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Wie lange hast du den Professor nicht mehr gesehen?« Johanna Siedler lehnte lässig an der Wand eines Bankgebäudes in der Eichhornstraße, die Hände in den Taschen ihrer weiten Militärjacke vergraben. Eine Basecap gab ihr ein burschikoses Aussehen. Der Tag neigte sich dem Ende entgegen und sie machte mit ihrem Kollegen ihre alltägliche Runde.

Der alte Christoph, der hier seinen Stammplatz hatte, packte gerade sein Strickzeug zusammen und verräumte alles in seinen Rucksack. Wie viele ihrer Probanden duzte sie ihn und umgekehrt die Obdachlosen sie.

Johanna Siedler, zweiunddreißig Jahre alt, schwarzhaarig, schlank, sportlich, war vor zwei Jahren von der Stadt im Rahmen eines Pilotprojekts als Sozialpädagogin eingestellt worden. Zusammen mit ihrem Kollegen Robert Felgler sollten sie als Streetworkergespann die Obdachlosen und Junkies in Würzburg betreuen. Felgler war zwölf Jahre älter als sie, mit schütterem, grau meliertem Haar, hager und einem Vollbart. Er war, entgegen seiner dynamischen Kollegin, ziemlich desillusioniert, was die Sinnhaftigkeit ihrer Arbeit betraf. Johanna steckte dagegen voller Tatkraft und Pläne. Sie war der Meinung, dass man die Lebensumstände einiger Probanden durchaus verbessern konnte. Dazu gehörte auch der alte Christoph, dem wegen seines Alters ihr besonderes Augenmerk galt.

»Ist schon ein paar Tage her«, gab Christoph zurück. Sein Gesicht war fast völlig hinter einem dichten weißen Vollbart verborgen. Während er sprach, konnte sie seine schlechten Zähne sehen. Auf seiner Stirn trug er eine fast zehn Zentimeter lange, wulstige Narbe, die von einem Unfall stammte. Er trug einen weiten olivfarbenen Parka mit Kapuze, unter dem ein Pullover sichtbar war.

Die junge Frau war sicher, er hatte die Siebzig lange überschritten. Der alte Stadtstreicher hatte sie auf den Professor angesprochen. Schon seit längerer Zeit verbreiteten die Streetworker in der Szene die Botschaft, dass man sie verständigen möge, wenn einer der Obdachlosen plötzlich verschwand.

»Und warum glaubst du, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte?«

»Wir haben uns unterhalten. Er wollte wieder mal in der Heimkehr übernachten. Ihm war nach einer Dusche und einer ordentlichen Mahlzeit. Seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört. Das war vor zwei Tagen. Ich schlafe ja regelmäßig in der Heimkehr, da hätte ich ihn doch sehen müssen.«

Robert Felgler, der sich bewusst ein Stück abseits gehalten, aber jedes Wort mitbekommen hatte, trat ein Stück näher.

»Wir wissen beide, dass der Professor ein Trinker ist«, mischte er sich erstmals in das Gespräch ein. »Vielleicht ist er irgendwo versackt? Betrunken hat ihn das Heim bestimmt nicht aufgenommen.«

Christoph, der absolut nicht dem üblichen Obdachlosenklischee entsprach, weil er eine ausgesprochene Abneigung gegen Alkohol hatte, schüttelte den Kopf.

»Stimmt, er hat zwar getrunken, aber irgendwie noch kontrolliert.«

Felgler sah seine Kollegin bedeutungsvoll an. »Alles Gerüchte«, sollte der Blick wohl heißen.

»Wir werden uns mal umhören«, versprach die Streetworkerin. »Vielleicht ist er krank und liegt auf einer Krankenstation.«

Christoph bedankte sich mit einem Nicken, dann drehte er sich um und beschäftigte sich mit seinem Rucksack. Nachdenklich sah er beiden hinterher. Er würde auf jeden Fall in der nächsten Zeit nicht mehr in der Heimkehr übernachten. Dort ging es nicht mit rechten Dingen zu, das sagte ihm sein Instinkt. Leise ächzend schulterte er seinen Rucksack. Jetzt musste er sich im Freien einen Schlafplatz suchen.

Die beiden Streetworker marschierten weiter in Richtung Mainwiesen. Es gab noch einige Probanden, die sie besuchen wollten.

»Robert«, stellte Johanna nachdenklich fest, »die Sache kommt mir langsam spanisch vor. Das ist jetzt innerhalb von einem Vierteljahr der dritte Fall, dass einer dieser Männer spurlos verschwindet.«

»Das sehe ich nicht so problematisch«, entgegnete Felgler schulterzuckend. »Unsere Kunden führen bekanntermaßen kein standorttreues Leben. Heute hier, morgen dort.«

»Prinzipiell stimmt das schon«, gab sie ihm recht, »aber alle drei lebten schon seit Jahren in Würzburg, wie wir wissen. Nur der Professor hatte ein Alkoholproblem. Die beiden anderen hielten sich diesbezüglich zurück. Vielleicht sollte man doch einmal mit der Polizei sprechen?«

»Kannst du ja mal probieren«, gab Felgler zurück. »Mach dir aber keine Illusionen. Wegen ein paar verschwundenen Pennern reißen die sich kein Bein aus.«

Johanna verkniff sich eine scharfe Antwort. Sie mochte diese abfällige Bezeichnung gar nicht. Hinter jedem Obdachlosen stand ein meist schwieriges menschliches Schicksal.

Eberhard Brunner saß auf der Couch in seinem Wohnzimmer, seine Füße lagen auf einem Sessel. Auf einem kleinen Beistelltisch standen zwei halb gefüllte Gläser mit Rotwein. Auf der Couch, den Kopf in seinem Schoß, lag Johanna Siedler, die Frau, die er vor fünf Wochen anlässlich einer Dienstbesprechung kennengelernt hatte.

Damals ging es um einen Kriminalfall in der Obdachlosenszene. Zwei Männer waren mit dem Messer aufeinander losgegangen. Einer wurde so schwer verletzt, dass er nach zwei Tagen verstarb. Nachdem es sich um ein Tötungsdelikt handelte, war die Mordkommission für den Fall zuständig. Die Streetworkerin konnte zu den näheren Umständen eine Aussage machen. Die engagierte junge Frau war ihm nicht zuletzt wegen ihres ansprechenden Äußeren sehr angenehm aufgefallen. Ihre tiefblauen Augen, die zu ihren schwarzen Haaren kontrastierten, hatten ihn in ihren Bann gezogen. Zwei Tage später lud er sie zu einem Abendessen ein und sie sagte zu. Hatte ihm Johanna schon in ihrer Straßenkleidung gut gefallen, war er hin und weg, als er sie an diesem Abend in einer engen schwarzen Jeans und einer weißen Bluse bewundern durfte, die ihre Weiblichkeit eindrucksvoll zur Geltung brachte. Ihr dezentes Parfüm sprach seine Sinne an. Bei diesem Essen unterhielten sie sich dann so lange, bis der Kellner sie diskret darauf aufmerksam machte, dass das Lokal schließen wollte. Danach saßen sie noch bis zur Morgendämmerung am Mainkai und tauschten sich über ihr Leben aus. Es herrschte gleich eine erstaunliche Vertrautheit, ja fast eine Seelenverwandtschaft zwischen ihnen, als würden sie sich schon lange kennen.

Brunner war, was Beziehungen betraf, ein gebranntes Kind. Schon zweimal waren engere Freundschaften mit einer Frau an den Anforderungen seines Berufes gescheitert. Die auf eine Trennung folgenden schmerzhaften Phasen wollte er nicht mehr erleben. Daher blieben seine Kontakte zum anderen Geschlecht, wenn sie sich zufällig ergaben, stets im beiderseitigen Einverständnis unverbindlich. Meist waren es ungebundene Kolleginnen, die in der Regel die gleichen Probleme hatten und daher für die Umstände seines Berufs Verständnis hatten. Frauen, die auch nichts anderes wollten als gelegentliches Ausgehen und, wenn es sich ergab, unverbindlichen Sex.

Mit Johanna Siedler schien es anders zu sein, obwohl sie ihm gleich beim ersten Treffen freundlich, aber unmissverständlich klargemacht hatte, sie sei wegen der zeitlich unregelmäßigen beruflichen Einsätze nicht an einer festen Bindung interessiert. Freundschaft, ja. Gute Gespräche, ja. Miteinander Spaß haben, ja. Brunner war voll damit einverstanden. Gleichwohl spürte er, dass da noch etwas anderes war. Ein schwer beschreibbarer Zauber, der in den Stunden ihrer Zweisamkeit spürbar wurde. Brunner erlaubte sich nicht oft, über diese Empfindung weiter nachzudenken.

Plötzlich richtete Johanna sich wieder auf und ergriff die beiden Weingläser. Sie reichte Brunner seines und animierte ihn, mit ihr anzustoßen. Beide nahmen einen Schluck.

»Eberhard, ich habe da ein Problem«, begann sie, während sie das Glas in ihren Händen drehte. Er sah sie aufmerksam an. »Es ist beruflich. Stört es dich, wenn ich jetzt darüber spreche?« Der faszinierenden Wirkung ihrer Augen konnte er sich nur schwer entziehen.

»Nein, nein, rede nur.«

»In den letzten drei, vier Monaten sind einige der von uns betreuten Probanden verschwunden. Wir können uns das nicht erklären.«

»Was verstehst du unter verschwunden?«, fragte Brunner.

»Weg, wie vom Erdboden verschluckt. Viele denken, dass Obdachlose ein zielloses Vagabundenleben führen. Auf eine ganze Anzahl trifft das auch zu. Heute hier, morgen dort und dann wieder anderswo. Ja, viele sind Einzelgänger, schwer sozialisierbar. Aber weil es in der Regel entwurzelte Persönlichkeiten sind, pflegen einige im weitesten Sinne eine gewisse Standorttreue und haben ortsspezifische Gewohnheiten, die ihnen eine gewisse Sicherheit geben. Das heißt, sie suchen immer wieder bestimmte Plätze auf, wo sie auch auf andere Obdachlose stoßen. Das sind keine Freundschaften im landläufigen Sinne. Das Leben auf der Straße ist kein günstiger Nährboden für solche Beziehungen. Der Überlebenskampf ist hart. Aber sie kennen sich und wissen ungefähr, wo sich der eine oder andere gerade aufhält. Das ist für uns eine Möglichkeit, einen ungefähren Überblick über die Anzahl der Menschen zu bekommen, die unserer Hilfe bedürfen. Deshalb ist es uns auch aufgefallen, dass drei der bis jetzt verhältnismäßig standorttreuen Obdachlosen verschwunden sind.«

Sie nahm einen Schluck, dann sah sie ihn fragend an.

»Jetzt willst du wissen, ob uns im Morddezernat unbekannte Leichen gemeldet wurden, die wir nicht zuordnen können?«

Sie nickte.

»Also, tatsächlich liegt uns ein Leichenfund vor. Es handelt sich um einen männlichen Torso, den wir gestern aus dem Main gefischt haben.«

Johanna sah ihn verwundert an. »Einen Torso?«

»Ja. Der Leiche wurden sämtliche Extremitäten einschließlich des Kopfes entfernt, dann wurde sie in einem Plastiksack im Main entsorgt. Die Extremitäten haben wir später auch gefunden, genauso verpackt, den Kopf allerdings nicht. Wir haben schon die Vermisstenanzeigen überprüft. Bis jetzt kein Ergebnis. Aber ich vermute mal, bezüglich der abgängigen Obdachlosen wurden keine Vermisstenanzeigen erstellt.«

Johanna verzog geschockt das Gesicht und schüttelte den Kopf, dann stieß sie hervor: »Wer macht denn so etwas, eine Leiche dermaßen zu verstümmeln?«

Brunner zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, was den oder die Täter dazu bewogen hat. Wir wissen auch nicht, ob die Extremitäten vor oder nach dem Tod entfernt wurden.«

»Mein Gott, meinst du wirklich, dass jemand in der Lage ist, einen Menschen auf diese entsetzliche Weise zu töten? Das müssen ja unsägliche Qualen sein!« Ihre blauen Augen waren vor Entsetzen weit geöffnet.

»Leider gibt es in unserem Beruf immer wieder Fälle, bei denen man feststellen muss, dass es keine schlimmere Bestie gibt als den Menschen. Wenn er bei der Verstümmelung noch gelebt hat, dann sicher nicht lange. Er wäre dann sehr schnell verblutet. Das Obduktionsprotokoll liegt bis jetzt noch nicht vor.«

Es dauerte einen Moment, ehe Johanna diese Information einigermaßen verdaut hatte. Schließlich ließ sie sich zur Seite sinken und lehnte ihren Kopf gegen seine Schulter. »Eberhard, bitte nimm mich in den Arm. Ich muss irgendwie die schlimmen Bilder von einer verstümmelten Leiche aus meinem Kopf kriegen.«

Eberhard Brunner ließ sich nicht zweimal bitten.

Todwald

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