehen, hämmerte Kathy sich ein, nur nichts überstürzen!
Er stand dicht hinter ihr, sie fühlte seinen Atem in ihrem Nacken. Sie ließ die Kleiderfetzen über die linke Schulter gleiten, drehte sich etwas, um seine Blicke endgültig abzulenken, und zeigte ihm den Ansatz ihrer straffen Brüste.
Sie war sich der Wirkung ihres Körpers voll bewußt und setzte ihn gezielt als Geheimwaffe ein, deren Gefährlichkeit Jack bestimmt noch nicht kannte. Der Blick des breitschultrigen Killers irrte auch prompt ab, er konnte dem reizenden Anblick nicht widerstehen.
Genau in diesem Moment wirbelte Kathy blitzschnell herum und schlug ihre Handkante gegen seinen Oberarm, der sofort wie gelähmt war. Jack verlor die Schußwaffe, brüllte vor Schmerz auf und wollte nach ihr treten. Sein Gesicht war haßverzerrt, der Mann kannte jetzt keine Rücksicht mehr.
Kathy wich geschmeidig zur Seite aus, ließ ihr rechtes und gestrecktes Bein vor- und hochschnellen, traf seine Wade und brachte den schweren Mann aus dem Gleichgewicht Jack fiel nach hinten, doch noch im Fallen brachte Kathy einen zweiten Schlag an.
Jack war bereits bewußtlos, als er auf dem harten Steinboden des Kellers landete.
Kathy griff hastig nach der schallgedämpften Schußwaffe, pirschte an die Tür und lauschte nach oben.
Da waren Stimmen und Schritte zu hören!
Herbert und die empfindsame Künstlerseele Cranford mußten bereits auf der Treppe sein.
Jetzt wurde ihre Lage brandgefährlich!
*
Parkers hochbeiniges Monstrum fiel im nächtlichen Straßenbild überhaupt nicht auf. Um diese Zeit fuhren ohnehin fast nur noch Taxen, zumal die Spätvorstellungen der Kinos und Theater beendet waren.
Parkers Wagen war ein ehemaliges Londoner Taxi, das nach seinen sehr privaten und ausgefallenen Wünschen umgebaut worden war. Sein Wagen paßte wunderbar in den nächtlichen Verkehr.
Die beiden Männer im Daimler schienen überhaupt nicht zu merken, wie geschickt sie verfolgt wurden.
Parker nutzte seine Kenntnisse aus. Hier in der eigentlichen City der Millionenstadt war er zu Hause, kannte jede Abkürzung und genierte sich auch nicht, in zwei Fällen eine schmale Einbahnstraße in falscher Richtung zu fahren. So schaffte er es, rein optisch als Verfolger zu verschwinden, dennoch aber plötzlich wieder hinter dem Daimler zu sein. Aus Gründen der Tarnung hatte er das im Wagendach versenkbare Taxischild elektrisch hochgeklappt und beleuchtet.
Die Fahrt dauerte nicht lange.
Sie endete vor einem mehrstöckigen Bürohaus in der Nähe des Piccadilly Circus. Das noch regenfeuchte Haus lag wie ein riesiger Quader in der Dunkelheit, beleuchtete Fenster waren auf der Straßenseite nicht zu erkennen.
Der Daimler hielt nur ganz kurz vor einem Eisentor, das sich öffnete, den Wagen verschluckte und sich dann wieder schloß. Parker fuhr mit seinem hochbeinigen Monstrum selbstverständlich weiter, bog jedoch in die nächste Querstraße ein, um sich einen Blick auf die Rückseite dieses Bürohauses zu verschaffen.
Auf Anhieb erwies sich das leider als unmöglich.
Der riesige Quader gehörte zu einem quadratischen Häuserblock, dessen Rückseite nicht einzusehen war. Parker fuhr um diesen Häuserblock herum und stellte fest, daß sämtliche Zufahrtstore zum Innenhof fest verschlossen waren. Die Tore waren auf den Innenseiten mit dunkel gestrichenen Eisenblenden versehen.
„Ein an sich recht gutes Viertel“, stellte Lady Simpson fest. „Hier dürften wir es mit großen Im- und Exportfirmen zu tun haben, Mr. Parker.“
„In der Tat, Mylady.“
„Seriöse Firmen, Mr. Parker.“
„Ein relativer Begriff, Mylady, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf.“
„Sehr gut geeignet, um dunkle Geschäfte zu tätigen“, stellte die ältere Dame fest. „In meinem Spionageroman wäre solch ein Bürohaus der Sitz von ausländischen Agenten.“
„Eine bessere Tarnung könnte man sich nicht vorstellen, Mylady.“
„Dann werden wir jetzt mal gründlich enttarnen“, bemerkte Lady Simpson unternehmungslustig. „Sie sind hoffentlich in der Lage, eines von den Toren zu öffnen, oder?“
„Ich werde mir Mühe geben, möchte aber nicht versäumen, Mylady auf das Ungesetzliche solch einer Öffnung hinzuweisen.“
„Papperlapapp!“ Mehr sagte sie nicht und wuchtete sich überraschend mühelos aus dem Wagen, bevor Parker Hilfestellung leisten konnte. Mylady vergewisserte sich, daß ihr Pompadour am Handgelenk hing, und marschierte dann los. Sie ging zurück zum Tor, durch das der Daimler in den Innenhof gelangt war. Sie kümmerte sich nicht weiter um ihren Butler und hielt es für selbstverständlich, daß er ihr folgte.
Parker hatte innere Bedenken.
Er kannte die Reaktionen der Lady Simpson, die keine Gelegenheit ungenutzt ließ, sich und ihrer jeweiligen Umgebung Ärger zu verschaffen. Seine Herrin trat mit Vorliebe in jedes erreichbare Fettnäpfchen.
„Das ist es, Mr. Parker, das muß es sein“, stellte Lady Simpson fest, als sie das Portal neben dem Tor erreicht hatten. Sie deutete auf eines der wirklich zahlreichen Firmenschilder, die an den beiden Innenseiten des Portals angebracht waren. Nach Parkers oberflächlicher Schätzung mußten sich in diesem Bürohaus wenigstens zwei Dutzend Firmen befinden, doch Lady Simpson wußte es wieder mal ganz genau. Wahrscheinlich deckte sich diese Firma mit ihrer Romanvorstellung.
Das von Agatha Simpson bezeichnete Firmenschild bezog sich auf einen Im- und Export, unter dem groß der Name „Hongkong“ stand. Dieser exotische Name schien es der resoluten Frau sofort angetan zu haben. Bevor der Butler jedoch antwortete, studierte er noch schnell die Namen der übrigen Firmen. Alle bedeutenden Großstädte der Welt waren anzutreffen, die Mehrzahl dieser Namen bezog sich allerdings auf Fernost.
„Worauf warten Sie eigentlich noch?“ Lady Agatha drehte sich ungeduldig zu ihrem Butler um. „Sie werden doch wohl dieses lächerliche Schloß aufsperren können, oder?“
„Mylady wollen in das Haus eindringen?“
„Was heißt hier eindringen? Öffnen Sie, dann kann ich regulär hineingehen und brauche mir noch nicht mal Gewissensbisse zu machen!“
Parker seufzte innerlich auf, zog sein kleines Spezialbesteck hervor und brauchte nur wenige Sekunden, bis er die Tür aufdrücken konnte. Im Öffnen von Schlössern aller Art hätte er einen berufsmäßigen Einbrecher, zum schamhaften Erröten gebracht und ihn veranlaßt, schleunigst Nachhilfestunden zu nehmen.
„Dritte Etage“ erklärte Lady Simpson, „wollen wir den Lift nehmen?“
„Mylady!“ Parker sah die Detektivin beschwörend an.
„Gut, dann eben nicht, Hauptsache, Sie ermüden unterwegs nicht.“ Sie marschierte los, durchquerte die große Empfangshalle und hielt auf eine der beiden Steintreppen zu, die mit Läufern ausgelegt waren. In der Halle war es zwar recht dunkel, doch das Straßenlicht, das durch die Treppenfenster hereinfiel, reichte vollkommen aus, den richtigen Weg zu finden.
„Hongkong“, sagte Agatha Simpson ziemlich ungeniert laut. „Deutet das nicht auf eine wunderbare fernöstliche Verschwörung hin, Mr. Parker? Spüren Sie es nicht in den Fingerspitzen, daß wir auf der richtigen Spur sind?“
„Fürchten Mylady nicht, vielleicht etwas zu laut zu sein?“
„Unsinn, Mr. Parker!“ Sie ließ sich nicht beeindrucken. „Ich habe ja nichts zu verbergen.“
„Möglicherweise aber jene Herrschaften, denen Mylady einen überraschenden Besuch abstatten wollen.“
„Das ist allerdings ein Gesichtspunkt“, räumte Agatha Simpson gnädig ein, um dann plötzlich jäh anzuhalten und ein lautes, zischendes „Pst!“ zu produzieren. Damit gab sie ausgerechnet ihrem Butler zu verstehen, er möge gefälligst leise sein.
Lady Simpson hatte nämlich eine Entdeckung gemacht.
Sie hatte kurz in den Korridor geschaut und löste bereits freudig den Pompadour von ihrem Handgelenk. Sie war bereit, sich wieder mal in die Schlacht zu stürzen, und zwar ohne Rücksicht auf Verluste.
Parker schob sich neben Mylady und warf einen kurzen Blick in den langen Korridor der dritten Etage, die sie erreicht hatten. Die Fenster führten offensichtlich auf die Innenseite des großen Gebäudekomplexes. Es gab einige Notlampen, deren Licht gerade ausreichte, um Einzelheiten zu erkennen. Zu diesen Einzelheiten gehörte auch der Mann, der sich schnell, aber sehr vorsichtig an das Treppenhaus heranpirschte. Er schien Myladys Stimme nicht überhört zu haben.
Parker schob sich nachdrücklich vor Mylady, die die Kriegshandlungen sofort einleiten wollte, ja, er drückte seine Herrin geradezu ungeniert zurück. Er Wollte um jeden Preis verhindern, daß sie geradewegs in die Revolvermündung dieses Mannes hineinmarschierte.
Parker verfügte über bessere Waffen!
Schon auf der Treppe hatte er seine Gabelschleuder aktiviert und zusammengesteckt. In der Lederschlaufe befand sich ebenfalls schon eine ansehnliche Stahlkugel von der Größe eines mittleren Kieselsteins. Der Butler strammte die beiden Gummistränge der Zwille und … schickte sein Spezialgeschoß auf die Reise.
Wie von einer unsichtbaren Riesenfaust getroffen sackte der Mann sofort in sich zusammen. Er fand nicht mehr die Zeit, seinen Revolver abzufeuern, er war von der Stahlkugel völlig überrascht worden.
Parker lief in den Gang hinein, barg die Schußwaffe und wartete, bis Lady Simpson ihn erreicht hatte. Dann hielt er auf eine Tür zu, unter der Licht hervorschimmerte.
Er legte Ohr und Kopf gegen die Tür, lauschte ungeniert und hörte eine Männerstimme, die gerade telefonierte. Es war kaum damit zu rechnen, daß der Besitzer dieser Stimme die Tür beobachtete, also bewegte Parker vorsichtig den Türknauf und schaute in den Raum.
Und damit leider auch in die Mündung einer Automatic, die mit einem modernen Schalldämpfer versehen war.
Da die Entfernung zwischen Schalldämpfer und seinem Gesicht nur knapp zehn Zentimeter betrug, verzichtete der Butler darauf, die Tür schnell zurück ins Schloß zu werfen. Er trat also gemessen näher und sah dann einen dritten Mann, der tatsächlich telefonierte.
„Nun?“ wisperte Lady Simpson in gespannter Erwartung. Sie folgte dem Butler auf dem Fuß, hatte jedoch noch nicht bemerkt, daß Parker nicht mehr Herr der Situation war.
„Ich fürchte, Mylady eine herbe Überraschung bereiten zu müssen“, erwiderte der Butler, als Lady Agatha sich nun auch ins Zimmer schob und sich der Automatic gegenübersah.
„Wieso denn?“ fragte sie unbeeindruckt und ignorierte souverän die Schußwaffe. „In meinem Spionageroman hätte ich das auch kaum anders beschrieben. Überraschungen müssen sein, sie sind die Würze des Lebens!“
*
Kathy ließ sich auf keinen Kampf ein.
Mit List war hier mehr auszurichten als mit Draufgängertum. Sie huschte zur Seite und ließ die beiden Männer passieren. Es handelte sich tatsächlich um den Killer Herbert und die empfindsame Künstlerseele Cranford.
Sie waren sich ihrer Sache übrigens vollkommen sicher, kamen die Treppe herunter und hielten auf die Kellertür zu. Daß sie geschlossen war, machte sie nicht stutzig, sie glaubten wohl, Killer Jack habe sie zugezogen, damit die Schreie seines Opfers nicht zu hören waren.
Auf Zehenspitzen hastete Kathy über die Treppe nach oben und hatte es fast schon geschafft, als sie das scharfe „Plopp“ von schallgedämpften Schüssen hörte.
Zwei Geschosse landeten dicht neben ihr im Verputz der Wand. Kalkspritzer wirbelten hoch, doch Kathy hechtete vor und kam so aus der Gefahrenzone. Sie donnerte die Kellertür hinter sich ins Schloß und schob den auch hier vorhandenen Riegel vor.
Viel Zeit stand ihr nicht zur Verfügung.
Sie wollte zuerst zur Haustür laufen, doch dann kamen ihr Bedenken. Vielleicht gab es dort unten im Erdgeschoß hinter der Garage einen zweiten Ausgang, den sie nicht kannte. War das der Fall, lief sie den Killern geradewegs zurück in die Arme.
Sie rannte in die kleine Küche des Obergeschosses, öffnete die schmale Tür zu einem winzigen Balkon und orientierte sich. Es bot sich nur ein einziger Fluchtweg an, sie mußte über das Balkongitter steigen und hinunter auf das Dach eines Anbaus klettern.
Was sie sofort tat!
Ihre sportliche Geschmeidigkeit zahlte sich wieder mal aus, denn dieser Abstieg war nicht ungefährlich. Sie hatte das Balkongitter bereits überwunden, ließ sich an den Händen hinunter und pendelte ihren Körper so weit durch, bis sie ausreichend Schwung hatte, um das seitlich versetzte Dach des Anbaus zu erreichen.
Katzenhaft weich landete sie auf dem nur leicht abschüssigen Dach, schaute kurz zum Balkon hoch und beeilte sich, auf die andere Seite des Daches zu kommen. Mit dem Erscheinen der Killer war jeden Moment zu rechnen.
Ihre konsequente Eile zahlte sich aus.
Sie hatte gerade den flachen Dachfirst hinter sich gebracht, als sie den Killer Herbert auf dem Balkon entdeckte. Seine Gestalt hob sich gegen das Licht im Innern der Küche ab. Sie selbst war auf dem schwarzen Dach mit Sicherheit nicht zu sehen, dennoch drückte sie sich flach auf die rauhe und nasse Teerpappe.
Würden die Killer die Verfolgung aufnehmen?
Nein, Herbert ging zurück in die Küche und schloß die Tür. Er hatte eingesehen, daß das Opfer endgültig geflüchtet war. Oder würden die Verfolger versuchen, ihr den Weg abzuschneiden? Sie mußten sich in der Nähe ihres Schlupfwinkels ja sehr gut auskennen.
Kathy nagte nachdenklich an ihrer Unterlippe, um dann plötzlich und ohne Übergang zu lächeln.
Sie hatte an Lady Agatha Simpson gedacht.
Wie würde Mylady die Hauptperson in ihrem Spionageroman wohl handeln lassen? Doch zumindest irregulär und ungewöhnlich! Und hier lag die Lösung für Kathys Problem. Sie mußte genau das tun, womit die drei Gangster nicht rechneten.
Sie lief auf das zweistöckige Haus zu, an das sich der Anbau anschloß, wählte also eine Richtung, die zurück in die Nähe der Killer führte. Vor ihr befanden sich drei schmale und hohe Fenster. Eines davon war halb geöffnet.
Kathy riskierte es, zog sich an der Fensterbank hoch und blieb einen Moment auf der Fensterbank sitzen. Sie horchte in das Dunkel des Zimmers hinein, hörte leise Schnarchtöne und … stieg kurz entschlossen ins Haus ein, das praktisch Wand an Wand mit der Gangsterwohnung lag.
Gleich nach dem Einsteigen blieb sie regungslos stehen, bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Sie unterschied jetzt Einzelheiten. Drüben an der Wand stand ein Bett, dann waren da ein Schrank, eine Kommode und die Tür, die wohl in den Korridor führte.
Ihre nackten Füße standen auf einem tiefen und weichen Teppich. Geräuschlos bewegte Kathy sich auf diese Tür zu, horchte auf die tiefen Schnarchtöne und blieb wie angewurzelt stehen, als sie plötzlich halblaut angesprochen wurde.
„Ich kann Sie genau sehen“, sagte eine amüsierte Stimme. „Sie heben sich gegen das Fenster ab. Nehmen Sie die Hände hoch!“
Vielleicht wäre Kathy schneller gewesen.
Ein gewisser Josuah Parker hatte sie eingehend auf Schnelligkeit gedrillt, doch sie durfte in diesem Moment nicht reagieren und nicht schießen. Sie befand sich in der Wohnung eines Mannes, der mit dieser ganzen Affäre nichts zu tun hatte. Einen Unschuldigen durfte sie auf keinen Fall gefährden.
Kathy blieb also stehen und hörte hinter sich schnelle Schritte.
„Nur so zur Warnung“, redete die Stimme weiter. „Ich bin bewaffnet und werde bei der geringsten falschen Bewegung schießen.“
Sie glaubte dieser Stimme, die beherrscht und überlegen klang.
„Werfen Sie die Waffe rüber aufs Bett“, redete die Stimme weiter, „und bitte, machen Sie keine Dummheiten!“
Kathy gehorchte.
Eine kleine Wandlampe flammte auf. Sie wollte sich umwenden und blinzelte in das Licht, erhielt aber den Befehl, sich nicht zu rühren. Sie hörte, wie ein Schnapprollo heruntergezogen wurde.
„So, jetzt können Sie sich entspannen, ehrwürdige Mutter“, sagte die amüsierte Männerstimme, auf ihre Schwesterntracht anspielend. Kathy tat es und sah sich einem Mann gegenüber, der nur eine Pyjamahose trug. Der Oberkörper des Mannes war nackt und behaart, muskulös und durchtrainiert.
Der Mann mochte etwa vierzig Jahre sein, hatte kühle, graue Augen, ein schmales Gesicht und einen energischen Mund. Er hielt einen 38er in der linken Hand, sehr fachmännisch und routiniert.
„Sind Sie gekommen, um mein Seelenheil zu retten?“ erkundigte sich der Mann.
„Ich … ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig“, sagte Kathy, die leicht nervös geworden war. Sollte sie vom Regen in die Traufe geraten sein? Wer war dieser Mann, der genau zur richtigen Zeit die richtige Waffe in der Hand hielt? Gehörte er zu den drei Agenten im Nebenhaus?
„Schön, erklären Sie“, gab der Mann spöttisch zurück. „Wir haben ja noch den ganzen Rest der Nacht vor uns.“
„Sie halten mich bestimmt für eine Einbrecherin, nicht wahr?“
„Haargenau, Miß.“
„Das bin ich aber nicht.“
„Sondern?“
„Ich … ich wurde verfolgt, verstehen Sie? Sie müssen mir helfen.“
„Na, und wie ich Ihnen helfen werde! Ziehen Sie sich aus!“
„Wie bitte?“ Kashy starrte den Mann überrascht an.
„Viel ist es ja ohnehin nicht“, sagte der Mann. „Hinzu kommt, daß mich die Ordenstracht irritiert. Machen Sie schon!“
„Aber Sir! Sie können doch nicht verlangen …“
„Und ob ich kann!“ Er ließ sich nicht erweichen. „Ich will sicher sein, daß Sie mir nicht mit unangenehmen Überraschungen kommen.“
„Bitte“, beschwor Kathy ihn, die scheue Masche ausspielend. Sie war fest entschlossen, diesem Mann so schnell wie möglich zu entwischen. Jetzt hatte sie keine Bedenken mehr, ihn auszutricksen.
„Ich kann ja auch das Rollo wieder öffnen“, schlug der Mann vor, „oder ich könnte mich auch hilfesuchend an meine Nachbarn wenden. Wie finden Sie das?“
Seufzend löste Kathy die Fetzen der Ordenstracht und stieg aus dem Kleid.
„Sehr schön“, sagte der Mann anerkennend, „arbeiten Sie in Ihrer Freizeit als Fotomodell?“
„Sie sollten sich schämen!“ Kathy produzierte einige Tränen, schluchzte auf und hoffte, der Mann würde nun endlich näher auf sie zukommen. Sie war bereit, es ihm zu zeigen!
„Legen Sie sich auf den Teppich, mit dem Gesicht nach unten“, kommandierte der Mann. „Die Hände hübsch auf den Rücken, Miß!“
Kathy gehorchte. Sie hatte keine andere Wahl und ärgerte sich maßlos, daß er ihr keine Chance ließ, sondern ihre hilflose Nacktheit ausnutzte und ausspielte.
Sie hörte leichte Schritte hinter sich, wollte blitzschnell herumfahren und ihre Handkante einsetzen. Doch der Mann war schneller. Kathy wurde ihrerseits von einem nachdrücklichen, aber nicht zu harten Schlag getroffen und stürzte in den immer wieder so oft beschriebenen dunklen und tiefen Schacht der Bewußtlosigkeit.
*
„Ich protestiere noch mal in aller Form gegen diese Behandlung“, grollte Lady Simpson verärgert. Sie saß wie ihr Butler in einem tiefen, äußerst bequemen Ledersessel, der es leider unmöglich machte, schnell aufzustehen. Dazu hätte man sich erst einmal etwas umständlich hochwuchten müssen.
Das Büro, in dem sich Lady Agatha und Butler Parker befanden, war altehrwürdig eingerichtet. Zu der dunklen Holzvertäfelung der Wände paßten der große Schreibtisch aus Mahagoni, die schweren Teppiche und der Bücherschrank an der Stirnseite.
Der Mann neben dem Schreibtisch glich rein äußerlich einem Berufsdiplomaten, wie er im Film gern dargestellt wird. Seine dunkle Kleidung war untadelig und stammte von einem ersten Schneider. Der zweite Mann trug eine Chauffeuruniform und paßte ebenfalls ins Bild. Es handelte sich um jenen Typ, den der Butler draußen im Korridor mit seiner Gabelschleuder aus dem Verkehr gezogen hatte. Der dritte Mann, der sie mit der Automatic empfangen hatte, wirkte in dieser Umgebung ein wenig stilwidrig. Er trug einen lässigen Sportanzug mit einem zu groben Muster.
Der ‚Diplomat‘ war fünfzig Jahre alt, besaß ein gutgeschnittenes Gesicht und verbindliche Manieren.
„Sie sind schneller erschienen, als ich gedacht hatte“, sagte er höflich.
„Sie wollen doch nicht etwa behaupten, daß Sie unsere Verfolgung mitbekommen haben?“ Lady Simpsons Stimme klang ungläubig.
„Sie müssen es ja nicht unbedingt glauben“, erwiderte der ‚Diplomat‘, „nun sind Sie hier. Wir sollten uns in aller Ruhe unterhalten und vielleicht vergleichen.“
„Welches Thema haben Sie Mylady anzubieten?“ erkundigte sich Parker. Er hatte längst herausgehört und gespürt, daß sie es auch hier mit Profis zu tun hatten. Der Auftritt vor dem Leichenschauhaus allein schon sprach Bände dafür.
„Burt Lister“, sagte der ‚Diplomat‘, gelassen, „um ihn dürfte es ja wohl gehen, nicht wahr?“
„Sie sind Agenten?“ Lady Simpson konnte ungemein unkonventionell sein, scheinbar naiv, doch Parker wußte es besser. Er ließ die alte Dame gewähren, verhielt sich ruhig.
„Geschäftsleute“, korrigierte der ‚Diplomat‘, „wieso interessieren Sie sich für Lister?“
„Ja, wer sagt Ihnen denn das?“ wunderte sich Lady Agatha gespielt.
„Sie haben immerhin vor dem Leichenschauhaus gewartet, daraus lassen sich Schlüsse ziehen. Übrigens mit einer Falle hatte ich von vornherein gerechnet, aber das nur am Rande.“
„Sind Sie wenigstens auf Ihre Kosten gekommen?“
„Nein!“ Die Stimme klang böse, nicht mehr verbindlich und höflich.
„Kunststück“, meinte Lady Agatha leichthin, „wir ebenfalls nicht. Mr. Lister scheint selbst nach seinem Tod noch seine Geheimnisse zu wahren.“
„Wie sind Sie an Lister geraten? Ich will jetzt Ihre Geschichte hören.“
„Das wird mein Butler erledigen“, sagte Lady Simpson ungnädig. „Mit Details beschäftige ich mich nicht. Mich interessiert nur die große Linie.“
„Mylady sind dabei, Materialien für einen geplanten Spionageroman zu sammeln“, erläuterte Josuah Parker gemessen, ganz auf die Skurrilität Lady Simpsons eingehend. „Durch einen Zufall, den man nur als ausgesprochen glücklich bezeichnen kann, stieß Mylady auf Dinge, die Anlaß zur Hoffnung geben, daß diese Suche sich als erfolgreich erweisen wird.“
Die drei Männer tauschten schnelle und leicht verwirrte Blicke aus. Sie waren eindeutig unsicher und wußten offenbar nicht, was sie von diesem seltsamen Duo halten sollten. Sie spürten nämlich, daß die Skurrilität im Grunde echt war.
Parker ließ ihnen jedoch keine Zeit.
Fragen zu stellen. Er begann mit seiner Geschichte, der selbst Lady Agatha mit Freude lauschte. Parker entwickelte nämlich einen Spionageroman, wie sie ihn sich schon immer vorgestellt hatte.
Der Butler war ein faszinierender Erzähler.
Er hatte seine beiden schwarz behandschuhten Hände über den Bambusgriff seines altväterlich gebundenen Regenschirms gelegt und war in der Wahl seiner Worte einmalig. Es gab kaum einen Satz, der normal ausgefallen wäre. Parker liebte die barocken Umschreibungen, die es bisher immer noch geschafft hatten, seine Zuhörer restlos zu verunsichern.
Dabei arbeitete er bereits intensiv an der Rettungsaktion.
Keiner der drei Männer merkte, daß der Butler den Bambusgriff gegen den Schirmstock verdrehte. Damit lud er das Blasrohr auf, das als Schirmstock getarnt war. Im Bambusgriff des Schirms befand sich eine Kohlensäurepatrone, die Munition nach Wahl durch das Blasrohr jagte.
In diesem speziellen Fall hatte der Butler sich für ein fast schon bösartig zu nennendes Reizpulver entschieden. Die drei Gegner mußten schlagartig außer Gefecht gesetzt werden. Es durfte dabei zu keiner Verzögerung kommen.
An dieser Stelle sollte gesagt werden, daß das revolverartige Magazin im Bambusgriff des Schirms außerdem noch zwei stricknadelgroße Giftpfeile und schließlich eine Art Nebelbombe enthielt. Parker hatte seinen Universal-Regenschirm den Anforderungen angepaßt und dementsprechend umgestaltet. Er war ein Mann, der mit der Zeit ging.
Die drei Zuhörer unterbrachen ihn nicht mal, sie hörten schweigend zu, zeigten keine Langeweile und schwiegen selbst dann, als der Butler seinen Bericht abgeschlossen hatte.
Daß dieser Bericht in gewissen Einzelheiten absolut nicht mit den Tatsachen übereinstimmte, war natürlich klar. Der Butler wollte die drei Männer nicht unnötig verwöhnen.
„Nun ja“, sagte der ‚Diplomat‘ schließlich und räusperte sich. „Sie waren also zufällig Zeugen des Unfalls von Lister, waren die ersten Personen an der Unfallstelle und wurden dann Stunden später von zwei Gangstern überfallen. Darauf läuft die Geschichte doch hinaus, oder?“
„So hätte ich sie natürlich auch erzählen können“, antwortete Josuah Parker, „aber dann wären Ihnen mit einiger Sicherheit gewisse Feinheiten entgangen.“
Er war gespannt, ob der „Diplomat“ auf Kathy Porter zu sprechen kam.
Wußte er von ihrer Existenz?
„Und danach hatten Sie den Eindruck, Mylady, es könnte sich um einen Spionagefall handeln?“
„Liegt das nicht auf der Hand?“ fragte Agatha Simpson begeistert zurück. „Die beiden Lümmel, die Mr. Parker und mich überfielen, suchten nach irgendwelchem Material von Mr. Lister, wie sie sich ausdrückten. In diesem Moment wußte ich, daß es sich um Spionage handelt.“
„Als Laie haben Sie aber sehr richtig geschaltet, und vor dem Leichenschauhaus gewartet.“
„Und darauf bin ich jetzt noch stolz“, redete Mylady weiter. „Sie sind doch der Beweis, daß ich richtig vermutet habe. Auch Sie sind doch hinter diesen ‚Materialien‘ her, nicht wahr, sonst wären Sie doch nicht in das gräßliche Leichenschauhaus eingedrungen.“
„Sie reden immerzu von Spionage“, lockte der „Diplomat“ beiläufig. „Was könnte Lister denn ausspioniert haben?“
„Geheimnisse aus seiner Forschungsabteilung“, sagte Lady Agatha nachdrücklich, „ich habe mit Chefinspektor Sounders gesprochen, den Sie ja wohl in diesem Leichenschauhaus gesehen haben werden.“
Lady Simpson deutete auf die wenigen persönlichen Habseligkeiten des Toten, die die Männer an sich gebracht hatten. Sie lagen auf dem Schreibtisch. Da waren Listers Brieftasche, die Taschenuhr, der Schlüsselbund, die Ledermappe mit den Kreditkarten. Das kleine Päckchen mit der Brosche war vorhanden und schließlich auch einige Banknoten und Münzen.
„Haben Sie einen speziellen Verdacht?“ erkundigte sich der „Diplomat“ lächelnd und ein wenig herablassend-spöttisch. Er wollte die alte Dame weiter herausfordern.
„Selbstverständlich!“ Sie schien in die Falle zu gehen, freudig und todesbereit. „Meiner Ansicht nach handelt es sich um Mikrofilme, die Mr. Lister hierher nach London zu seinem Geldgeber bringen wollte. So werde ich es wenigstens in meinem Spionageroman schreiben.“
„Nicht schlecht, Mylady.“ Der „Diplomat“ nickte. „Und wo können diese Mikrofilme versteckt sein?“
„Das wissen Sie nicht?“ Lady Simpson lachte spöttisch, wirkte dabei eifrig und naiv. „Sehen Sie sich doch mal die Taschenuhr an, das klassische Versteck für so etwas! Öffnen Sie den Zwischendeckel, dann werden Sie Augen machen!“
Und was für Augen die drei Männer machten!
Wie auf ein geheimes Kommando hin sahen sie auf den Schreibtisch und vergaßen vielleicht für eine Sekunde Lady Simpson und Butler Parker. Diese eine Sekunde reichte dem Butler, um das Reizpulver aus dem Lauf des Blasrohrs zu schießen.
Das Ergebnis war frappierend.
Die drei Männer sahen sofort im wahrsten Sinn des Wortes rot, husteten sich die Seele aus dem Leib und waren ab sofort nicht mehr ansprechbar.
Der „Diplomat“ wollte wahrscheinlich noch seine Schußwaffe ziehen, doch ein bellendes Husten lenkte ihn ab und machte ihn gebrauchsunfähig. Der Mann riß die Hände hoch, rieb sich die höllisch brennenden Augen und tastete wie ein Blinder durch die Gegend.
Dabei geriet er an seinen Chauffeur der sich angegriffen fühlte. Da dieser Mann aber nichts Genaues sah und sich wehrte, drosch er auf seinen Chef ein, der sofort Wirkung zeigte und niederkniete.
Der dritte Mann lag bereits flach über einem Beistelltisch, den er übersehen hatte, ruderte wie ein Trockenschwimmer mit Armen und Beinen herum und fiel in den Chor der Huster ein.
Parker hatte Lady Simpson ein Taschentuch gereicht, das er aus der Innentasche seines schwarzen Zweireihers hervorgeholt hatte. Es war speziell präpariert und absorbierte die Reizstoffe, sofern man dieses Tuch fest gegen das Gesicht preßte und Augen, Nase und Mund schützte. Er hatte sich mit einem zweiten Spezialtuch versorgt und sah dem fröhlichen Leben und Treiben der drei Männer gelassen zu.
Sie wanden sich bereits auf dem Teppich und merkten nicht, wie der Butler aufstand und dafür sorgte, daß sie endlich zur Ruhe kamen. Er benutzte den bleigefüllten oberen Teil des Bambusgriffs und legte ihn nacheinander auf die Hinterköpfe der drei Männer.
„Ich hoffe, Mylady waren mit meiner bescheidenen Wenigkeit zufrieden“, sagte er dann, sich an Lady Simpson wendend.
„Es geht“, mäkelte sie ein wenig. „Sie hätten vielleicht ein wenig fester zuschlagen können. Ich kann Ihre Rücksicht einfach nicht verstehen. Geben Sie mir mal den Schirm, Mr. Parker! Versäumtes läßt sich nachholen.“
„Mylady sollten vielleicht ein wenig Menschlichkeit üben“, bat Josuah Parker. „Ich darf zudem darauf verweisen, daß der anschließende Katzenjammer der Betroffenen recht erheblich sein wird.“
„Ich verlasse mich auf Sie“, lenkte Lady Simpson ein. „Rufen Sie jetzt endlich Chefinspektor Sounders an, Mr. Parker! Wir haben noch sehr viel zu tun. Ich hoffe, daß Sie Kathy nicht vergessen haben!“
*
Sie durfte sich endlich aufrichten und sah ihn böse an.
Er hatte Kathys Hände mit der Kordel des Rollos gefesselt, und sie hatte sofort gemerkt, daß er sich darin auskannte. Eine Möglichkeit der Selbstbefreiung war ausgeschlossen.
„Jetzt fühle ich mich schon bedeutend wohler“, sagte der Mann und schaute auf sie hinunter. „Wildkatzen Ihrer Größe legt man besser an die Leine.“
„Was haben Sie mit mir vor? Wer sind Sie eigentlich?“
„Zuerst mal zu Ihnen, Miß“, meinte er ironisch. „Erzählen Sie mir eine hübsche Geschichte, ja? Wir haben viel Zeit!“
„Warum liefern Sie mich nicht gleich an Ihre Nachbarn aus? Worauf warten Sie noch?“
„Nehmen Sie doch nicht so übel!“ Seine Ironie war unverkennbar. „Man muß auch mal verlieren können.“
Kathy Porter wußte nicht, was sie tun sollte.
Trotz ihrer Wut war der Mann ihr nicht unsympathisch, von ihm ging eine ruhige Gelassenheit und Überlegenheit aus. Ein Gangster konnte er kaum sein. Er war einfach nicht der Typ, der zur Unterwelt gehörte. Doch darin konnte man sich natürlich gründlich täuschen. Sie hatte das schon häufig erlebt.
„Kennen Sie Ihre drei Nachbarn?“ fragte sie.
„Natürlich. Angenehme Leute.“ Er nickte.
„Sie haben mich zu verrückten Aufnahmen zwingen wollen, darum bin ich geflüchtet.“
„Und wie sind Sie an die Adresse gekommen, Miß?“
„Durch eine Zeitungsannonce“, schwindelte Kathy. „Dieser Cranford suchte Fotomodelle. Ich meldete mich, und er lud mich zu einer Besprechung ein. Was ich dann erlebte, spottet jeder Beschreibung. Sie fielen wie die Tiere über mich her.“
„Sie haben doch gewiß eine Adresse, Miß. Könnte ich die mal erfahren? Irgendwelche Ausweise haben Sie ja leider nicht bei sich. Oder erfreulicherweise, ganz wie man will.“
Er sah sie gelassen an und schmunzelte dann ein wenig. Kathy preßte wütend die Lippen zusammen. Sie hatte keine Möglichkeit, ihre Blöße zu verbergen.
„Ich bin Sekretärin“, erwiderte sie, sich halb abwendend, um seinen kühlen, grauen Augen zu entgehen, in denen unentwegt die Ironie schimmerte. „Ich wollte etwas erleben, verstehen Sie? Mein augenblicklicher Job ist mir einfach zu langweilig.“
„Und für wen arbeiten Sie?“
„Für Lady Agatha Simpson, doch der Name wird Ihnen nichts sagen.“
Er drehte sich um und ging aus dem Zimmer. Vielleicht wollte er anrufen, vielleicht wollte er auch nur diesen verrückten Cranford verständigen. Sie wußte es nicht. Kathy zerrte wie rasend an der dünnen Kordel, die ihre Handgelenke zusammenhielt, stand auf und suchte nach irgendeinem scharfen Gegenstand, um diese Fessel zu durchtrennen.
Er kam bereits wieder zurück und hielt zwei Drinkgläser in Händen.
„Trinken wir auf Lady Agatha“, sagte er. „Oh, warten Sie, ich muß ja erst noch Ihre Hände aufbinden.“
„Sie … Sie kennen Lady Agatha?“ Kathy schluckte vor innerer Aufregung.
„Flüchtig“, gab er zurück. „Sie sind Kathy Porter, nicht wahr? Und Mr. Josuah Parker dürfte Ihr Lehrmeister sein.“
Sie hatte die Hände bereits frei und starrte ihn verblüfft an. Er reichte ihr das zweite Glas und prostete ihr zu.
„Gießen Sie mir den Whisky nicht gleich ins Gesicht, und verzichten Sie auf alle Tricks“, bat er lächelnd. „Wär’ doch schade um den guten Stoff. Auf unsere Begegnung, Kathy!“
„Wer, zum Teufel, sind Sie eigentlich?“
„Wollen Sie es ganz genau wissen?“
„Natürlich“, gab sie zurück, nachdem sie einen kräftigen Schluck aus dem Glas genommen hatte.
„Dann will ich Sie nicht enttäuschen“, sagte der Mann und nahm sie wie selbstverständlich in seine Arme. Sein Kuß war fordernd, aber nicht brutal. Seine Lippen schmeckten nach Tabak und Whisky, eine Mischung, die Kathy eigentlich schon immer geschätzt hatte.
„Puhhh!“ Sie machte sich von ihm frei und schnappte nach Luft. Sie trat einen halben Schritt zurück und nahm noch einen Schluck.
„Wissen Sie schon mehr?“ fragte der Mann.
„Ein wenig“, gestand sie, „aber die Auskunft ist wohl noch nicht vollständig.“
„So etwas braucht seine Zeit.“ Er hatte sie wieder im Arm und küßte sie.
„Neiiin“, keuchte sie, als er sie endlich freigab. „Mylady macht sich bestimmt Sorgen.“
„Rufen wir sie doch an“, schlug er vor.
„Haben Sie nicht einen Bademantel oder sonstwas?“ fragte sie. „Diesen Fetzen dort möchte ich nicht wieder anziehen.“
„Wozu das?“ fragte er lächelnd. „Sie haben doch nichts zu verbergen, Kathy, wirklich nicht.“
Er warf das leergetrunkene Glas in einen kleinen Sessel und schloß sie in seine Arme.
„Der Anruf“, stöhnte Kathy, die sich in seinen Armen erstaunlich wohl fühlte.
„Nur nichts überstürzen“, sagte er leise und trug sie zum Bett hinüber. „Wir müssen doch erst mal gründlich überlegen, was wir Lady Agatha sagen wollen.“
Kathy war einverstanden, zusammen mit ihm zu überlegen, gründlich und eingehend. Solch ein Telefonanruf durfte nicht auf die leichte Schulter genommen werden.
*
„Du lieber Himmel, Kind, wie sehen denn Sie aus?“
Lady Agatha Simpson breitete weit ihre Arme aus und umfing die heimkehrende verlorene Tochter, sprich Kathy Porter. Parker, der sich im Hintergrund hielt, maß Kathys Begleiter mit einem höflichen, aber sehr wachsamen Blick.
„Darf ich vorstellen, Mylady, Mr. McDonald“, sagte Kathy, nachdem sie dem gewaltigen Busen der Lady entronnen war. Sie deutete auf ihren Begleiter, der graue Flanellhosen, ein am Hals offenes Hemd und ein Sportjackett trug. McDonald machte einen sehr lässigen Eindruck.
Kathy hingegen trug einen viel zu weiten Bademantel und Pantoffeln, die wohl an die Füße ihres Begleiters gehörten. Dennoch sah Kathy frisch, rosig und zufrieden aus. Sie hatte nach ihrer ausgiebigen Privatunterhaltung mit ihrem Gastgeber eine belebende Dusche genommen und sah dem neuen Tag mit großer Freude entgegen.
„Michael McDonald, genannt Mike McDonald“, stellte der Mann sich selbst noch mal vor. „Im Dienste Ihrer Majestät, Mylady!“
„Mike, ah, ich meine, Mr. McDonald war so freundlich, mir aus einer bösen Sache herauszuhelfen“, erklärte Kathy und wich dem prüfenden Blick des Butlers aus. Sie fühlte sich wie vor einem Röntgenschirm. Parker schien wieder mal alles zu wissen.
„McDonald, McDonald, ich habe Ihren Namen schon gehört“, versuchte Lady Simpson sich zu erinnern.
„Ich hatte die Ehre, Mylady vor knapp einem Jahr mal vorgestellt zu werden“, sagte der sportliche Mann, der ein wenig an den James-Bond-Filmdarsteller erinnerte.
„Herzlich willkommen“, lud Lady Simpson ihn ein. „Sie müssen mir die ganze Geschichte erzählen. Vielleicht kann ich sie für meinen Spionageroman brauchen.“
„Bestimmt, Mylady“, sagte Kathy schnell, um sich dann an McDonald zu wenden. „Entschuldigen Sie mich, ich muß mir etwas anziehen.“
„Hat das gute Kind sehr gelitten?“ erkundigte sich Lady Simpson, als sie ihren Gast in den Salon führte.
„Vielleicht anfänglich, Mylady, später dann wohl kaum noch“, gab Mike McDonald trocken zurück. „Ich konnte mich rechtzeitig einschalten. Sie alle ahnten wohl nicht, wie tödlich diese Affäre ist.“
Er sah zuerst auf Mylady, dann zu Parker hinüber und nickte langsam.
„Es handelt sich also tatsächlich um Spionage“, stellte Lady Simpson zufrieden fest.
„Das kann und will ich nicht abstreiten“, lautete McDonalds Antwort. „Ich muß Sie nur im Namen meiner Dienststelle bitten, diese Dinge als top-secret zu behandeln. Hier stehen nationale Interessen auf dem Spiel.“
„Elizabeth kann sich auf mich verlassen“, murmelte Lady Simpson.
„Wer, Mylady?“ McDonald war ein wenig irritiert.
„Elizabeth“, wiederholte Lady Simpson, „die Königin natürlich. Wir kennen uns recht gut.“
„Richtig, Mylady.“ McDonald hüstelte leicht. „Miß Porter wurde von zwei Killern entführt, die zusammen mit einem gewissen Eric Cranford hinter Lister her waren.“
„Und wo wurde sie festgehalten, wenn ich mir diese Frage erlauben darf?“ erkundigte sich Josuah Parker mit neutraler Stimme.
„In einem Fotoatelier, das ich seit einigem Monaten beschatte“, antwortete der Agent. „Cranford und seine beiden Killer sind uns als die Spitze eines Eisbergs bekannt. Sie verstehen, was ich meine?“
„Eines Agentenrings also!“ Mylady hatte verstanden und nickte, bevor Parker etwas sagen konnte. „Das paßt genau in meinen Kriminalroman.“
„Sicher, Mylady.“ Parker verbeugte sich andeutungsweise in Richtung Agatha Simpson, um sich dann wieder dem männlichen Gast zuzuwenden.
„Diese drei Agenten sind beziehungsweise waren hinter Mr. Lister her?“
„Er belieferte sie sogar bereits mit Informationen“, antwortete McDonald. „Lister wird von uns schon seit Monaten beschattet, er hatte sich dem Sicherheitsdienst der Forschungsgruppe verdächtig gemacht. Daraufhin wurden wir eingeschaltet.“
„Ich verstehe.“ Mylady wirkte sehr angeregt. „Sie wollen über diese drei ausgemachten Lümmel an den wirklichen Auftraggeber herankommen, nicht wahr?“
„Präzise, Mylady. Diese drei Agenten sind nicht besonders wichtig, uns geht es um ihren Hintermann.“
„Darf man fragen, ob Ihre Dienststelle sich nur mit dieser Agentengruppe befaßt?“ schaltete Parker sich ein. „Könnte Lister nicht auch noch mit anderen Gruppen Kontakt aufgenommen haben?“
„Dann wüßten wir davon“, sagte McDonald, der aber prompt ein wenig unsicher wurde. „Haben Sie andere und frischere Informationen?“
„Setzen Sie sich mit Chefinspektor Sounders in Verbindung“, bat der Butler. „Mylady waren vor ein paar Stunden so frei, eine zweite Agentengruppe außer Gefecht zu setzen, die sich als Hongkonger Im- und Exportfirma getarnt hatte.“
„Donnerwetter!“ Mike McDonald schluckte leicht und griff sofort nach dem Telefonhörer. „Und was ist mit dem Material?“
„Könnten Sie sich möglicherweise etwas deutlicher ausdrücken, Sir?“
„Hören Sie“, sagte der Topagent und legte den Hörer wieder auf, „bisher hatte Lister nur sogenanntes Spielmaterial zur Verfügung gehabt. Unwichtige Dinge, die der Gegenseite mehr oder weniger bekannt sind. Aber in der vergangenen Nacht räumte er gründlich auf. Er fotografierte streng geheime Konstruktionszeichnungen und Ideenentwürfe. Er muß alles auf eine Karte gesetzt haben und wollte danach wohl auch das Land verlassen. Er sprengte den Tresor auf und raffte alles an sich, was er an Unterlagen fand.“
„Keine Mikrofilme?“ Lady Simpson wirkte sehr enttäuscht.
„Diesmal nahm er sich gar nicht erst die Zeit dazu. Er schien gemerkt zu haben, daß er unter Beobachtung stand, und wollte seine Zelte hier in unserem Land wohl abbrechen.“
„Auf welche Größe könnte er die Unterlagen zusammengepackt haben?“ wollte Parker wissen.
„Eine Kollegmappe muß damit zumindest gefüllt sein, Mr. Parker. Und diesmal geht’s um die Wurst. Entschuldigen Sie diesen Ausdruck, Mylady, aber wenn diese Unterlagen in falsche Hände geraten, wirft das unsere Landesverteidigung um wahrscheinlich Jahre zurück.“
„Herrliche Aussichten“, stellte Lady Agatha vorwurfsvoll fest. „Aber noch ist nicht alles verloren, was meinen Sie, Mr. Parker?“
„Keineswegs, Mylady.“ Parker blieb Herr der Situation. „Man darf wohl davon ausgehen, daß beide Agentengruppen nicht im Besitz der Unterlagen sind, sonst wäre es nicht zu dem Überfall auf das Leichenschauhaus gekommen, sonst hätte man Miß Porter nicht entführt.“
„Sie dürfen also hoffen, Mr. McDonald“, rief Lady Simpson dem Topagenten leutselig und leicht ironisch zu. „Vertrauen Sie nur mir und Mr. Parker! Wir werden dem Geheimdienst meiner Freundin Elizabeth schon die Unterlagen herbeischaffen.“
„Wenn Sie etwas wissen, was für meine Dienststelle …“
„Papperlapapp“, unterbrach die ältere Dame ihn energisch. „Kommen Sie mir nur ja nicht mit Drohungen, junger Mann!“
„Aber ich höre doch heraus, daß Sie eine heiße Spur kennen!“
„Konnte ich tatsächlich derart mißverstanden werden, Mr. Parker?“ Sie drehte sich zu ihrem Butler um und sah ihn empört an.
„Keineswegs, Mylady“, erklärte Parker, auf ihre Tonart eingehend. „Wenn ich mir einen Vorschlag erlauben darf, sollte sich Mr. McDonald nun mit dem Chefinspektor in Verbindung setzen. Die Aussagen der drei von Mylady festgesetzten Herren sind womöglich aufschlußreich.“
„Nun ja, ich allein habe sie schließlich nicht festgenommen“, räumte die Detektivin gnädig ein. „Mr. Parker war schon durchaus ein wenig daran beteiligt, aber man sollte seine Hilfe auch nicht überschätzen, finde ich.“
*
„Er ist schon gegangen?“
Kathy Porter kam zurück in den Salon und machte einen enttäuschten Eindruck.
„Er kommt ja wieder“, beruhigte Lady Simpson ihre reizende, langbeinige Sekretärin. „Konnten Sie nicht wenigstens anrufen, damit wir Bescheid wußten? Wir haben uns sehr um Sie gesorgt.“
Kathy errötete sanft.
„Schon gut“, meinte Lady Simpson, „er sieht tatsächlich hervorragend aus, sehr männlich. Wäre ich nur ein paar Jahre jünger, müßten Sie mich als ernsthafte Konkurrentin betrachten, Kindchen!“
Kathy lächelte bereits wieder. Die beiden Frauen hatten sich verstanden. Während Parker Kathy zehn Minuten später ein ausgiebiges Frühstück servierte, mußte Kathy jede Einzelheit erzählen, wobei sie sich allerdings auf die Erlebnisse mit Jack, Herbert und dem genialen Künstler Cranford beschränkte.
„Diese Monster!“ Lady Simpson war böse, wirkte allerdings ein wenig animiert. „Sollten wir diesem Atelier nicht einen Besuch abstatten, Mr. Parker?“
„Ich weiß nicht, Mylady, ob sich solch eine Situation in einem Spionageroman gut machen würde.“
„Sie haben selbstverständlich recht“, korrigierte sich die resolute Dame. „Diese Sadisten werden inzwischen längst das Quartier geräumt haben. Wie konnte ich das nur übersehen! Aber wie jagen wir dem Geheimdienst nun die Beute ab, Mr. Parker? Ich erwarte brauchbare Vorschläge.“
„Wenn Mylady erlauben, werde ich die beiden Damen in wenigen Minuten verlassen und mich um die Zeitungsannonce kümmern.“
„Ich komme selbstverständlich mit, Mr. Parker.“
„Ich möchte mir nicht erlauben, Mylady unnötig zu widersprechen“, antwortete der Butler gemessen, „aber vielleicht sollten Mylady daran denken, daß Miß Porter des Schutzes bedarf. Mit der Rückkehr der drei Agenten Jack, Herbert und Cranford, wie die Namen wohl waren, ist jederzeit zu rechnen.“
„Sie sollen nur kommen“, gab Lady Agatha grimmig zurück. „Gut, Mr. Parker, Sie sind entlassen bis gegen Mittag. Kommen Sie mir ja nicht ohne Ergebnis zurück!“
„Mylady werden hoffentlich zufrieden sein.“
Parker atmete innerlich auf, daß Agatha Simpson den Köder angenommen hatte. Er wollte nämlich allein bleiben, um desto nachdrücklicher agieren zu können. Es ging ihm darum, der strengen Gouvernante einen Besuch abzustatten, dabei hätte eine Frau wahrscheinlich nur gestört.
Bevor er sich ans Steuer seines hochbeinigen Wagens setzte, traf er seine Vorbereitungen. Er rechnete mit Überraschungen und wollte ihnen begegnen können. Eine strenge Gouvernante hatte sich auf der Liste interessanter Personen bisher noch nicht eingeschrieben.
Dank Hubert Falsom war die Anschrift dieser Gouvernante schnell gefunden. Der Redakteur ließ seine Beziehungen zur Annoncenabteilung seiner Zeitung nur kurz spielen. Es dauerte knapp zwanzig Minuten, bis er dem Butler Namen und Anschrift der Dame mitteilen konnte.
„Hängt das alles immer noch mit meinem Hauptaufmacher zusammen?“ erkundigte er sich dann.
„Gewisse Dinge nähern sich einem Abschluß“, erklärte der Butler ausweichend. „Ich glaube schon jetzt sagen zu können, daß Sie ungemein zufrieden sein werden.“
„Dann viel Spaß“, stichelte Falsom. „Hoffentlich ahnen Sie wenigstens, was Sie bei solch einer Gouvernante erwartet.“
„Ich lasse mich gern überraschen, Mr. Falsom“, sagte Parker. „Sollte es sich als notwendig erweisen, werde ich ebenfalls recht streng sein.“
„Passen Sie bei dieser Dame auf“, warnte der Redakteur. „Sie arbeiten meist mit einem persönlichen Beschützer zusammen, der sich aber, im Hintergrund hält.“
„Ein nützlicher Hinweis“, bedankte sich der Butler, lüftete seine schwarze Melone und verließ gemessen die Redaktionsräume der Zeitung. Er konnte den Wagen in der Tiefgarage der Zeitung zurücklassen, denn bis zur angegebenen Adresse war es nicht sonderlich weit. Parker lustwandelte also durch ein paar Straßen, um bei dieser Gelegenheit festzustellen, ob er vielleicht beschattet wurde.
Er konnte sich vorstellen, daß ein gewisser Mike McDonald sich für ihn interessierte. Der Agent Ihrer Majestät mußte gemerkt haben, daß Parker über Informationen verfügte, die er nicht restlos auf den Tisch gelegt hatte. McDonald war es zuzutrauen, daß er einen seiner Mitarbeiter auf den Butler angesetzt hatte.
Was sich als richtig erwies, wie Josuah Parker schon bald feststellte.
Ein junger und drahtig aussehender Mann hatte sich an seine Fersen geheftet, tat sehr unbeteiligt und war nicht ungeschickt. Die Grundkurse im Beschatten von Personen schien er mit guten Noten hinter sich gebracht zu haben. Er schloß nie zu dicht auf und sorgte dafür, daß stets einige Passanten zwischen ihm und Parker blieben, wechselte häufig die Straßenseite und sogar diskret seine äußere Erscheinung. Nach einer gewissen Zeit trug er eine legere Country-Style-Mütze und ein buntgemustertes Halstuch.
Parker war nicht daran gelegen, daß dieser junge Mann hinter ihm blieb. McDonald brauchte in diesem Stadium noch nicht zu wissen, mit wem Josuah Parker Kontakt suchte. Dazu war später immer noch Zeit.
Um den jungen Mann also abzuhängen, ließ der Butler sich etwas einfallen.
Er betrat ein großes Warenhaus und wartete, bis sein Verfolger dicht genug aufgeschlossen hatte. Der Butler ging zu den großen Fahrstühlen hinüber und paßte seine Schritte so ab, daß er und sein Beschatter gerade noch in einen fast überfüllten Aufzug hineinkamen. Seine Melone höflich lüftend, schob der Butler sich durch eine Gruppe von einkaufwütigen Hausfrauen und richtete es so ein, daß der junge Mann anschließend scheinbar absichtslos von den Damen eingekeilt wurde.
Das Spiel konnte beginnen.
Als der Aufzug sich nach oben in Bewegung setzte, hielt der Butler bereits eine kleine Markiernadel in seinen schwarz behandschuhten Händen, die er dann nach wenigen Sekunden einer der Damen ziemlich nachdrücklich ins Gesäß drückte.
Die betroffene Dame quiekte wie ein erschrecktes Schweinchen und schaute sich wütend um.
„Was sind denn das für lose Sitten?“ herrschte der Butler den völlig unbeteiligten und echt verdutzten Mann an. „Wie können Sie es wagen, diese Dame so unziemlich zu belästigen?“
„Wie bitte?“ Der Verfolger wußte überhaupt nicht, was der Butler meinte, wurde dann aber durch eine schallende Ohrfeige abgelenkt, die die Hausfrau ihm nachdrücklich verpaßte.
„Unerhörte Frechheit“, gab Parker lautstark von sich.
Der junge Mann wollte protestieren und nachfragen, was er denn angeblich verbrochen hatte, doch die Frau legte ihm bereits ihre Handtasche flach aufs Gesicht und trat ihm gegen das linke Schienbein. Die übrigen Damen fühlten sich zum gemeinsamen Kampf aufgerufen und keilten den schnaufenden jungen Mann ein.
Der Fahrstuhlführer versuchte zu vermitteln, wurde aber lautstark überstimmt. Zudem kassierte er einen derben Magenhaken, der ihm dann die Lust zu weiteren Vermittlungsversuchen nahm. Als der Fahrstuhl hielt, begab sich der Butler hinaus und achtete nicht weiter auf seinen Verfolger. Er wußte, daß der junge Mann bestimmt keine Zeit mehr hatte, sich an seine Fersen zu heften. Er wurde von den aufgebrachten Damen nachdrücklich erzogen …
*
Das Apartmenthaus machte einen seriösen Eindruck.
Parker betrat die Eingangshalle und suchte nach dem Namen der Gouvernante, die Mary Delonge hieß.
Sie wohnte in der dritten Etage des großen Hauses.
Parker fuhr mit dem Lift hinauf, ging ein Stück den Korridor hinunter und blieb dann vor der Tür stehen, die das Namensschild der Erzieherin trug.
Er läutete diskret.
Es dauerte eine Weile, bis im Türspion ein Auge zu erkennen war. Mary Delonge schätzte wahrscheinlich ihren neuen Schüler ein. Dann wurde ein Riegel zur Seite geschoben, eine Türkette rasselte, und schließlich sah sich Parker der Gouvernante gegenüber.
Sie war etwa dreißig Jahre alt, groß, vollschlank und wirkte ausgesprochen herrisch. Ihr gekonntes Make-up betonte besonders die dunklen Augen und die sinnlich aufgeworfenen Lippen. Das schwarze Haar der strengen Dame war straff zurückgekämmt, die Wangenknochen betont. Mary Delonge trug einen weitfallenden Hausmantel, der am Hals züchtig geschlossen war. In Höhe der Oberschenkel klaffte dieses Gewand ein wenig auf und zeigte knielange, schwarze Stiefel aus weichem Leder.
„Darf ich mir erlauben, Ihnen meine Verehrung zu Füßen zu legen?“ fragte Parker und schwenkte seine schwarze Melone. „Ich schätze mich glücklich, Ihre Bekanntschaft machen zu dürfen.“
„Wer sind Sie?“ fragte sie streng.
„Ein Hoffender“, stellte Parker sich vor.
„Wer hat Sie zu mir geschickt?“ An seinem wirklichen Namen schien sie nicht interessiert zu sein.
„Eine lange und vielleicht auch recht komplizierte Geschichte“, erklärte der Butler gemessen. „Darf ich ein wenig näher treten, gestrenge Herrin? Ich möchte nicht unbedingt gesehen und erkannt werden, denn meine Stellung als Butler einer angesehenen Familie verbietet es mir …“
„Herein mit Ihnen!“ Sie ließ ihn nicht ausreden, denn sie wußte mit ihm eindeutig nichts anzufangen. Ihre Stimme war knapp und auch ein wenig ärgerlich.
„Nur zu gern, Madam“, freute sich Parker und betrat das Apartment. Hinter einem völlig normal und regulär eingerichteten Vorraum betrat er den eigentlichen Erziehungsraum, der recht ungewöhnlich eingerichtet war.
Schwarze Seide ersetzte die Tapeten. Sie tarnte wahrscheinlich schallschluckende Wandelemente und lenkte gleichzeitig den Blick auf das riesige Lotterbett, das mit weißen Fellen bedeckt war. In zwei beleuchteten Glasvitrinen entdeckte der Butler höchst ungewöhnliche Ausstellungsstücke: Lederpeitschen aller Art, Halsbänder, Lederriemen und sogar Sattelzeug.
„Sie sehen mich etwas verlegen, Madam“, gestand Butler Parker höflich.
„Das werde ich Ihnen schon noch austreiben“, behauptete sie. „Also, wer hat sie geschickt?“
Mary Delonge hatte sich breitbeinig vor ihm aufgebaut und sah ihn spöttisch und überlegen an. Wie durch Zauberei hielt sie eine Reitgerte in der rechten Hand, mit der sie ungeduldig gegen ihre Stiefel schlug.
„Sagt Ihnen der Name Sir Henry etwas?“ fragte Parker, einen Dutzendnamen verwendend. Er hoffte, damit einen Treffer zu erzielen.
„Ach der!“ Parkers Rechnung ging auf. Sie lächelte mokant. Einen Sir Henry hatte sie also mit Sicherheit bereits in ihrer Sammlung.
„Ich hoffe, Madam, Sie haben ein wenig Zeit für mich“, sagte der Butler gemessen.
„Ohne Voranmeldung? Sie sind wohl restlos verrückt, wie? Wie stellen Sie sich das vor?“
„Das überlasse ich vollkommen Ihnen. Ich beuge mich Ihren Entschlüssen und Befehlen, mögen sie auch noch so streng ausfallen.“
„Auf die Knie, Sklave!“ kommandierte sie ohne Überzeugung, womit Parker jedoch überhaupt nicht einverstanden war.
„Wenn Madam vielleicht noch einen Moment warten wollen“, antwortete er höflich. „Könnte man vorher nicht noch gewisse Dinge regeln?“
„Über Geld rede ich nicht mit Ihnen. Ich werde Ihnen später meinen Preis nennen. Haben Sie mich verstanden?“
„Ich dachte weniger an Geld“, korrigierte Parker die strenge Erzieherin. „Ich dachte eigentlich mehr an Mr. Burt Lister!“
Der Name Lister war für die gestrenge Dame ein Reizwort.
Sie starrte den Butler völlig entgeistert an, schnappte nach Luft und suchte gleichzeitig nach Worten.
„Lister?“ wiederholte sie schließlich.
„Der Mann, der in der vergangenen Nacht tödlich verunglückte“, bestätigte Parker. „Aber das werden Sie ja wohl schon den Zeitungen und dem Rundfunk entnommen haben.“
„Wer sind Sie?“
„Ein Butler“, antwortete Parker wahrheitsgemäß, „und ich bin gekommen, um Dinge abzuholen, die Mr. Laster hier bei Ihnen abgestellt hat. Ich denke, daß Sie danach mit dieser ganzen Sache nichts mehr zu tun haben werden.“
Sie überlegte einen kurzen Moment.
„Warten Sie“, sagte sie dann, „ich werde den Koffer holen. Ich bin sofort wieder zurück.“
Parker ließ sie gehen. Er wollte ihr die Chance geben, gewisse Vorbereitungen zu treffen. Sie kam schon nach knapp einer Minute wieder zurück, trug einen kleinen Koffer in der Hand und legte ihn auf das Fußende des Bettes.
„Hoffentlich haben Sie sich nicht geschnitten“, sagte sie. „Viel ist es nicht.“
Parker nickte, beugte sich über den Koffer und beschäftigte sich mit den beiden Schlössern. Er machte dabei einen völlig ahnungslosen Eindruck, kümmerte sich in Wirklichkeit aber überhaupt nicht um den Koffer, sondern beobachtete die Seidenbespannung rechts an der Wand.
Ohne daß die strenge Gouvernante etwas merkte, blieb seine linke Hand auf dem Schaft seines Universal-Regenschirms. Sein Zeigefinger löste einen Schuß …
Das Zischen der sich schlagartig öffnenden Kohlensäurepatrone war kaum zu hören. Der stricknadelgroße Blasrohrpfeil blieb so gut wie unsichtbar, als er durch die Luft hinüber zur Seidenbespannung der Wand jagte.
Dafür war das Opfer dieses Blasrohrpfeils aber gut zu hören!
Eine Männerstimme jaulte unterdrückt auf, dann geriet die Bespannung in heftige Bewegeung, beulte sich aus, zerriß und teilte sich schließlich.
Ein etwa dreißigjähriger Mann, untersetzt, stämmig, etwas zu auffallend gekleidet, taumelte ins Zimmer und starrte entgeistert auf den Blasrohrpfeil, der in seinem linken Oberschenkel steckte.
Das Lähmungsgift – im Endeffekt nicht gesundheitsschädlich – tat bereits seine Wirkung.
Der Mann wurde von einem jähen Schlafbedürfnis erfaßt, lallte einige leider unverständliche Worte und machte es sich dann auf der Felldecke der Lagerstatt bequem.
Die strenge Gouvernante brauchte einige Zeit, bis ihr das sprichwörtliche Licht aufging.
Dann allerdings wurde sie jähzornig und wollte den Butler mit ihrer Reitpeitsche attackieren. Ihr Gesicht war wutverzerrt, als sie die Gerte hochriß.
Parker hob warnend den Zeigefinger.
„Tun Sie es besser nicht, meine Dame“, sagte er höflich. „Ich sehe mich sonst gezwungen, ein wenig das zu tun, was man aus der Rolle fallen nennt.“
Sie pfiff auf seine Warnung. Natürlich nicht laut, sondern mehr innerlich. Sie schlug auf den Butler ein, der die Schläge allerdings leicht mit seinem Regenschirm abblockte. Daß die Frau nicht in besonders guter Form war, zeigte sich bereits nach einer Minute. Nachdem sie erkannt hatte, daß sie keinen einzigen Schlag angebracht hatte, entschied sie sich für Tränen, warf die Gerte weg und ließ sich am Fußende des Bettes nieder.
Ihr Weinen hörte sich fast echt an …
Sie lagen beide auf dem weichen Teppich, konnten in das Geschehen aber nicht eingreifen.
Um sich gegen unangenehme Überraschungen zu schützen, hatte Parker den Dreißigjährigen hinüber zur Heizung gerollt und die strenge Gouvernante dann gebeten, sich neben ihren Beschützer zu legen. Sie waren nun durch eine Handschelle innig verbunden, wobei Parker darauf geachtet hatte, daß diese Handschelle hinter dem Zuleitungsrohr der Heizung verlief. Um aktiv zu werden, hätte das Pärchen die Zuleitungsrohre aus der Wand herausreißen müssen.
Der Dreißigjährige schlief noch, während die Gouvernante Schimpfwörter produzierte. Es zeigte sich, daß sie sehr ordinär war, denn in der Auswahl ihrer Worte legte sie sich keine Hemmungen auf. Parker blieb allerdings völlig unbeeindruckt. Er nahm sich die Freiheit, die schwarze Seidenbespannung etwas näher unter die Lupe zu nehmen.
Er suchte und fand.
Dort, wo der Dreißigjährige sich versteckt gehalten hatte, befand sich eine ansehnliche Fotoausrüstung. Auf einem Stativ war eine teure Hasselblad montiert, auf einem kleinen Tisch lagen Kleinbildkameras, die auch ihr Geld gekostet hatten. In die Seidenbespannung waren kleine Sicht- oder Gucklöcher eingeschnitten worden. Der Beschützer der Gouvernante hatte also die Möglichkeit gehabt, die jeweiligen Kunden seiner Freundin in allen Posen abzulichten.
Parker suchte und fand ferner in dem Apartment eine volleingerichtete Dunkelkammer mit einem kleinen Fotolabor. Es war nur zu verständlich, daß der Beschützer der Gouvernante seine Filme zum Entwickeln nicht aus den Händen gab. Solche heiklen Bilder durfte nur er selbst bearbeiten.
„Dafür werden Sie noch büßen“, fauchte die Gouvernante ihn an, als Parker sich wieder im Hauptraum sehen ließ. „Ich hetze Ihnen alles auf den Hals, was ich auftreiben kann.“
„Bitte, Madam, wir wollen doch die Formen wahren“, sagte der Butler gemessen. „Sie haben also Mr. Burt Lister erpreßt, wie ich unterstellen darf?“
„Wer sind Sie? ’n Bulle bestimmt nicht, das sieht man Ihnen an. Für wen sind Sie gekommen? Ich weiß schon, ich weiß schon …“
„Wie schön für Sie, Madam.“
„Meine Konkurrenz“, redete die strenge Erzieherin weiter, „aber sagen Sie den Flittchen, daß ich mich rächen werde, die können sich auf was gefaßt machen!“
„Bleiben wir bei Mr. Lister und schweifen wir nicht unnötig vom Thema ab“, antwortete der Butler. „Sie haben Mr. Lister also erpreßt!“
„Erpreßt? Wieso denn?! Der kam doch freiwillig. Dem hat’s nichts ausgemacht, sogar von Bristol hierherzufahren. Freiwillig, um’s noch mal ganz genau zu sagen.“
„Wem machten Sie davon Mitteilung, Madam?“
„Ich … ich verstehe nicht.“ Sie stotterte leicht und senkte die Augen.
„Mr. Eric Cranford machte solche Andeutungen.“ Parker bluffte wieder mal. Er konnte sich gut vorstellen, daß Cranford und diese Frau als verwandte Seelen miteinander in Verbindung standen.
„Bennie und ich haben Eric ein paar Bilder verkauft“, räumte sie prompt ein. „Eric sammelt so was, ist halt sein Tick.“
„Er fragte nach, wer dieser Mr. Lister ist?“
„Nie! Warum sollte er auch. Ihn interessieren doch nicht die Namen, sondern nur die Aufnahmen. Ich hab’ doch gerade gesagt, daß er so was sammelt.“
„Wie kamen Sie mit Mr. Lister in Verbindung?“
„Durch meine Annoncen. Sie erscheinen regelmäßig in den Zeitungen. Völlig regulär. Er meldete sich eines Tages per Telefon, und das ist auch schon meine ganze Geschichte.“
„Er schenkte Ihnen hin und wieder Schmuck?“
„Na und? Er mochte mich, ich war genau seine Kragenweite.“
„Sie wissen, welchen Beruf Mr. Lister ausübte?“
„Ach was, erst seit heute, als ich das von seinem Unfall in der Zeitung las. Da wußte ich auch, warum er von Bristol kam, hier in London konnte er sich so richtig austoben. Nun sagen Sie schon deutlich, wer Sie sind!“
„Ein Butler, deutete ich nicht bereits darauf hin?“ Parker lächelte andeutungsweise. „Eine letzte Frage, Madam, bevor ich mich verabschiede. War Mr. Lister nur der einzige, dessen Bilder Sie an Cranford verkauften?“
„Ist denn das so wichtig?“ Sie wollte nicht mit der Sprache herausrücken, dieses Thema behagte ihr nicht.
„Ihre Antwort entscheidet darüber, ob ich die Polizei verständigen werde oder nicht, falls die Antwort natürlich ehrlich ausfällt, wie ich hinzufügen möchte.“
„Cranford sortierte alle Aufnahmen durch, die Bennie so machte“, gestand sie ehrlich und deutete bei dem Namen ‚Bennie‘ auf den neben ihr an der Heizung liegenden Mann. „Eric hat uns das hier alles eingerichtet und finanziert, ich war früher mal Modell bei ihm.“
„Das erklärt in der Tat gewisse Zusammenhänge.“ Parker nickte leicht.
„Schließen Sie uns jetzt endlich von der verdammten Heizung los“, fauchte sie wütend.
„Da wäre doch noch eine allerletzte Frage“, korrigierte der Butler sich höflich. „Wo erreiche ich die beiden Herren Jack und Herbert?“
„Bei Eric Cranford“, antwortete sie.
„Mitnichten“, bluffte der Butler wieder. „Dort wohnen sie regulär nicht, wie ich weiß!“
„Wollen Sie, daß die mich umbringen?“ jammerte sie und wirkte nicht mehr streng und wütend.
„Natürlich nicht, darum möchte ich sie ja auch schleunigst aus dem Verkehr ziehen, wie man in Ihren Kreisen zu sagen pflegt. Es liegt also durchaus in Ihrem Interesse, wenn ich die Adressen bekomme.“
Mary Delonge rang ein wenig mit sich, ließ sich Parkers Worte durch den Kopf gehen und nannte dann schließlich eine Adresse, die der Butler sich einprägte.
„Nun schließen Sie uns endlich los“, bat sie jetzt. Ihre Stimme klang weich und unglücklich. Sie fauchte nicht mehr, sondern versuchte es mit weiblicher Hilflosigkeit.
„Aber nur zu gern, Madam“, versprach Parker. „Vorerst möchte ich aber noch die von Ihnen genannte Anschrift aufsuchen, was Sie sicher verstehen werden.“
Daraufhin erinnerte sie sich ihres Repertoires an Schimpfworten, traf eine spezielle Auswahl und belegte ihn damit. Parker stellte bei dieser Gelegenheit fest, daß sie sehr variabel war.
„Aber Madam“, tadelte Parker leicht vorwurfsvoll. „Nicht diese Töne! Sie sollten sich Ihrerseits mit einer äußerst strengen Erzieherin in Verbindung setzen und Nachhilfeunterricht in Manieren nehmen!“
Mary Delonge schimpfte noch, als das Apartment verließ und ganz offensichtlich übersah, daß das Telefon leider noch in Reichweite der Gouvernante auf dem Hocker stand. Durfte einem Josuah Parker solch ein Fehler passieren?
*
Es dauerte etwa zwanzig Minuten bis sie auf der Bildfläche erschienen.
Jack und Herbert, die beiden Killer Cranfords, kletterten ziemlich hastig aus dem Ford und betraten das Apartmenthaus. Sie waren tatsächlich von Mary Delonge angerufen worden.
Die Tür zum Apartment der Gouvernante schafften sie in Sekundenschnelle, gingen durch den kleinen Vorkorridor und blieben dann am Eingang zu dem großen Raum stehen.
„Endlich“, seufzte die Gouvernante erleichtert auf. „Nun macht doch schon! Habt ihr eine Eisensäge mitgebracht?“
„Alles vorhanden“, antwortete Jack und präsentierte Mary die Säge, traf aber keine Anstalten, sich an die verlangte Arbeit zu machen. Er sah auf Herbert, der sich die Lippen leckte.
„Du hast den Butler also auf ’ne falsche Fährte gehetzt?“ vergewisserte er sich.
„Selbstverständlich“, sagte sie, „ich bin doch keine Anfängerin.“
„Dann wird er also zurückkommen?“
„Sobald er gemerkt hat, daß ich ihn geleimt habe.“
„Dann wirst du mit der Sägerei noch etwas warten müssen“, entschied Herbert. „Wenn dieser komische Butler zurückkommt, darf er keinen Verdacht schöpfen.“
„Na schön“, seufzte sie, „kann ich verstehen. Aber darf man mal erfahren, was eigentlich los ist?“
„Was hat Parker dir erzählt?“
Sie berichtete von ihrer Unterhaltung mit dem Butler und erwähnte dabei natürlich auch mehrfach den Namen ‚Lister‘, was auch gar nicht zu vermeiden war.
„Hat Eric mit ihm was angestellt?“ fragte sie abschließend und sah den Killer Herbert an.
„Was glaubst du?“ wollte der Killer wissen.
„Nachdem ich weiß, wer Lister ist, könnte ich mir das fast vorstellen“, entgegnete sie nachdenklich. „Dieser Butler deutete das ebenfalls an. Habt ihr Lister die Daumenschrauben angelegt?“
„Nur ganz leicht.“ Herbert grinste.
„Woher wußte denn Eric, wie ergiebig Lister ist?“
„Gewisse Zusammenhänge muß man eben kennen“, sagte Herbert, „Eric macht das fast wissenschaftlich und hat ’n Privatarchiv.“
„Halt’ doch endlich den Mund“, fuhr Killer Jack dazwischen. „Je weniger sie weiß, desto besser.“
„Das hätt’ ich Eric niemals zugetraut“, wunderte sich die Gouvernante und schüttelte den Kopf, „ganz schön clever.“
„Eric … Eric!“ Herbert schien es nicht zu passen, daß Cranford derart gelobt wurde. „Der wird ja auch nur gesteuert.“
„Halt doch endlich den Rand!“ Jack wurde wütend.
„Blas dich nur nicht so auf“, knurrte Herbert zurück. „Was wahr ist, muß wahr bleiben, oder?“
„Von mir erfährt kein Mensch etwas“, versprach Mary Delonge und sah hoffnungsvoll auf ihren Partner Bennie, der sich leicht bewegte. „Endlich kommt er wieder zu sich.“
„Wie ist der Butler eigentlich an deine Adresse gekommen?“ wollte Herbert dann wissen.
„Hat er nicht gesagt“, antwortete Mary, „aber eines steht fest, er scheint nach bestimmten Dingen zu suchen, die Lister gehörten. Ich mußte seinen Koffer bringen. Dort – er steht auf dem Bett.“
„Was ist drin?“ fragte Jack.
„Bademantel, Pyjama, Toilettenartikel. Er blieb ja meist die ganze Nacht und fuhr erst gegen Morgen wieder zurück nach Bristol. Sagt mal, wonach suchte der Butler eigentlich?“
„Filme oder so“, meinte Herbert und zuckte die Achseln. „Halt dich da raus, Mary, ist gesünder für dich!“
„Aber lukrativ für Eric, wie? Wo steckt er? Doch bestimmt nicht mehr im Atelier.“
„Der ist auf Tauchstation gegangen“, sagte Jack, bevor Herbert antworten konnte.
„Der hat noch ’ne private Rechnung zu begleichen“, deutete Herbert dennoch an. „Du kennst ihn ja, wenn er sich beleidigt fühlt, dann ist er einfach nicht mehr zu bremsen.“
„Recht herzlichen Dank für diesen nicht unwichtigen Hinweis“, ließ Parker sich in diesem Augenblick vernehmen. Er stand in der Tür zum großen Raum und hielt im Gegensatz zu seinen sonstigen Gewohnheiten diesmal eine Schußwaffe in der Hand, die aus seinen Beutebeständen stammte.
Jack und Herbert waren bereits herumgewirbelt, ließen ihre Hände dann aber vorsichtig sinken. Sie deuteten damit an, daß es nicht mehr in ihrer Absicht lag, nach ihren Schußwaffen zu greifen.
Mary Delonge war sprachlos, was bei ihr wohl einiges bedeutete.
„Vielen Dank für den Anruf, den Sie für meine bescheidene Person prompt getätigt haben“, sagte Parker zu ihr. „Ich wußte doch, daß Sie das Telefon benutzen würden!“
Mary Delonge hatte sich erholt und griff sehr tief in die Kiste ihrer Schimpfworte.
Parker war beeindruckt, welche Wortschöpfungen sie ihm an den Kopf warf. Einige davon hatte er noch nie in seinem Leben gehört.
*
„Natürlich bin ich froh, daß Mr. Parker dieses Nest ausgehoben hat“, sagte der Agent Ihrer Majestät. „Nur bringt uns das leider nicht weiter!“
„Was wollen Sie denn noch, junger Mann?“ grollte Lady Simpson, in deren Salon die Unterhaltung stattfand.
„Cranford werden Sie nicht mehr erwischen“, schaltete sich Chefinspektor Sounders ein. „Der weiß längst, was die Glocke geschlagen hat, und wird nicht mehr in London sein.“
Butler Parker, der Erfrischungen servierte, war erheblich anderer Meinung, sagte zu diesem Thema jedoch nichts. Detektiv-Sergeant Morrison befand sich wieder mal auf der Grenze zwischen Tag und Traum, er beteiligte sich nicht weiter an dem Gespräch. Kathy Porter hörte nur aufmerksam zu, wobei sie den Agenten der Krone immer wieder höflich lächelnd und gespielt neutral anschaute.
„Sind Sie zu den Trappisten übergewechselt?“ raunzte Lady Simpson ihren Butler unvermittelt an. „Vielleicht hört man endlich auch mal Ihre Meinung.“
„Sehr wohl, Mylady“, schickte Parker gemessen voraus. „Ich möchte darauf verweisen, daß ich mir das leichte Unbehagen von Mr. McDonald erklären kann. Mr. McDonald vermißt schließlich nicht nur Mr. Cranford, sondern auch dessen wirklichen Auftraggeber und schließlich und endlich das Geheimmaterial, das der verblichene Mr. Lister von Bristol nach London bringen wollte.“
„Das trifft genau den Punkt, Mr. Parker“, sagte der Topagent. „Übrigens mein Kompliment, wie Sie meinen Mann außer Gefecht gesetzt haben! Ich mußte ihm ein paar Tage Urlaub geben …“
„Sir?“ Parker tat ahnungslos.
„Ich meine den Schatten, den Sie gewissen Frauen zum Fraß vorwarfen“, präzisierte McDonald. „Er kam erfreulicherweise nur mit einigen leichten Prellungen davon, doch er leidet noch unter einem gewissen Schock.“
„Vielleicht bin ich verwechselt worden“, stellte Parker gemessen fest. „Wurde ich von einem Ihrer Leute tatsächlich beschattet?“
„Lassen wir das!“ McDonald grinste wie ein großer Schuljunge. „Schade, daß Sie auf unseren Schulen nicht als Ausbilder tätig sind, die jungen Männer würden wahrscheinlich eine Menge lernen.“
„Mr. Parker ist unabkömmlich“, schaltete Lady Simpson sich eifersüchtig ein. „Betreiben Sie hier keine Abwerbung, junger Mann!“
„Darf ich noch mal auf Mr. Cranford zurückommen“, wechselte der Butler das Thema. „Ich nehme an, Sie haben eine ausgiebige Fahndung nach ihm eingeleitet, nicht wahr?“
„Er ist der einzige, der uns sagen kann, für welchen fremden Geheimdienst er Lister unter Druck gesetzt hat.“
„Aber er weiß nicht, wo das Geheimmaterial ist“, trumpfte Lady Simpson auf.
„Das dürfte so richtig sein, Mylady.“
„Und um das geht es doch, oder?“
„Dieses Material darf nicht in falsche Hände geraten, es wäre ein uner…“
„…setzlicher Verlust für die Krone, ich weiß.“ Mylady hatte ihn ungnädig unterbrochen. „Mr. Parker, lassen Sie sich gefälligst etwas einfallen!“
„Ich hoffe, Mylady nicht enttäuschen zu müssen“, antwortete Parker, dem aber plötzlich die Andeutung einer mehr als vagen Idee gekommen war. Er hütete sich, laut und offen darüber zu reden. Er mußte diese Idee erst noch reifen lassen.
„Welche Aussagen liegen denn bereits vor?“ nahm die Detektivin wieder das Grundthema auf und blickte McDonald und Sounders an.
„Die drei Männer der Im- und Exportfirma aus Hongkong sind echte Konkurrenten von Cranford gewesen“, berichtete Sounders, nachdem McDonald ihm aufmunternd zugenickt hatte. „Nach ihrer Aussage hat Lister sich von sich aus an sie gewendet.“
„Das heißt, über eine Botschaft“, schaltete sich der Agent der Krone ein. „Folgendes müssen wir uns vorstellen: Lister wurde nach seinen Besuchen bei der Gouvernante erpreßt und hatte ab sofort geheime Unterlagen seiner Forschungsgruppe zu liefern. Er muß geahnt haben, daß das auf die Dauer nicht gutgehen konnte. Also wandte er sich an eine ausländische Botschaft und bot dort ebenfalls sein Material an.“
„Welche Botschaft?“ Lady Simpson wollte es genau wissen.
„Darüber, Mylady, darf ich leider nichts sagen.“
„Im Osten geht die Sonne auf, nicht wahr?“ Lady Simpson zwinkerte McDonald wissend zu.
„Sehr wohl, Mylady“, gab McDonald lächelnd zurück, „eine unbestreitbare Tatsache!“
„Weiter also“, drängte die kriegerische Dame.
„Diese fremde Botschaft verwies Lister an die drei Männer der Hongkonger Im- und Exportfirma“, faßte der Agent der Krone zusammen. „Lister belieferte also auch diese Fremdmacht mit seinem Material und kassierte doppelt. Er wollte, das steht jetzt fest, so schnell wie möglich so viel Geld wie eben erreichbar zusammenraffen, um sich dann später ins Ausland abzusetzen.“
„Der große Coup sollte also in der vergangenen Nacht getätigt werden?“
„Das ist richtig, Mylady.“ McDonald nickte. „Lister muß das gesamte Konstruktionsmaterial bei sich gehabt haben, als er von Bristol losfuhr. In der Hongkonger Firma fanden wir Bargeld in kleinen Scheinen im Werte von weit über hunderttausend Pfund. Das war das Geld, das Lister für seine Unterlagen bekommen sollte.“
„Teilgeständnisse liegen bereits vor“, sagte Sounders dazwischen.
„Dieses Material ist verschwunden, denn Cranford hat es nicht“, schloß McDonald, „sonst hätte er ja nicht Miß Porter entführen lassen.“
„Gibt es Anhaltspunkte dazu, für wen Cranford arbeitete?“ bohrte die resolute Dame unbeirrt weiter. „Sie hatten sich ja nicht umsonst neben seinem Atelier eingemietet, nicht wahr?“
„Auch darüber darf ich nicht reden“, meinte McDonald.
„Sollte die Sonne in beiden Fällen im Osten aufgehen?“ tippte sie an.
„Sie geht im Westen unter“, lieferte McDonald einen zarten Hinweis.
„Nein, das darf doch wohl nicht wahr sein!“ Agatha Simpson machte einen sehr entrüsteten Eindruck. „Sprechen Sie jetzt etwa von den USA?“
„Nur bedingt, Mylady“, schränkte der Agent der Krone sofort ein. „Dort gibt es ja auch private Firmengruppen, die an Konstruktionsunterlagen interessiert sein könnten.“
„Ich habe verstanden.“ Sie nickte grimmig. „Mr. Parker, Sie haben alles mitbekommen. Ich verlange von Ihnen die Herbeischaffung der Unterlagen und diesen Cranford. Er muß uns Rede und Antwort stehen.“
„Daran wird sich auch Mr. Parker die Zähne ausbeißen“, prophezeite McDonald düster.
„Da kennen Sie Parker aber schlecht“, widersprach ausgerechnet Chefinspektor Sounders. „Ich möchte nur zu gern mal in seinen Kopf hineinsehen. Wetten, daß er bereits sein Ziel anpeilt?“
*
Eric Cranford hatte London nicht verlassen.
Seine beleidigte, empfindsame Künstlerseele sann auf Rache. Er hatte gewisse Dinge in seinem Atelier immer noch nicht verwunden. Er wollte diese langbeinige junge Frau wieder in seine Gewalt bringen, wollte es ihr heimzahlen.
Exzentrisch sah er übrigens längst nicht mehr aus.
Nach Kathys Flucht aus dem Keller und seinem Haus hatte er dieses Quartier sofort aufgegeben und sich, was sein Äußeres anbetraf, völlig verwandelt.
Er trug sein Haar kurz, fast militärisch, hatte sich einen sportlichen Anzug zugelegt und eine Brille. Er glich jetzt einem durchschnittlichen Passanten.
Cranford besaß falsche Papiere, die echt waren. Das heißt, Überprüfungen brauchte er nicht zu befürchten. Seine neue Identität gestattete es ihm, in einem Touristenhotel in der Nähe des Hyde Park zu wohnen. Sehr überlegt hatte er sich dieses Hotel ausgesucht. Hier stiegen in der Regel kanadische Besucher der Stadt ab, die in Gruppenreisen über den Atlantik gekommen waren.
Cranford hatte zwei Ziele.
Einmal ging es ihm selbstverständlich um diese langbeinige Kathy Porter.
Zum anderen aber war er nach wie vor hinter den Unterlagen von Burt Lister her. Sie bedeuteten für ihn ein Vermögen, denn sein Auftraggeber wartete nur auf den Tausch der Unterlagen gegen Bargeld. Sein Auftraggeber war tatsächlich, wie McDonald es vermutete, der Agent einer amerikanischen Patentverwertungsgesellschaft, die von Gangstern kontrolliert wurde.
Diese Patentverwertungsgesellschaft betrieb in fast allen Industrieländern aktive Industriespionage und verdiente ausgezeichnet dabei. Cranford war für Groß-London der Agent dieser Gesellschaft und hatte bereits viel Geld der Verwertungsgesellschaft investiert. Er brauchte den Erfolg, um auch irgendwo in der Welt im Geschäft zu bleiben.
Es ging ihm also nach wie vor um Listers Material, doch in erster Linie wohl um Kathy Porter, die sein ausgeprägtes Selbstgefühl nachdrücklich ins Wanken gebracht hatte. Dieser Frau wollte und mußte er es zeigen. Und nur über diese junge Frau hatte er noch die letzte Chance, an Listers Unterlagen heranzukommen. Kathy Porter als Geisel in der Hand, und man mußte liefern, ob man wollte oder nicht.
In einem Taxi war er an dem kleinen Platz vorbeigefahren, an dem Lady Simpsons Haus lag.
Er hatte die vor dem Haus parkenden Wagen gesehen und wußte, daß dort wohl so etwas wie eine Abschlußbesprechung stattfand. Im Augenblick war an das langbeinige Mädchen nicht heranzukommen, doch in ein paar Stunden sah die Sache bestimmt schon wesentlich günstiger aus.
*
Sounders, Morrison und McDonald waren gegangen.
Parker bat Lady Simpson um eine Freistunde, um sich, wie er sich ausdrückte, ein wenig die Füße zu vertreten.
„Sie sind irgendeiner Sache auf der Spur, nicht wahr?“ fragte Agatha Simpson mißtrauisch.
„Keineswegs, Mylady“, schwindelte der Butler. „Ich möchte mir nur einen kühlen und klaren Kopf verschaffen.“
„Ich wäre sehr beleidigt, wenn Sie etwas auf eigene Faust unternehmen würden.“
„Mylady können sich auf meine bescheidene Wenigkeit verlassen“, versprach der Butler doppeldeutig. „Darf ich mir erlauben, meinerseits eine Warnung auszusprechen? Mit der plötzlichen Rückkehr und mit dem Auftauchen Mr. Cranfords dürfte jederzeit zu rechnen sein.“
„Dieser Lümmel soll nur kommen“, drohte die kriegerische Dame. „Hoffentlich besitzt er die Frechheit und den Mut, hier vorzusprechen.“
Parker ersparte sich jedes weitere Wort, streifte sich den schwarzen Covercoat über, setzte sich die schwarze Melone auf und verließ das Haus. Er benutzte seinen hochbeinigen Wagen, um dem Redakteur Falsom einen weiteren Besuch abzustatten. Diesmal konnte Falsom zwar nicht helfen, doch er verwies den Butler an einen Gerichtsreporter, einen kleinen, vertrocknet aussehenden Mann von fast sechzig Jahren.
Walter Berry, wie er hieß, war ein wandelndes Archiv. Als Parker ihm den Namen Harry Pool nannte, zupfte Berry an seinem rechten Ohrläppchen.
„Harry Pool, Harry Pool“, wiederholte er dazu und zwinkerte nervös mit den Augen, was den Butler zuerst ein wenig irritierte, bis er merkte, daß der Gerichtsreporter das eigentlich unentwegt tat. „Natürlich kenne ich Harry. Langfinger-Harry, früher mal ein As als Taschendieb, jetzt aber aus dem Geschäft. Er muß gut und gern fünfundsechzig Jahre alt sein, Mr. Parker.“
„Könnten Sie mir seine Adresse verschaffen?“
„Wenn Sie ein paar Minuten Zeit haben, schon.“ Walter Berry griff nach dem Telefonhörer und absolvierte dann Kurzgespräche in sinnverwirrender Fülle. Er sprach zuerst mit einem Kneipenbesitzer, dann mit einer Pullover-Suzy, schließlich mit einem Kragen-Henry und abschließend mit einem Whisky-Fred.
„Flüchtige Bekannte“, meinte er, als er auflegte. „Ihr Harry Pool wohnt im East End, Mr. Parker. Hier, die genaue Adresse. Er hat dort ’nen kleinen Papierladen.“
*
Eric Cranford hetzte die beiden Schläger auf Lady Simpson und Kathy Porter.
Die Frauen kamen gerade aus einem Delikateßladen und gingen zum nahen Taxistand. Er hatte sie seit einer halben Stunde verfolgt und diese beiden Schlägertypen auf sie angesetzt. Sie zu engagieren war für ihn eine Kleinigkeit gewesen, er kannte sich in der Branche nur zu gut aus.
Die beiden jungen Männer hatten keine Ahnung, um was es ging, sie waren nur daran interessiert, sich ein ordentliches Taschengeld zu verdienen. Cranford hatte sie in einem Billardsaal entdeckt und sofort gewußt, daß sie mitmachen würden.
Er saß am Steuer eines gestohlenen Wagens und fuhr langsam an den Gehweg heran, ließ seine beiden Schläger und die Frauen nicht aus den Augen.
Es klappte wie am Schnürchen!
Die beiden Schläger verstanden ebenfalls ihr Handwerk. Sie fingen die Frauen ab und drängten sie an den herankommenden Wagen. Innerhalb weniger Sekunden befanden sich Kathy Porter und Lady Simpson im Fond des Autos.
Cranford kicherte vor Aufregung und Erleichterung.
Geschafft!
Sie befand sich wieder in seiner Gewalt, jetzt konnte er ihr eine ganz bestimmte Rechnung präsentieren! Er wollte sie schlagen und quälen, bis sie nur noch wimmerte …
„Sie sind dieser schreckliche Cranford, nicht wahr?“ erkundigte sich Lady Simpson, um dann einem der beiden Kerle nachdrücklich auf die Hand zu schlagen. „Nehmen Sie Ihre Finger weg, Sie Lümmel, oder wollen Sie sich ein paar Ohrfeigen einhandeln?“
Die beiden jungen Schläger waren recht beeindruckt und auch verwirrt. Solch eine Frau kannten sie noch nicht.
Sie bedrohten sie zwar mit Schimpfworten, nahmen aber von weiteren Rohheiten erst mal Abstand.
Kathy Porter verhielt sich ruhig.
Sie hatte diesen Überfall nicht nur erwartet, sondern ihn zusammen mit Lady Simpson geradezu provoziert. Sie hatte sich als Köder für Cranford angeboten. Und die empfindsame Künstlerseele war auf dieses Angebot prompt hereingefallen.
Ein wenig nervös war Kathy schon. Sie wußte, wie grausam und unberechenbar dieser Cranford war …
*
Weit vor dem Papierladen des Harry Pool stieg der Butler aus seinem hochbeinigen Monstrum und ging zu Fuß weiter.
Er war hier aufgrund einer Spekulation.
Parker ging davon aus, daß der Landstreicher, der den Mini-Cooper von Kathy Porter gestohlen hatte, nicht seinen wirklichen Namen genannt hatte. Der Mann hatte aber unter Zeitnot gestanden, wahrscheinlich also einen Namen verwendet, der ihm geläufig war, eben den eines Harry Pool. Daraus ließ, sich weiter schließen, daß der Landstreicher mit der Wermutfahne in unmittelbarer Nähe dieses Pool wohnen und leben mußte.
Gewiß, nur eine Spekulation, aber sie bot sich zwingend an.
Parker suchte nach den verschwundenen Unterlagen Burt Listers.
Eine der wenigen Personen am Unfallort war der Landstreicher gewesen. Falls die Unterlagen nicht im Wagen verbrannt waren, mußte er sie besitzen. Mylady hatte den Wermutbruder ja leider etwas zu großzügig gehen lassen.
Parker erstand in dem kleinen Papierladen einen Schreibblock und einen Kugelschreiber. Er hatte auf den ersten Blick gesehen, daß der alte Mann nicht mit dem Wermutbruder identisch war.
Parker bezahlte mit einer ansehnlichen Banknote und schüttelte den Kopf, als der richtige Mr. Pool verzweifelt nach Wechselgeld suchte.
„Sie können das Geld behalten“, sagte der Butler höflich. „Dafür möchte ich eine spezielle Auskunft von Ihnen, Mr. Pool.“
„Und die wäre?“ Mr. Pool schaltete sofort auf größte Vorsicht um.
„Ich suche einen Mann, der sich dem Wermut verschrieben hat“, erläuterte Josuah Parker. „Ich darf Ihnen versichern, daß dieser Mann sich unter Umständen in höchster Lebensgefahr befindet, weiterhin möchte ich sagen, daß ich nicht von der Polizei bin und auch nicht die Absicht habe, den betreffenden Herrn mit ihr in Berührung zu bringen.“
Harry Pool sah den Butler lange und prüfend an.
Harry war ein Gauner mit sicherem Instinkt. Er nickte schließlich.
„Ich traue Ihnen“, sagte er.
„Ich kann sogar gewisse Referenzen aufweisen“, fügte der Butler noch hinzu. „Mr. Walter Berry war so freundlich, mich an Sie zu verweisen.“
„Der gute, alte Walter.“ Pool grinste. „Sie suchen wahrscheinlich Pete Malbert.“
„Er liebt den Wermut?“
„Er säuft ihn statt Wasser“, meinte Pool. „Ein armer Teufel Sir, und er kann nichts Schlimmes angestellt haben!“
„Bestimmt nicht“, antwortete Parker, „ich brauche nur eine Auskunft von ihm, damit er aus einer möglichen Schußlinie herausgehalten wird.“
„Gehn Sie mal rüber in den Hinterhof“, sagte Harry Pool. „Er lebt da neben der Kellertreppe in einem Verschlag, aber fallen Sie nicht um, wenn Sie reingehen, in ’ner Destille riecht’s dagegen noch harmlos.“
„Ich bin sicher, daß Sie Mr. Pete Malbert hiermit einen großen Gefallen erwiesen haben“, sagte Parker und lüftete höflich seine schwarze Melone.
Als er wenig später die Tür zu dem beschriebenen Kellerverschlag öffnete, prallte der Butler tatsächlich zurück. Wermutfahnen wehten ihm scharf entgegen.
Pete Malbert lag auf einem einfachen Feldbett und richtete sich mühevoll auf.
Parker erkannte auf den ersten Blick, daß er seinen Mann gefunden hatte. Dieser Pete Malbert war der Landstreicher, den er in Kathy Porters Mini-Cooper am Steuer entdeckt hatte!
Der Landstreicher sah den Butler aus glasigen Augen an, erkannte ihn wahrscheinlich nicht, brabbelte etwas, was nicht zu verstehen war, und wälzte sich dann auf die Seite. Vor seinem Feldbett standen Wermutflaschen, die teilweise bereits geleert waren.
Bevor der Butler sich die Mühe machte, Pete Malbert Fragen zu stellen, sah er sich in dem niedrigen Keller um. Er entdeckte neben einem einfachen Herd auf einer Art Wandtisch aus Brettern eine sehr teuer aussehende Kollegmappe, die lehmverschmiert aussah.
Parker öffnete den Reißverschluß und … fand das Material, nach dem so nachhaltig und teilweise grausam gesucht worden war. Es handelte sich um Konstruktionsunterlagen, die mit Fingerabdrücken aller Art übersät waren. Pete Malbert hatte diese Unterlagen wahrscheinlich durchsortiert und dann achtlos zurück in die Tasche gestopft. Den wahren Wert hatte er unmöglich erkennen können.
Die Lehmspuren deuteten darauf hin, daß der Wermutbruder die Tasche nach dem Unfall gefunden hatte. Und jetzt erinnerte der Butler sich daran, daß der Landstreicher nach seiner Flucht aus dem Mini-Cooper einen Arm sehr auffällig gegen den Leib gepreßt hatte. Damit hatte er die nicht sehr große Mappe an seinem Körper festgehalten.
Hatte es einen Sinn, sich noch mit ihm zu unterhalten?
Parker hinterließ dem Wermutbruder eine Banknote und ging. Auf der Straße wurde er von Harry Pool abgefangen, der ihn neugierig ansah.
„Er wird keinen Ärger mehr bekommen“, sagte Parker höflich und wies auf die kleine Kollegmappe in seiner Hand. „Er ahnte erfreulicherweise nicht, daß er mit Sprengstoff hantierte.“
*
Sie hatten Kathy Porter am Pfeiler einer Tiefgarage festgezurrt und bauten sich jetzt neben Lady Simpson auf.
Eric Cranford riß Kathy die Bluse vom Körper, fetzte ihren BH herum und weidete sich am Anblick ihres nackten Rückens. Sein Atem ging schnell. Jetzt konnte er es ihr heimzahlen …
Agatha Simpson hielt ihre Lorgnette in der Hand und schien wie gelähmt zu sein.
Cranford strich um Kathy herum und streichelte ihren nackten Rücken und berührte ihre Brüste. Er wirkte recht eigenartig, kicherte und tänzelte.
„Fein, sehr zart“, sagte er und beschäftigte sich wieder mit ihrem Rücken. „Gleich wird das alles ganz anders aussehen, Kleines. Und es wird sehr schmerzen.“
Damit war Agatha Simpson überhaupt nicht einverstanden.
„Er ist doch verrückt“, flüsterte sie den beiden Schlägern zu. „Wollt ihr durch ihn ins Zuchthaus kommen. Hundert Pfund für jeden von euch, wenn ihr ihn aus dem Verkehr zieht!“
Die beiden jungen Schläger reagierten überhaupt nicht.
Mylady traf also ihre eigenen Vorbereitungen. Sie spielte mit der Lorgnette und wechselte dabei den Pompadour in die rechte Hand. Sie machte das recht geschickt und unauffällig. Sie war nicht gewillt, ihre Sekretärin einer solchen Tortur auszuliefern.
„Los, jetzt, meine Freunde“, sagte Cranford und wandte sich an die beiden Mietschläger. „Hier sind wir ungestört. Ich möchte laute Schreie hören. Züchtigt sie!“
Sie nahmen ihre Kabelenden hoch und traten hinter Kathy, die sich fest gegen den Betonpfeiler schmiegte.
Dann droschen sie auf … Cranford ein!
Die empfindsame Künstlerseele schrie gellend auf, riß einen Revolver aus dem Halfter und wollte schießen, doch sie ließen ihm keine Chance. Sie schlugen ihm die Waffe aus der Hand und trieben ihn durch die Tiefgarage, bis er wimmernd in sich zusammensank.
Agatha Simpson hatte inzwischen Kathy losgebunden, die sich jetzt schluchzend vor überstandener Aufregung an den gewaltigen Busen der Lady schmiegte.
„Genug, genug“, sagte Lady Simpson schließlich zu den beiden Mietschlägern. „Ihre Notwehr soll ja nicht in Grausamkeit umschlagen. Sie haben sich Ihre Belohnung redlich verdient.“
„Hoffentlich war das auch kein Windei“, sagte einer von ihnen, „sonst machen wir nämlich weiter.“
„Dann geht’s Ihnen an den Kragen“, sagte der zweite Schläger.
„Wetten, daß nicht?“
Es war McDonald, der aus dem Dunkel der Tiefgarage erschien und eine Automatic in der linken Hand hielt.
„Oh, Mike!“ Kathy hatte plötzlich einen neuen Orientierungspunkt entdeckt und lief auf ihn zu, war aber dennoch so geschult, daß sie nicht durch die mögliche Schußbahn eilte.
„Schon gut, Mr. McDonald“, beruhigte Lady Simpson den Agenten der Krone. „Diese beiden Herren verdienen höchstens Lob, sie haben sich ausgezeichnet verhalten.“
Sie waren sehr verlegen, was wohl auch mit der Automatic in McDonalds Hand zusammenhing. Mylady kramte in ihrem Pompadour herum und reichte ihnen dann einige Banknoten.
„Sie brauchen nicht herauszugeben“, sagte sie dann gnädig. „Irgendwelche Bedenken, Mr. McDonald, sie gehen zu lassen?“
„Nein.“ Der Kronagent schüttelte den Kopf, lächelte und wandte sich dann den beiden Mietschlägern zu. „Wechselt schleunigst den Beruf, Jungens, früher oder später werdet ihr sonst reinfallen!“
„Is’ doch wohl unsere Sache“, sagte der erste Schläger verächtlich.
„Nur keine Predigt“, meinte der zweite Mann. „Bohren Sie in Ihrer eigenen Nase rum!“
Sie gingen breitbeinig wie Westmänner auf der Leinwand, selbstsicher und überlegen.
„Cranford“, sagte Mylady und deutete auf das wimmernde Menschenbündel neben einem der Pfeiler.
„Ich weiß“, erwiderte McDonald, „ich war die ganze Zeit hinter Ihnen her, Mylady, ich meine, ich überwachte Sie.“
„Mich?“ Lady Simpson lachte spöttisch auf. „Sagen Sie Kathy, dann kommen Sie der Sache schon bedeutend näher.“
„Darf ich fragen, wo Mr. Parker ist?“
„Wie ich ihn kenne, vertritt er sich nicht nur die Füße, sondern besorgt inzwischen die Konstruktionsunterlagen“, antwortete Lady Simpson, „einer muß es ja schließlich tun, wenn selbst Agenten meiner Freundin sich ablenken lassen.“
Sie schmunzelte, als Kathy sich zu ihr umwandte und befreit lächelte.
*
„Na bitte, was ich gesagt habe!“
Lady Simpson nickte, als ihr Butler die Unterlagen vorzeigte. McDonald befaßte sich sofort mit den Papieren und sortierte sie durch. Erleichtert wandte er sich dann zu Parker um.
„Sie haben es tatsächlich geschafft“, meinte er dann. „Wie, wenn man fragen darf …“
„Das ist eine lange Geschichte“, schickte der Butler voraus. „Ich weiß nicht, Sir, ob Ihre Zeit ausreichen wird, sich ihr zu widmen.“
„Stimmt“, sagte McDonald, als Kathy in diesem Moment den Salon von Lady Simpsons Stadtwohnung betrat, frisch, strahlend und glücklich. Sie hatte sich umgekleidet und nickte dem Agenten der Krone zu.
„Passen Sie mir auf Kathy auf, junger Mann“, sagte Agatha Simpson streng, als McDonald und Kathy zur Tür gingen.
„Sie können sich auf mich verlassen, Mylady“, parodierte der Agent den Butler.
„Und die Unterlagen, Sir?“, erkundigte sich Parker und deutete auf die kleine Ledermappe.
„Rufen Sie Sounders an“, gab McDonald zurück, „wir wollen ihn auf keinen Fall übergehen.“
„Und was soll ich ausrichten, Sir, falls nach Ihnen gefragt werden sollte?“
„Ich befinde mich auf einer wichtigen Spur“, erwiderte McDonald. „Ich denke doch, Mr. Parker, daß Sie diese Ausrede noch etwas ausbauen werden.“
„Ich werde mich ehrlich bemühen, Sir.“
Parker brachte McDonald und Kathy Porter zur Tür. Als er in den Salon zurückkehrte, blieb er leicht betroffen stehen. Lady Simpson machte einen sehr angeregten Eindruck.
„Kommen Sie, Mr. Parker“, sagte sie, „ich bin gerade in der richtigen Stimmung. Wissen Sie, was ich vorhabe?“
„Ich erahne es, Mylady.“
„Wir werden das erste Kapitel meines Spionageromans schreiben“, sagte sie aufgekratzt. „Wir werden eine Art Arbeitsteilung vornehmen.“
„Wie Mylady befehlen.“
„Sie diktieren, und ich werde schreiben“, erläuterte sie. „Wenn wir uns beeilen, werden wir das Kapitel in ein paar Stunden beendet haben. Wie finden Sie das?“
Parker war viel zu geschult und höflich, um darauf das zu sagen, was er tatsächlich dachte. Er deutete nur eine knappe Verbeugung an und unterdrückte einen tiefen Seufzer.
„Wenn man es richtig nimmt, Mr. Parker“, fügte sie hinzu, „können wir uns den Umweg ersparen. Warum schreiben Sie nicht gleich selbst in die Maschine?“
Parker schaffte es, sich diskret gegen den Türrahmen zu lehnen, bevor er in die Knie brach. Genau das hatte er die ganze Zeit über bereits erwartet, und in Gedanken formulierte er bereits einen Kündigungsbrief an Lady Simpson.
„An die Arbeit“, rief Lady Simpson ihm zu. „Und denken Sie an die nötige Spannung, Mr. Parker! Worauf warten Sie denn eigentlich noch?“
Parker beherrschte sich, dennoch wankte er leicht gebrochen aus dem Salon. Diese Frau, das wußte er, brachte ihn eines Tages noch um!
ENDE