Читать книгу Todwald - Günter Huth - Страница 12
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ОглавлениеDer Himmel der Lust lag am Rande von Aschaffenburg in einem Industriegebiet und war ein über die Grenzen der Stadt hinaus bekanntes Etablissement für käufliche Liebe aller Art. Gäste dieses Tempels der körperlichen Freuden kamen aus den angrenzenden Landkreisen, aber auch aus dem Nachbarbundesland Hessen, insbesondere auch aus der Finanzmetropole Frankfurt. Auf diese Kunden war der Betreiber des Hauses, Dimitrij »Stalin« Komarow, besonders stolz. Schließlich gab es in der Hessenmetropole zahllose Konkurrenzbetriebe. Die Tatsache, dass Männer trotz der Entfernung die Fahrt auf sich nahmen, um in sein Haus zu kommen, sprach wohl für die Qualität seiner Damen. Den martialischen Zusatznamen Stalin, der Stählerne, hatte sich Dimitrij nach einer wodkaschwangeren Nacht selbst verliehen, wohl als Ausgleich für seinen wenig beeindruckenden Familiennamen, der so viel wie Stechmücke bedeutete. Dimitrij gab sich auch alle Mühe, seinem Zusatznamen gerecht zu werden. Mit eiserner Faust hatte er seinen Platz im Geschäft mit der Lust behauptet. Mehrmals gab es Versuche, ihm seine Mädchen wegzunehmen und ihn zum Teufel zu jagen. Aber nachdem einige Schläger der Konkurrenz mit blutigen Köpfen abgezogen und zwei auf Nimmerwiedersehen verschwunden waren, wurde er akzeptiert und man ließ ihn in Ruhe.
Im Parterre befand sich die großzügig ausgestattete Bar, in der die Frauen auf ihre Kunden warteten. Im Stockwerk darüber lagen Dimitrijs Büro und die Zimmer der Mädchen. Dimitrij saß am Schreibtisch und kontrollierte am Laptop die Einnahmen des letzten Monats. Zufrieden grunzend, speicherte er das Ergebnis auf einem USB-Stick. Er zog ihn ab und legte ihn in einen geöffneten Tresor, der hinter dem Aktbild einer sich lasziv räkelnden Schönheit in die Wand eingelassen war.
Komarow rollte mit seinem Bürosessel ein Stück zur Seite, bis er vor der Schmalseite des Raumes zum Stehen kam, die mit einer Holzvertäfelung verkleidet war. Er drückte einen Knopf und mit einem summenden Geräusch verschob sich die Vertäfelung seitlich in die Wand. Dahinter kamen vierzehn Monitore zum Vorschein, die alle eingeschaltet waren und verschiedene Ansichten der Bar und der acht Separees auf seinem Stockwerk zeigten. Eine Kamera war am Eingang und eine am Hinterausgang installiert. Sehr praktisch, um die Annäherung unerwünschter Gäste wie Polizei oder, schlimmer, Vertreter der Konkurrenz rechtzeitig zu bemerken. So war man vor Überraschungen sicher.
Plötzlich kniff Komarow die Augen zusammen und widmete seine Aufmerksamkeit einem bestimmten Monitor. Er gab das Bild eines Separees wieder. Auf ihm war ein Kunde zu sehen, der sich nackt mit einer ebenfalls unbekleideten Frau beschäftigte. Janine, wie er erkannte.
Die Szene hätte Dimitrij grundsätzlich nicht sonderlich interessiert, da sie nur zeigte, dass sich ein Kunde des Hauses mit einem der Mädchen amüsierte. Er hatte sie bei den schwarzen Haaren gepackt und zwang sie vor sich auf die Knie. Seine Erregung war unübersehbar. Komarow konnte sehen, dass Janine sich wehrte und ihm mit den Fäusten gegen den Bauch schlug. Er runzelte die Stirn. War das ein Rollenspiel oder war ihr Widerstand ernst gemeint?
Mit einem Knopfdruck schaltete Komarow den Lautsprecher ein, automatisch startete damit auch die Aufzeichnung des Geschehens. Sofort erfüllte lautes Keuchen der beiden Menschen auf dem Bildschirm das Büro.
»Lass mich los, du Arschloch!«, kam die sich überschlagende Stimme Janines quäkend über den Lautsprecher. »Nimm deine verdammten Griffel von mir!«
»Dir werde ich helfen, du Schlampe!«, fauchte der Mann. Der Kunde verpasste Janine einen schallenden Schlag ins Gesicht, der sie niederstürzen ließ. Sofort lief ihr Blut aus der Nase.
Dimitrij Komarow schüttelte verärgert den Kopf. Eine Ohrfeige war grundsätzlich noch im Bereich des Tolerierbaren. Verletzungen aber nicht. Es konnte nicht angehen, dass Frauen tagelang nicht arbeiten konnten, weil sie am Körper Blutergüsse aufwiesen. Er würde dem Kunden anschließend unter Hinweis auf die Gewalttätigkeit einen ordentlichen Aufpreis abverlangen. In diesem Augenblick eskalierte die Situation auf dem Bildschirm radikal. Da ihr Kunde sie immer massiver bedrängte, wurde Janine immer hysterischer. Sie schrie völlig außer sich, schlug um sich und trat dem Mann schließlich hart in den Unterleib. Mit einem heiseren Aufschrei fiel er zusammengekrümmt auf das Bett.
»Ich bring dich um, du verdammte Drecksnutte!«, stieß er gepresst hervor.
Janine lag auf der Seite und erbrach sich würgend mitten auf den Teppichboden. Komarow hatte genug gesehen. Hier musste eingegriffen werden. Er hob den Telefonhörer ab und drückte einen Knopf.
»Sergej, sofort auf Zimmer 7! Janine dreht durch!«
Sein Gesprächspartner stellte offenbar keine Fragen, denn Dimitrij legte sofort wieder auf. Seine Aufmerksamkeit richtete sich erneut auf den Monitor.
Es vergingen kaum fünfzehn Sekunden, als er das Schlagen der Tür des Separees hörte und Sergej plötzlich im Aufnahmebereich der Kamera erschien. Der ein Meter fünfundneunzig große Kaukasier war kahlköpfig, im Gesicht und am Kopf tätowiert und hatte den muskulösen Körperbau eines Bodybuilders. Mit seinem beeindruckenden Körper füllte er fast das gesamte Kamerabild aus. Komarow wusste, in der Regel reichte sein bloßes Erscheinen, um Streitigkeiten schlagartig zu beenden.
Sergej machte einige Schritte in den Raum, wodurch er wieder das gesamte Bild für seinen Boss freigab. Der Kunde lag noch immer ächzend und fluchend auf dem Bett, schien sich aber langsam zu erholen. Janine musste ihn wirklich voll getroffen haben.
»Ich werde diese verdammte Schlampe umbringen!«, presste er hervor und warf lodernde Blicke in Richtung der Frau, die sich an der Wand aufgesetzt hatte. Ihre Schminke war verschmiert und die Wimperntusche hinterließ auf ihrem Gesicht schwarze Rinnsale. Sie hatte die Beine angezogen und die Arme um die Unterschenkel geschlungen. Sie zitterte am ganzen Körper.
»Hier wird niemand umgebracht!«, kam Sergejs tiefe Stimme aus dem Lautsprecher. »Wir entschuldigen uns für das Verhalten unserer Mitarbeiterin. Selbstverständlich können Sie sofort ein anderes Mädchen haben und sind natürlich für den Rest Ihres Besuches Gast unseres Hauses.«
Während der Mann sich langsam vom Bett erhob, bückte sich Sergej und las die Kleider Janines zusammen. Dann näherte er sich der jungen Prostituierten. Ängstlich sank sie noch mehr in sich zusammen.
»Steh auf!«, befahl Sergej knapp, dabei warf er ihr die Kleidungsstücke zu. »Der Boss will dich sprechen!« Obwohl er seine Stimme nicht gehoben hatte, reagierte Janine sofort. Sie stand auf, raffte ihre Wäsche vor der Brust zusammen und hastete, nackt, wie sie war, auf den Flur. Sie flüchtete ins Umkleidezimmer und zog sich schnell an. Ihr Herz klopfte ihr vor Angst bis zum Hals.
Sergej wandte sich dem Gast zu, der mittlerweile in seine Shorts geschlüpft war. Noch immer trug er eine verbissene Miene zur Schau.
»Sind Sie damit einverstanden, wenn ich Ihnen Natascha hereinschicke? Sie ist eines unserer besten Mädchen. Sie werden nicht enttäuscht sein. Sie wird Sie die Unannehmlichkeiten schnell vergessen lassen. Selbstverständlich lasse ich Ihnen aufs Haus eine Flasche Champagner aufs Zimmer bringen.«
Der Mann brummelte etwas in seinen Bart, dann signalisierte er sein Einverständnis. Einen Moment später klopfte es auch schon an der Tür und unaufgefordert kam eine schlanke, dunkelhäutige Schönheit herein. Für Sergej war klar, Komarow hatte die Szene am Bildschirm verfolgt und Natascha in das Separee geschickt. Sie trug einen spärlichen Bikini, der keine Fragen offen ließ. In den Händen hielt sie eine Flasche Champagner und zwei Gläser.
»Hallo Süßer«, gurrte sie, während sie den Gast lächelnd fixierte. Sergej öffnete die Tür und verschwand diskret.
Janine saß wie ein Häuflein Elend auf der Couch in dem kleinen, spartanisch eingerichteten Umkleideraum, der den Damen auch als Aufenthaltsraum zur Verfügung stand. An der einen Längswand standen mehrere Spinde. Im Augenblick war das Zimmer leer, da alle ihre Kolleginnen arbeiteten. Janine hatte sich einen weißen Bademantel übergeworfen. Trotzdem zitterte sie am ganzen Körper. Komarow stand ihr gegenüber an die Wand gelehnt und fixierte sie mit kaltem Blick.
»Was war das für eine Scheiße?«, fragte er hart.
»Dieser perverse Typ … hat mich … geschlagen«, stieß sie schluchzend hervor. Ihre Schminke war verschmiert.
»Was heißt hier geschlagen? Du hast ihn mit deinem Gezicke wütend gemacht. Du wirst dafür bezahlt, dass du den Wünschen der Gäste entsprichst!« Er kniff die Augen zusammen. »Brauchst du schon wieder einen Schuss?«
»Das Zeug, das mir Sergej besorgt hat, taugt nichts«, gab sie heiser von sich.
In diesem Augenblick ging die Tür auf und Sergej betrat den Raum. Unwillkürlich duckte sich Janine zusammen.
»Sie sagt, der Stoff, den du ihr gegeben hast, sei schlecht?« Komarow sah den Kaukasier prüfend an.
Sergej zuckte mit den Schultern. »Sie hat den gleichen Stoff bekommen wie die anderen, die das Zeug brauchen. Sie will allerdings zwischenzeitlich immer öfter etwas. Sie kann sich den Spaß kaum noch leisten.«
Komarow taxierte die Frau wie ein Händler seine Ware.
Janine wurde unter dem Blick immer kleiner. »Boss, bitte, bitte«, bettelte sie, »es tut mir leid, das wird nicht wieder vorkommen. Bitte …«
Schließlich hatte Komarow eine Entscheidung getroffen. »Sergej, gib ihr einen Schuss, damit sie wieder arbeiten kann. Janine, du wirst die nächsten beiden Gäste kostenlos bedienen. Wenn das noch einmal vorkommt, schicke ich dich zurück. Jetzt geh ins Bad und richte dich wieder her.«
»Danke, Boss … danke«, stammelte sie und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht.
»Ich komme gleich wieder«, sagte Sergej und verließ mit Komarow das Zimmer. Janine erhob sich und verschwand im angrenzenden Bad.
Wortlos winkte Dimitrij Komarow Sergej zu sich ins Büro. Nachdem der Kaukasier die Tür hinter sich geschlossen hatte, sah ihn sein Boss durchdringend an.
»Janine ist fertig?«, fragte er knapp. »Es gab jetzt schon zum dritten Mal Ärger mit ihr.«
Sergej zuckte mit den Schultern. »Lange geht es sicher nicht mehr.«
Komarow ließ sich in seinen Sessel fallen. »Solche Vorfälle wie eben können wir uns nicht leisten. Das spricht sich schnell herum und schadet dem Geschäft.« Er öffnete seine Schreibtischschublade, holte einen Pass heraus und reichte ihn dem Kaukasier. »Sie ist noch jung. Sieh zu, dass du einen ordentlichen Preis herausholst.«
Sergej nahm das Dokument und steckte es in die Brusttasche seines Jacketts. »Wann?«
»Sofort! Ich werde mit Suganow sprechen. Morgen haben wir Ersatz.«
»Wird erledigt.«
Der Kaukasier verließ das Büro seines Chefs und betrat einen Raum am Ende des Flures, in dem er schlief, wenn er einmal hier übernachten musste. Er öffnete die Tür zum angrenzenden Bad, trat an die Toilette und drehte mit einer Münze die Schraube, die den Deckel des Spülkastens für die Toilettenspülung zuhielt. In dem Deckel befand sich eine wasserdichte Dose, die er herausnahm. Sie enthielt kleine Briefchen in zwei verschiedenen Farben. Er entnahm ein hellblaues und steckte es ein. Dann räumte er das Behältnis wieder weg und verschloss das Versteck. Danach öffnete er einen schmalen Schrank und entnahm ihm eine Rolle dicker Plastikfolie. Er entrollte die Folie auf dem Bett, bis es der Länge nach bedeckt war. Wenig später kehrte er in den Aufenthaltsraum zurück, in dem Janine wartete. Sie hatte sich wieder ordentlich geschminkt und sah gut aus. Lediglich ihre offensichtliche Unruhe zeugte davon, dass sie dringend eine Nase voll benötigte.
Sergej legte das blaue Briefchen wortlos auf den Tisch, dann ging er hinaus.
Janine bildete mit dem Inhalt des Briefchens auf einem kleinen Handspiegel hastig zwei Lines und zog sie mit einem gerollten Geldschein in die Nase. Danach ließ sie sich auf die Couch zurückfallen, schloss die Augen und erwartete die schnell eintretende Wirkung.
Wenig später betrat Sergej erneut den Raum. Er hatte der Frau kaum verschnittenen Spitzenstoff gegeben, der sie für einige Zeit außer Gefecht setzen würde. Als er sie mit geschlossenen Augen daliegen sah, nickte er zufrieden. Er hob sie auf die Arme und trug sie in sein Zimmer. Dort legte er sie auf die Plastikfolie auf seinem Bett. Janine lallte leise Worte, die nicht zu verstehen waren.
Sergej holte sein Mobiltelefon aus der Hosentasche und wählte eine Nummer.
»Ich habe eine Lieferung«, sagte er ohne Einleitung. »Sehr gute Qualität. Kostet das Doppelte.«
Er lauschte der Antwort. Schließlich erklärte er: »Abholung in zwei Stunden, um vier Uhr? Dann ist der Laden leer.«
Nachdem die Uhrzeit bestätigt worden war, legte er auf. Er warf Janine einen langen Blick zu. Eigentlich schade. Aber was konnte man machen? Geschäft war Geschäft.
Kurz nach vier waren die beiden Abholer da. Der Ältere musterte die im Kokainrausch schwebende Frau.
»Warum ist sie so zugedröhnt?«, knurrte er. Sein schwäbischer Akzent war unüberhörbar.
»Wir mussten sie ruhigstellen«, gab Sergej zurück.
Der Mann in Schwarz zog eine Spritze aus der Tasche. »Sie ist ein gottverdammter Junkie. Von wegen gute Qualität. Dafür zahlen wir nur den normalen Preis. Sollte sie nicht zu gebrauchen sein, gibt es gar nichts.« Er trat an Janine heran, packte ihren Arm und drückte ihr die Nadel in die Vene. Die junge Frau lallte einige unverständliche Worte. Als die Spritze zur Hälfte geleert war, hörte er auf.
»Das genügt«, stellte er fest, »sonst geht sie uns noch über den Jordan.« Er gab seinem Kumpel einen Wink. Sie hoben die mittlerweile völlig betäubte Janine mitsamt der Plastikfolie auf die mitgebrachte Trage, schnallten sie fest und transportierten sie aus dem Haus. Sergej sah zu. Nachdem sie in den wartenden Transporter geschoben war, fragte der Kaukasier: »… und die Kohle?«
Der Schwabe sah den Russen durchdringend an. »Erst wenn wir geprüft haben, ob die Ware verwendbar ist, bekommst du dein Geld.«
Sergej wollte erst etwas erwidern, ließ es dann aber sein. Ihm war bekannt, wie gefährlich die beiden Männer waren. Er sah dem Transporter hinterher. Sergej wusste nicht genau, was die beiden mit der jungen Frau vorhatten. Sie hatten ihm nur versichert, dass sie spurlos verschwinden würde. Obwohl Sergej ein kalter, abgebrühter Mensch war, lief ihm bei dem Gedanken ein Schauer den Rücken hinunter. Langsam ging er zurück ins Haus.