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3. Ein Anschlag
ОглавлениеNew York, USA
Montag, 7:00 a.m.
Als ich erwachte und einen Blick auf die Uhr warf, hätte ich mich gern noch einmal umgedreht und weitergeschlafen. Rein subjektiv fehlten mir zwar nur noch sechsunddreißig Stunden Schlaf, und keine zweiundsiebzig, aber ich dachte an meinen Termin beim Captain des Polizeireviers und überwand meinen inneren Schweinehund. Auch wenn ich mich noch nicht annähernd fit fühlte, zwang ich mich, aufzustehen und die Dinge, die da kommen mochten, anzugehen. Ich konnte ja in den nächsten Tagen den letzten fehlenden Schlaf nachholen. Dachte ich.
Nach etwas Morgengymnastik - ein paar Sit-Ups, einigen Liegestützen und ein bisschen Stretching -, einer erfrischenden Dusche und einem durchaus luxuriösen Frühstück war ich für einen weiteren Besuch des Polizeireviers - und des zuständigen Captains - gerüstet.
Der Gang zum Revier war angesichts des kalten und ungemütlichen Wetters kein Vergnügen, doch immerhin war es trocken. Der Wachhabende von gestern Abend hatte seinem Nachfolger Platz gemacht, der mich logischerweise noch nicht kannte. Doch als ich meinen Ausweis vorlegte und einen Termin bei Captain Williamson anmeldete, griff er diensteifrig zum Telefonhörer. Wenig später saß ich im geräumigen und lichtdurchfluteten Büro von Captain Williamson. »Der Captain kommt gleich«, hatte man mir gesagt, »er hatte bis eben einen Termin beim Chief und ist jetzt nur kurz in der Kantine.«
»Danke sehr!«
Dann hatte ich Gelegenheit, mir das Büro des Captains anzusehen. Das große Fenster zeigte nach vorn, zur neunundvierzigsten Straße, und somit auf den Parkplatz des Reviers. Der Schreibtisch war groß und schwer, und neben einem Flachbildschirm fanden die zum unter dem Tisch stehenden Computer gehörenden Maus und Tastatur sowie zahlreiche Akten - sortiert in vier Stapeln - neben dem handelsüblichen Büromaterial gerade so eben ausreichend Platz. »Ob er da den Durchblick behält? Und was wird er mir wohl über meinen Fall sagen können?«, überlegte ich noch, da wurde die Tür geöffnet.
Joseph S. Williamson wuchtete seine Autorität in den Raum. Er war nicht ganz so groß wie ich, mochte allerdings gut sechzig Pfund mehr wiegen. Er begrüßte mich mit den Worten: »Guten Morgen, Mister Carter! Da lerne ich auf meine alten Tage doch noch mal einen Special Agent des FBI kennen. Freut mich!« Er schüttelte mir kräftig die Hand, während seine Augen mit einem lauernden Blick auf mir lagen.
»Danke, angenehm«, gab ich zurück. »Genug der Floskeln«, dachte ich. »Seine Worte stimmen nicht mit seiner Mimik überein.«
Ich betrachtete mir den 'Sohn des Sergeants' genauer. Er war ein mittelgroßer, kräftiger Endvierziger, hatte dichtes schwarzes Haar, einen ebenfalls schwarzen Schnurrbart und wirkte ob seiner recht hellen Hautfarbe ein wenig kränklich. Offenbar hatte er bereits einmal mit meiner Organisation Kontakt gehabt - und scheinbar war kein positiver Eindruck geblieben. »Das muss ja ein herausragender Fall sein, dass so schnell ein Special Agent hier auftaucht ...«
Wieder hatte er die Worte 'Special Agent' so merkwürdig betont. Er starrte mich nicht sehr erwartungsvoll an. Zweifellos war er der Meinung, dass das FBI diesen Fall, der vom Grundsatz her in seinen Zuständigkeitsbereich fiel, nicht wirklich zu bearbeiten brauchte - und schon gar keinen Agenten in seine Ermittlungen einschalten musste.
Aber ich nahm ihm gleich den Wind aus den Segeln: »Tja, Captain ..., es scheint auf jeden Fall kein alltäglicher Fall zu sein. Immerhin kam der Ermordete aus Europa.«
»Hmm«, brummte Williamson. »Also wenn Sie mich fragen, war er einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort.«
»Interessante Theorie.«
Williamson spürte, dass ich mit ihm ebenso gut über das Wetter hätte reden können - mein Tonfall enthielt aber auch nicht den Hauch einer Spur, die seine Theorie unterstützt hätte. Er langte auf seinen Schreibtisch und las in stereotypem Tonfall vor: »Der Bericht! Ebenso kurz wie eindeutig. Der Tote ist David Cartwright, nicht vorbestraft, keine Eintragungen im Polizeiregister - nicht einmal wegen 'Falsch Parken'. Gewicht fünfundsiebzig Kilogramm, Größe ein Meter achtundsiebzig. Der Täter muss - nach Art der Einstiche - ungefähr zehn Zentimeter größer als sein Opfer gewesen sein. Das deckt sich auch mit den Aussagen der beiden Polizeibeamten, die die Tat beobachten aber nicht verhindern konnten und den Mann als kräftig und etwa einen Meter neunzig groß beschrieben haben. Die Tatwaffe war ein Messer, Gewicht exakt zweihundertzweiundzwanzig Gramm, Gesamtlänge zweiundzwanzig Zentimeter, Stahlklinge, Länge fünfzehn Zentimeter, Griff sieben Zentimeter. Sägezahnung auf dem Rücken - ein echtes Mordwerkzeug! Der Tod ist fast augenblicklich eingetreten, zwei Stiche gingen genau ins Herz, der dritte in die Lunge. Es war aber bereits der erste tödlich - so viel ist sicher.«
»Die Arbeit eines Profis?«
»Schwer zu sagen, wenn auch sehr wahrscheinlich. Der Doc meint, es könne theoretisch auch Zufall gewesen sein ..., Sie kennen doch die Mediziner! - Bloß nicht genau festlegen! Immerhin ist das Messer stark genug, um auch ohne genaue anatomische Kenntnisse des menschlichen Körperbaus eine entsprechende Wirkung hervorzurufen! Und das Messer selbst bringt uns auch nicht weiter ..., ist absolut handelsüblich - wenn man es so bezeichnen will; das können Sie in New York an jeder Straßenecke kriegen.«
»Schade. Also auch von der Seite keinerlei Anhaltspunkte«, stellte ich mit Bedauern fest.
»Nein, leider nicht. Praktisch könnte jeder der Täter gewesen sein.« Williamson blieb völlig emotionslos bei dieser Feststellung.
Acht Millionen Einwohner, achtzehn Millionen im Großraum New York ..., und die Touristen! - Ach, so ein Schwachsinn! Ich war verwundert über meine Gedanken.
Der Captain war jedoch schon einen Gedanken weiter: »Todeszeitpunkt um sieben Uhr abends, er kam vom JFK-Flughafen, wo er um ein Uhr mittags aus der Schweiz kommend gelandet war, und hat nachweislich einige Einkäufe unternommen, bevor er weiter zur Penn Station ging. Einer von sechshunderttausend Reisenden an diesem Tag - wie jeden Tag! Also eigentlich ein purer Zufallstreffer.«
Er unterbrach seinen Gedankengang, wirkte nachdenklich und schien dann tatsächlich eine Idee zu haben: »Vielleicht ist es aber auch ein Kriminalfall, der unsere Möglichkeiten bei weitem übersteigt. Immerhin scheint unser Toter ein Mann der alten Schule gewesen zu sein.«
Ich blickte ihn fragend an. Das waren ja unerwartet entgegenkommende Züge! Doch ich sollte meine Meinung schnell wieder ändern. Er konnte ein Grinsen nicht ganz unterdrücken, das mich auf die richtige Spur brachte. Er versprühte blanke Ironie.
Er hatte noch nicht bemerkt, dass ich sein Spiel durchschaut hatte, sondern nickte auf meinen Blick hin eifrig. »Offenbar hat er sich von einigen - wahrscheinlich für ihn wichtigen - Sachen Notizen gemacht, oder er hat sie sich notiert, um sie dann später am Notebook bearbeiten zu können. Auf jeden Fall haben wir in seiner Brieftasche drei Zettel gefunden.«
Also das war es! Er wollte mir die Zettel präsentieren und sich an meiner Miene belustigen, dass ich nichts damit anfangen konnte. Genau wie er und seine Leute! Ich erwähnte nicht, dass ich die beiden beteiligten Beamten tags zuvor getroffen hatte und somit bestens informiert war, sondern fragte nur: »Würden Sie mir die einmal zeigen? Und die anderen Sachen auch bitte. Alles, was der Tote noch bei sich hatte.«
»Natürlich, bitte folgen Sie mir!« Er führte mich in einen Nebenraum.
Auf einem breiten Tisch fanden sich die Habseligkeiten des Ermordeten. Routinemäßig überprüfte ich die Kleidung, eine Jacke, eine Hose, ein Hemd, Unterwäsche und schließlich die Schuhe.
Nichts. - Wie zu erwarten war.
Williamson hatte mir mit stoischer Miene interessiert zugesehen, konnte sich jetzt jedoch ein leichtes Feixen nicht verkneifen. »Da bin ich ja beruhigt, dass auch ein Special Agent vom FBI nichts findet. Meine Jungs haben die Klamotten auch schon durchsucht ..., ebenfalls erfolglos.«
Ich griff nach der Brieftasche. Sie war leer.
Williamson reichte mir eine kleine, durchsichtige Tüte: »Hier sind die drei Zettel. Die suchen Sie doch wahrscheinlich, oder?«
»Ja, danke.« Ich öffnete das Tütchen und ließ die Zettel auf den Tisch fallen. Dann entnahm ich der Innentasche meiner Jacke ein Etui, zog eine Pinzette heraus und betrachtete mir den ersten Zettel genauer.
Es waren Buchstaben und Zahlen aufgeschrieben, die für mich aber keinen Sinn ergaben. Offenbar handelte es sich um Abkürzungen oder um Anweisungen. Außerdem hatte jemand den Zettel entweder mitgewaschen oder ein großes und übervolles Glas draufgestellt, denn er wies deutliche Spuren von Wassereinwirkung auf. Ein Teil der linken Seite war unleserlich, da verschwommen, oder sogar gänzlich abgerissen - infolge des Aufweichens -, und der ursprünglich schon nicht einfach zu entziffernde Buchstaben- und Zahlensalat - womöglich ein Code - somit vollständig ein Fall für Spezialisten mit technischen Möglichkeiten, von denen die Beamten in diesem Revier nicht einmal zu träumen wagten.
Also, sollten sich die Kollegen im Hauptquartier damit auseinandersetzen. Wofür hatten wir schließlich eines der teuersten Labore der Welt für diese Fälle! Immerhin arbeiteten im Hauptquartier des FBI mehr Kriminaltechniker, die einem jede Menge über Chemie, Physik, Biologie, Genetik, Psychologie und das weite Feld der EDV erzählen konnten, als Agenten, die die eigentliche, ursprüngliche, Polizeiarbeit leisteten, indem sie im Land unterwegs waren.
»Ich nehme an, Sie haben das übliche Prozedere noch nicht durchgeführt. Fingerabdrücke, DNS-Analyse, Schriftbild ...«
»Nein, das habe ich noch nicht veranlasst. Als ich heute Morgen hörte, dass Sie kommen würden, habe ich extra auf Sie gewartet. Nur das Tatwerkzeug, das Messer, habe ich per Eilboten zu Ihrer Dienststelle bringen lassen. Es sollte sofort ins Labor. Offenbar trauen sie unserem nicht.«
Wieder war ein leicht ironischer und diesmal auch missbilligender Unterton in seiner Stimme, doch ich ging nicht darauf ein, sondern erklärte ihm: »Unsere kriminaltechnische Abteilung findet alles! Selbst wenn der Täter nur ein Atom zurückgelassen hat ...«
»Hmm«, brummte er. »Auch unsere Jungs verstehen etwas von ihrem Handwerk. Und deren Geräte sind nicht aus der Steinzeit.«
»Ich will Ihr Labor nicht in Misskredit bringen, Captain. Aber unsere Techniker arbeiten in einem der besten und teuersten Labore der Welt. Denen stehen ganz andere Möglichkeiten zur Verfügung, glauben Sie mir. Die werden schon etwas finden, verlassen Sie sich drauf! Vielleicht nicht heute und auch nicht morgen, aber sie werden etwas finden.«
»Davon gehe ich auch aus.« Jetzt klang er fast erleichtert. Woher dieser plötzliche Stimmungsumschwung? War er vielleicht froh, diesen unangenehmen Fall abgeben zu können? Ich sah mir den Zettel noch einmal an. »Wie konnte es anders sein«, murmelte ich dann.
»Wie bitte?«
»Ach, es wäre ja auch zu schön gewesen. Immerhin hätte er doch auf den Zettel einen Hinweis schreiben können, der uns direkt zum Täter führt.« Ich lachte ein freudloses Lachen.
»Na, dann schauen Sie sich doch den zweiten und dritten Zettel einmal an!« Die Spur eines Triumphes lag in den Augen des Captains, doch sie verschwand schnell wieder.
Ich legte den ersten Zettel wieder sorgfältig auf den Tisch und angelte mit der Pinzette nach dem nächsten.
»Das ist der zweite, auch er mit Zahlen und Buchstaben versehen. Meiner Meinung nach dürfte es sich um Abfahrtszeiten von Zügen handeln. Und der dritte enthält zur Abwechslung Wörter.«
Ich musterte den zweiten kurz, wurde aber auf den ersten Blick aus dem Inhalt ebenso wenig schlau wie aus dem ersten. Allerdings stimmte ich dem Captain zu, dass es sich um irgendwelche Abfahrts- und Ankunftszeiten handeln durfte. Das sollte einigermaßen einfach herauszufinden sein.
Ich legte ihn neben den ersten. Dann angelte ich mir den dritten. Und in der Tat. Hier standen endlich einmal Wörter, mit denen man sofort etwas anfangen konnte. Immerhin ein Name und ein paar Begriffe!
»... phie, vielleicht Sophie, ein Name?«, überlegte ich. »Rudolf Steiner, keine Vorstellung, ein weiterer Name; Goetheanum ..., Goethe - der deutsche Dichter? Dornach, Schweiz, Europa, neutrales Land, in Genf Sitz der UN ...«
»Den Namen haben wir bereits durch den Computer gejagt. Rudolf Steiner gilt als der Begründer der Anthroposophie. Das dürfte also das erste Wort erklären. Er wurde im neunzehnten Jahrhundert in Europa geboren, in Kroatien, und er starb im zwanzigsten Jahrhundert in der Schweiz. Dort hat er das Goetheanum errichten lassen.«
In der Schweiz! Das war also klar. Und der erste? Keine Ahnung! Aber das musste dieser famose Captain ja nicht wissen! »Veranlassen Sie bitte, dass auch diese Sachen und vor allem die Zettel so schnell wie möglich ins FBI-Hauptquartier gebracht werden!«
»Selbstverständlich.« Er schien froh zu sein, diesen Fall auf so einfache Weise los zu werden. Offenbar scheute er politische Verwicklungen. Dass er mir nebenbei zu verstehen gegeben hatte, dass auch wir beim FBI nur mit Wasser kochen, war für ihn wahrscheinlich das Highlight der Woche. Nun, mir waren solche Animositäten geläufig, und ich hatte längst gelernt, mit ihnen umzugehen.
»Ja, Captain, dann bedanke ich mich für heute, und sofern doch noch ein vierter Zettel auftauchen sollte ...«
» ... sende ich ihn natürlich umgehend nach«, versprach mir Williamson in feierlichem Ton.
»Danke, Captain.«
*
Ich verließ das Gebäude und folgte bald der Madison Avenue gen Süden, in Richtung Grand Central Station.
Ich war noch nicht lange unterwegs als mich wieder ein seltsames Gefühl überkam. Ich blieb kurz stehen und sah mich unauffällig um. Ein Typ in schwarzer Lederjacke und Camouflage-Hose starrte mich an, doch dann verlor sich sein Blick in der Ferne. Er hatte sich mehr als nur drei Tage nicht rasiert, seine Haare standen wirr zur Seite, und jetzt entfernte er sich mit langsamen Schritten in die entgegengesetzte Richtung.
»Was der wohl sucht?«, fragte ich mich und betrachtete weiter meine Umgebung. Auf der viel befahrenen Straße erspähte ich ein schwarzes Cabriolet, eine Corvette C6, die sich aus dem allgemeinen Verkehrsstrom durch eine extrem langsame Fahrweise abhob. Als ich jedoch den suchenden Blick der Frau am Steuer bemerkte, konnte ich auch diese auf den ersten Blick ungewöhnliche Situation als harmlos einstufen.
Nun fiel mir eine junge, dynamische Frau in einem eleganten dunklen Kostüm auf. Sie war schlank, dunkelblond und trug ihre Haare streng nach hinten gekämmt, wo sie zu einem Zopf gebunden waren. Während sie in forschem Schritt mit freiem Blick geradeaus den Gehsteig entlang stürmte, hielt sie ihre linke Hand am Ohr: sie telefonierte. Dabei machte sie den Eindruck als ob sie zehn Sachen auf einmal erledigen - nein: arrangieren - konnte.
Als ich noch überlegte, wie sie es bei diesem Verkehr und ihrem Tempo schaffte, niemanden zu behindern oder gar anzurempeln, signalisierte mein Telefon einen Anruf: Christina. Sie kam ohne Umschweife direkt zur Sache: »Hallo, John! Ich habe eine Verbindung mit unserem Chef hergestellt! Du musst nur noch auf Konferenzmodus gehen.«
Ich betätigte die entsprechenden Tasten, und auf dem nunmehr geteilten Bildschirm erschien neben dem Gesicht von Christina dasjenige meines Chefs. Seine dunklen Augen standen in faszinierendem Gegensatz zu dem vollen grauen Haar und dem ebenfalls grauen und wohlgestutzten Schnurrbart. Dieser Kombination verdankte er zu einem nicht unerheblichen Teil den Respekt, den ihm nicht nur seine Untergebenen und Mitarbeiter, sondern alle Menschen entgegenbrachten. Aus seiner Mimik konnte man nie irgendwelche Schlüsse auf seine Gedankengänge oder Gefühle ziehen, er wusste sich stets meisterlich zu beherrschen und machte den Eindruck als ob er ein Nachfahre der Ureinwohner Amerikas - der Indianer - sei, die es ebenfalls meisterlich verstanden, ihre Gefühle und Emotionen unter Kontrolle zu halten. - Selbstbeherrschung bis zum Äußersten! Ich hatte ihn in der jüngeren Vergangenheit des Öfteren zu Gesicht bekommen, das letzte Mal vor gerade einmal drei Tagen. Doch dieser Ausdruck in seinen Augen, den ich meinte heute zu beobachten, war in früheren Gesprächen noch nicht da gewesen. Allerdings verriet dieser Ausdruck nicht, was ihn bewegte, und es konnte ebenso gut eine Täuschung sein.
Seiner Stimme war jedenfalls nichts anzumerken, denn sie klang sonor und ruhig wie immer als er mich begrüßte: »Hallo, John! Wie geht es Ihnen?«
»Guten Tag, Sir! Danke sehr, so weit ganz gut. Wenn ich allerdings bedenke, dass ich eigentlich Urlaub habe ...«
»Ja, ich weiß«, unterbrach er mich, »und ich habe es auch nicht gern getan - das können Sie mir glauben! Immerhin weiß ich, dass Sie diese zwei Wochen mehr als verdient und vielleicht sogar auch nötig hatten. Aber ich brauchte so einen wie Sie für diesen Fall.«
Ich zog verwundert die Augenbrauen hoch. »Zwei? Drei Wochen sind es doch eigentlich ...!«, dachte ich, entgegnete jedoch nichts.
»Wie weit sind Sie mit Ihren Ermittlungen denn bisher gekommen?«, wollte er wissen.
Trotz meiner - wie ich annahm - recht eindeutigen Mimik erwähnte er keine Details dieses Falles, sondern wollte offenbar so schnell wie möglich Resultate sehen. Ich fasste meine bis dahin eingeholten Informationen kurz zusammen: »Nun ja, Sir ..., der Tote ist identifiziert, die Fahndung nach dem Täter läuft, der Tathergang ist lückenlos rekonstruiert ..., und die örtliche Polizei scheint soweit alles im Griff zu haben. Nur der Mörder fehlt halt noch.«
»Und das Motiv«, ergänzte Christina.
»Und das Motiv«, bestätigte ich. »Allerdings sind die Beamten hier der Meinung, dass es sich um einen einfachen Raubmord handelt - immerhin dürfte es sich nach Aussagen der beiden Polizisten bei der Tasche um ein Notebook handeln - das bringt dem Täter ein paar Dollar ein.«
»Je nach dem wie neu es war, sogar bis zu dreihundert Dollar!«, fügte Christina hinzu.
Doch unser Chef äußerte sich nicht zu unseren Überlegungen. Beinahe dreißig Sekunden herrschte Stille in unserer Konferenz, dann erst fragte er: »Und was ist mit den Zetteln aus der Brieftasche des Opfers?«
»Die Zettel ...? - Oh ja, die drei Zettel! Ich habe Kopien, die mir der Captain überlassen hat. Die Originale sind bereits auf dem Weg nach Washington - zu Ihnen ins Hauptquartier. Sie müssten heute Nachmittag eintreffen. Sämtliche Sachen des Opfers wurden im Polizeilabor eingehend untersucht, mit den Zahlen und Buchstaben können die Experten allerdings auch nichts anfangen.«
Wie zufällig glitt mein Blick in dem Moment zur Seite. Ein wildes Hupkonzert lenkte meine Aufmerksamkeit auf ein Auto, das langsamer als die übrigen fuhr und infolgedessen diese Reaktion beim Hintermann provoziert hatte. Ich erfasste drei Personen, drei Männer, und einer zielte mit einem metallisch schimmernden Gegenstand auf mich. Die Stimme meines Chefs klang wie unendlich weit weg: »Das ist eindeutig ein Fall für unsere ...«
»Vorsicht!«
Die Wucht des Stoßes war enorm. Die Person, die sich mit dem Schrei auf mich gestürzt hatte, trieb mich drei bis vier Meter in Richtung Häuserwand - bevor wir beide zu Boden gingen. Wenige Fuß über uns spritzten Gesteinssplitter aus der Wand. Ich drehte mich schnell weiter, die Person, die mich umgerissen hatte, mit mir ziehend. Dann ließ ich sie los und begab mich mit einer Judorolle aus ihrer näheren Umgebung.
Keine Sekunde zu früh. Nur wenige Zoll neben meinem Bein schlug eine weitere Kugel ein. Neben uns heulte ein Motor auf, es quietschten Reifen, und das Auto schoss davon. Die Kugeln hatten mir gegolten und hätten definitiv auch getroffen, wenn ich nicht zur Seite gestoßen worden wäre. Das war mir innerhalb von Sekundenbruchteilen klar. Ich zog meine Waffe, sprang auf und erkannte sofort, dass an einen gezielten Schuss nicht mehr zu denken war, wenn ich nicht das Leben von Unbeteiligten riskieren wollte. Darauf versuchte ich, irgendetwas an dem Auto zu erkennen. Doch es war auch dafür zu spät - das Auto hatte sich so schnell entfernt, dass ich nicht einmal mehr das Nummernschild erkennen konnte. Lediglich den Autotyp, ein dunkler Opel Omega, hatte ich erkannt. Der Fahrer musste ohne Rücksicht auf etwaige andere Verkehrsteilnehmer extrem beschleunigt haben. Ich drehte mich um.
Mein Retter war eine Frau, eine Chinesin, deren lange dunkle Haare teilweise über ihr Gesicht fielen. Offenbar hatte sie sich bei dieser Aktion mehr erschrocken als ich. Ich streckte ihr die Hand entgegen und half ihr wieder auf die Beine. »Vielen Dank! Sie haben mir soeben das Leben gerettet!«
Mit gesenktem Kopf stand sie vor mir. Sie schien völlig verschüchtert. Ich fasste sie an beiden Schultern und erkundigte mich: »Sind Sie verletzt? Tut Ihnen etwas weh?«
Sie hob ihren Kopf, holte tief Luft und brachte in gebrochenem Englisch einige unzusammenhängende Worte hervor. Doch dann schien sie sich zu konzentrieren und plapperte drauf los: »Das Auto fuhr genau auf Sie zu ... - direkt ..., quer über die Straße! Ich wusste nicht, was ich ...!«
Sie brach ab und betrachtete erst mich, der ich wahrscheinlich ein wenig staubig aussah, und dann meinen Communicator, der mir bei der Rettungsaktion entfallen war und wenige Schritte von uns entfernt lag. »Es tut mir leid ..., ich wollte Sie nicht verletzen oder etwas kaputt machen ..., ich wollte nur ...«
Ich sah in ihre großen dunklen Augen. »Ich bitte Sie! Sie haben mir das Leben gerettet! Da kann von verletzen oder kaputt machen doch keine Rede sein!«
Ich überlegte, wie ich meiner Retterin kurzfristig danken konnte. Vielleicht sollte ich sie auf einen Kaffee einladen? »Wie kann ich Ihnen danken?«, fragte ich.
»Ich ..., ich weiß nicht ..., ich habe doch gar nichts ...«, stammelte sie noch immer reichlich verschüchtert.
»Darf ich Sie vielleicht auf einen Kaffee einladen?« Ich setzte ein gewinnendes Lächeln auf.
Zum ersten Mal im Lauf unseres Gespräches schaute sie mich direkt an. Nach und nach zeichnete sich ein Lächeln um ihren Mund ab, dass mir signalisierte, dass sie einem Kaffee nicht abgeneigt war. »Nur einen Moment, bitte ...« Ich hob meinen Communicator auf. »Ich muss das Gespräch erst noch beenden ..., dauert aber nur ein paar Sekunden.«
»Okay.« Das Lächeln verstärkte sich.
Bezaubernd! Ich stellte fest, dass die Verbindung gehalten hatte. Christinas Gesicht barg Sorgenfalten. »Hallo, John! Was ist denn passiert?«, erkundigte sie sich.
»Man hat gerade versucht, mich zu erschießen«, informierte ich sie trocken.
»Was?«, hörte ich meinen Chef rufen. Auch er war also noch immer in der Leitung.
»Ja, ich habe viel Glück und eine Lebensretterin gehabt.« Ich sah meine neue Bekannte mit einem Augenzwinkern an.
Sie lächelte wieder leicht, gab sich schüchtern. - Wirklich bezaubernd! Dieser Typ Frau weckt doch in jedem Mann den Beschützerinstinkt.
»Das darf ja wohl nicht wahr sein!«, kommentierte Christina das Ereignis. Sie war sichtlich schockiert.
»Tja ..., genau das habe ich auch gedacht und wollte ...«
Mein Chef unterbrach mich: »Sie rühren sich nicht von der Stelle, John! Keine weiteren Aktivitäten, tauchen Sie kurze Zeit unter. Wir werden sofort ein paar Nachforschungen anstellen. Wir melden uns bald wieder!«
Ich hatte meinen Chef noch nie so erlebt. Normalerweise war er durch nichts zu erschüttern und leitete seine 'Geschäfte' in aller Ruhe und Gelassenheit. Nie hatte einer seiner Angestellten erlebt, dass er seinen Gleichmut oder die Contenance verloren hätte. Aber der Ausdruck in seinen Augen, der sogar über den Minibildschirm meines Communicators sichtbar wurde, ließ vermuten, dass auch er irgendwo eine psychische Grenze hatte - und die schien in nicht mehr allzu weiter Ferne zu sein.
»Jawohl, Sir!«
Ich klappte den Communicator zu und verstaute ihn in meiner Jacke. Untertauchen sollte ich, nun denn. Da gab es ein paar Möglichkeiten: »Und, wohin darf ich Sie entführen?«, wandte ich mich an meine Lebensretterin.
»Och ..., ich wollte eigentlich demnächst eine Kleinigkeit essen, aber ...«
Wieder dieses verschmitzte Lächeln! »Und ich habe Sie davon abgehalten? Welch ein Unglück!«, scherzte ich.
»Aber Sie können es ja wieder gut machen.« Sie bedachte mich mit einem geheimnisvollen Blick aus ihren mandelförmigen Augen.
»Aber selbstverständlich! Mögen Sie gern Fisch?«
Sie nickte.
Ich hätte sie spontan umarmen mögen, beherrschte mich aber. Wahrscheinlich wäre das nicht ganz schicklich gewesen. So lud ich sie mit einer Geste ein, mir zu folgen. Ich führte sie einige Umwege, bis ich mich davon überzeugt hatte, dass uns niemand folgte, und wenig später betraten wir die Oyster Bar, im Untergeschoss der Grand Central Station. Das Lokal war gut besucht, doch wir bekamen sofort einen Platz.
»Wie heißen Sie eigentlich?«, fragte ich, nachdem wir uns gesetzt hatten. Ich hatte meine gute Laune wieder gefunden.
»Mai Li Mei«, erwiderte sie mit glockenreiner Stimme.
»Mein Name ist John, John Carter.«
»Angenehm John Carter.« Sie lächelte ihr bezauberndes Lächeln und reichte mir ihre kleine Hand.
Wir bestellten zunächst etwas zu trinken.
Ich stellte fest, dass ich mich verletzt hatte. Der Sturz musste doch unglücklicher verlaufen sein als zunächst vermutet. Meine Schulter schmerzte, sie war wahrscheinlich geprellt oder verrenkt. Vorsichtig machte ich ein paar kreisende Bewegungen. Ich wusste es ja: Ich brauchte dringend Urlaub!
»Haben Sie sich verletzt?«
»Nein! Nicht wirklich. Vielleicht ein bisschen verstaucht oder verrenkt oder so ...«
Sie trat hinter mich. »Gerade Hinsetzen!«, kommandierte sie.
Ich war verwundert, gehorchte jedoch.
Sie begann mich sanft zu massieren. Nach wenigen Minuten fühlte ich mich besser als je zuvor! Sie schien es zu bemerken: »Die chinesische Medizin basiert auf der Theorie, dass sich das Chi im Körper in zwei einander ergänzenden Qualitäten zeigt, in Yin und Yang.«
»Chi ..., das Ki der Japaner - die universelle Lebensenergie!«, schoss es durch meinen Kopf.
»Für die Gesundheit des Menschen ist es wichtig, dass das männliche Yang und das weibliche Yin im Gleichgewicht sind und dass das Chi gleichmäßig fließt. Denn Körper, Seele und Geist sind eine untrennbare Einheit, gehören zusammen, und Krankheit ist eine aus dem Gleichgewicht geratene Gesundheit. Die Behandlung zielt auf Wiederherstellung des Yin-Yang-Gleichgewichts und auf die Normalisierung des ChiFlusses. Dazu benutzen wir Techniken wie Akupressur, Akupunktur und Tai Chi.«
»Ich bin begeistert. Ehrlich.«
Sie lächelte schüchtern. »Die meisten Ärzte in eurer Welt behandeln zumeist nur die Symptome ..., unsere Medizin hingegen wirkt ganzheitlicher - sie packt das Übel bei der Wurzel.«
»Das ist also so in etwa wie beim Fußball, beim Elfmeter.«
»Wie das?«
»Tja ..., wenn man einen Elfer verursacht, dann kann man die Wirkung bekämpfen, sprich der Torwart kann versuchen, den Ball beim Elfmeter zu halten. Aber besser wäre es natürlich, wenn man ihn erst gar nicht verursachen würde!«
Sie lachte. Herzerfrischend, natürlich, unbefangen. »Stimmt, aber ich hätte nicht gedacht, dass Sie Ahnung von Fußball haben ..., eher von Baseball oder Eishockey.«
»Och, dank meines Vaters ist mir dieser Sport nicht fremd. Durch ihn habe ich europäische Wurzeln, und er selbst hat auch einmal gespielt.
In dem Moment wurden die Getränke serviert. Meine Gegenüber bekam ein Kännchen angenehm duftenden Tee, ich ein großes Glas Organgensaft und ebenfalls einen Tee.
Ich prostete ihr zu. »Auf meine Lebensretterin!«
Sie lächelte wieder ihr schüchternes Lächeln. »Auf Ihre Gesundheit!«
»Oh ja, danke. Ein paar neue Energieressourcen können wirklich nicht schaden.«
Sie nickte. »Meine Landsleute verhalten sich prinzipiell auch etwas anders ...«
»Ach!« Ich grinste.
»Ja ja«, erklärte sie lachend, »wir gehen nämlich nicht erst dann zum Arzt, wenn wir krank sind, sondern wenn wir noch gesund sind. Dann ist das Gleichgewicht noch nicht so gestört, und man kann es noch mit relativ geringem Aufwand zurück erlangen.«
»Ach so!« Ich gab mir einen ernsthaften Anschein. »Also ungefähr so wie wenn man Winterreifen schon vorher aufzieht, und nicht erst, wenn es schneit, ja?«
»Genau so.« Sie nickte und lachte wieder. »So ist auch unsere Anschauung. Früher haben die Menschen durch Naturbeobachtung herausgefunden, dass es viele unterschiedliche Lebewesen, also auch Menschen, gibt. Auch in China, wir sind ja ein großes Land, etwa so groß wie die USA ...«
»Nur mit fünfmal so vielen Einwohnern«, warf ich lachend ein.
»Ja, und jeder Mensch hat so seine eigenen Angelegenheiten. Aber es gibt eine Sache, die gilt für alle: die Sonne. Und daraus wurde dann später der Sohn der Sonne, der derjenige war, der für alle, für das Volk, sorgen musste.«
»Die wurde ja bei vielen alten Kulturen verehrt.«
»Kein Wunder! Immerhin spielt sie keine ganz unwichtige Rolle in unserem Leben.«
Ich lachte. Meine Zufallsbekanntschaft gefiel mir. Guter Humor! Mit ihr konnte man gewiss viel Spaß haben - und viel lachen.
»Ja, wirklich«, erklärte sie mit ernsthafter Miene, »die Sonne scheint überall, und es gibt überall Menschen. Und ist nicht jede Medizin gut, die dem Menschen hilft? Wenn einer Person aus Los Angeles eine Medizin aus New York hilft, dann ist es doch gut. Oder einem Amerikaner eine chinesische Kräutermischung.«
»Oder einem Chinesen eine amerikanische Operationsmethode.«
»Ja, genau! Jeder so wie er kann!«
»Das nenne ich mal Globalisierung!«
Ich beobachtete, wie sich der Teesatz am Boden sammelte und wie heißer Dampf aufstieg. Es duftete nach wie vor ganz angenehm. Ich will nicht sagen, nach Urlaub, aber es gestaltete den Gedanken etwas erträglicher, dass ich vor nicht allzu langer Zeit aus meinen Urlaubsträumen gerissen worden war. Ich nippte leicht. Der Tee war noch sehr heiß.
»Was machen Sie denn beruflich, wenn ich das fragen darf? Sind Sie Polizist?«
»So etwas ähnliches«, erwiderte ich. »Natürlich dürfen Sie fragen, es ist kein Geheimnis, jedenfalls sollte es das unter uns nicht sein.«
»Ah! Sie haben vorhin eine Judorolle gezeigt. Beherrschen Sie diesen asiatischen Sport?«
»Auch. Ich bin bei der Bundespolizei, da gehört so etwas zur Grundausbildung. Und mir persönlich hat es auch nicht geschadet; die Budokünste, die ich betreibe, führen über körperliche Übungen zur geistigen Reife. Man lernt sein eigenes Selbst kennen und als Höhepunkt der Ausbildung auch irgendwann beherrschen. In China gibt es doch Klöster, in denen Mönche Kung Fu betreiben, kennen Sie das vielleicht?«
»Ja, die Grundlage dafür bietet die Zen-Philosophie. Shaolin-Mönche versuchen Geist, Seele und Körper in Harmonie zu bringen. Sie lernen ihr Chi, die Lebensenergie, zu trainieren, so dass ihr Geist den Körper beherrscht. Erst dann sind sie in der Lage zu ihren spektakulären Kampfvorführungen und atemberaubenden Kunststücken. Dabei lernt man auch, dass es nichts Einseitiges gibt auf der Welt; Yin und Yang sind überall in der Natur ...«
Das Essen wurde gebracht. Sie brach ab und füllte mir den Teller mit einer kleinen Portion von ihrem Menü. »Probieren Sie einmal!«
»Danke, gern.«
Doch ich stellte schnell fest, dass es für mich eine Spur zu scharf war und bediente mich von meinem Menü. Als ich den ersten Bissen zum Mund führen wollte, signalisierte mein Communicator einen Anruf. »Entschuldigung!« Ich griff nach dem Telefon: Christina - wie zu erwarten war!
»Hallo, Christina!«
»Hi, John! Wir haben ein paar Nachforschungen angestellt, ich werde dir gleich berichten. Aber zunächst möchte der Chef mit dir reden ...«
»Okay.« Ich wunderte mich, dass er inzwischen beschlossen hatte, nicht mehr sein Telefon zu benutzen, sondern bei seiner Sekretärin auf meinen Anruf gewartet hatte. Vielleicht war ihm die letzte Konferenz auf den Magen geschlagen?
Da erschien er auch schon im Bild und legte direkt los: »Hallo, John! Ich habe ein paar Leitungen glühen lassen, und wir sind hier zu einem ersten Ergebnis gekommen. Es war eindeutig ein Anschlag gegen Sie. Überwachungskameras haben den Wagen gefilmt, wir haben das Kennzeichen überprüft, der Wagen war gestohlen! Hinweise auf den oder die Täter gibt es keine nennenswerten. Diese Aktion wirft selbstverständlich eine Menge Fragen auf, die auch ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht beantworten kann. Aber dass wir der Sache nachgehen müssen, scheint mir wirklich unerlässlich.«
Mein Chef machte eine kurze Pause, und ich überlegte, was jetzt kommen würde. Ich dachte an meinen Urlaub, meine Sachen am Flughafen von L. A., das Appartement auf Hawaii - drei Wochen fernab aller Alltagsprobleme.
Doch ich sollte gleich wieder einmal daran erinnert werden, dass mein Chef ein Mann mit Prinzipien war, denn die Geschichte nahm in den folgenden Minuten Formen an, die ich nicht für möglich gehalten hätte. Er fuhr fort: »Wir haben zwar noch keine Spur von den Ganoven, die es auf Sie abgesehen hatten, aber inzwischen ein Ergebnis von Cartwrights Mörder. Er hat uns einen genetischen Fingerabdruck hinterlassen. Die Fahndung läuft bereits auf Hochtouren.«
»Und sein Name?«
»Tja ... das ist so eine Sache. Nach Abfrage bei Interpol und unseren Geheimdiensten hat Christina eine Liste von nicht weniger als zehn Namen zusammen gestellt. Und das sind nur die gängigsten, die er benutzt!«
»Ein Profi durch und durch.«
»So sieht es aus. Aber trotzdem werden wir ihn kriegen - wir haben seine DNS!«
»Verbrechen zahlt sich eben nicht aus«, bemerkte ich.
»So ist es. Und es ist unsere Aufgabe, diesen Fall aufzuklären. Unter allen Umständen.«
Der Tonfall dieser Ankündigung überraschte mich. Atemlos lauschte ich den weiteren Anweisungen meines Chefs. Seine Stimme klang eindringlich, sie hatte etwas Beschwörendes: »John, ich würde es sehr begrüßen, wenn Sie den Fall weiter verfolgen würden. Auch wenn das bedeutet, dass Sie Ihren Urlaub noch weiter verschieben müssen.«
»Aber, Sir ...«
»Ich weiß, Sie haben ihn mehr als reichlich verdient, aber ich bin der Ansicht, dass es unsere Pflicht ist, die Sache so schnell und so umfassend wie möglich aufzuklären. Gerade dieses Attentat ist mir mehr als Beweis genug, dass es gegebenenfalls nicht einmal reichen würde, nur den Mörder aufzuspüren. Wir müssen die Hintergründe ermitteln und aufdecken!«
»Sehen Sie denn einen Zusammenhang mit den anderen Todesfällen, Sir?«
»Mit den ermordeten Ausländern? Hmm, ich weiß nicht, John. Christina berichtete mir bereits davon, und ich will natürlich nichts ausschließen. Das wäre zum jetzigen Zeitpunkt noch viel zu früh. Auch unser Büro in New York hat da noch keine nennenswerten Ergebnisse vorgelegt. Immerhin kam Cartwright ja aus dem Ausland, vielleicht besteht da eine Verbindung, irgend ein Kontakt ...«
»Sie meinen die Zettel, Sir!«
»Genau. Wann haben Sie jemals einen so eindeutigen Hinweis erhalten, um einen Fall aufzuklären? Das muss doch anmuten wie ...«
»Danke, Sir. Wenn Sie Urlaub sagen wollten, den habe ich bereits.«
»Ich weiß, ja. Aber stellen Sie sich einfach vor, dass Sie Ihren Urlaub in Europa verbringen! Die Schweiz ist auch sehr reizvoll ..., alles sehr ruhig und beschaulich, angenehmes Klima, phantastische Landschaft, nette Leute, präzise funktionierende Uhren ...«
»Jawohl, Sir. In der Schweiz war ich sogar schon einmal. Mit einer Freundin - zum Ski fahren. Nur unter Urlaub hatte ich mir eigentlich etwas anderes vorgestellt.«
»Carter?«
»Ja, Sir?«
»Ungewöhnliche Ereignisse erfordern ungewöhnliche Maßnahmen.«
»Ja, Sir!« Ich unterdrückte ein Seufzen.
Meinem Chef war mein Zögern offenbar nicht entgangen. »Ich kann es Ihnen nicht befehlen, John«, sagte er, und seine Stimme klang seltsam belegt. »Die Zuständigkeiten amerikanischer Behörden beschränken sich auf ihr eigenes Territorium, analog zu anderen Staaten. Aber ich würde es wirklich sehr begrüßen, wenn Sie den Fall weiter verfolgen würden.«
»In Ordnung, Sir.«
»Danke, John. Es gibt allerdings eine Bedingung: Sie dürfen keine Waffen mitnehmen und müssen auch Ihre Dienstmarke abgeben. Sehen Sie es quasi aus der Sicht eines normalen Touristen - wie Urlaub. Sie geben sie am besten am Flughafen ab; ich werde veranlassen, dass sie dort abgeholt werden.«
»Meine Dienstwaffe, Sir?« Ich mochte nicht glauben, was er mir da vorschlug.
»Ja, Sie werden ohne fliegen - unbewaffnet.«
»Aber ...«
»John, Sie waren kaum mit dem Fall betraut, und schon verübt jemand einen Anschlag auf Sie. Und so viel ich weiß, haben Sie keine wirklich heißen Spuren seit Ihrer Ankunft in New York verfolgt. Trotzdem scheint eine fremde Macht ausgesprochen ungehalten zu sein - ob Ihrer Einmischung. Da stimmt irgend etwas nicht. Ganz sicher nicht!«
»Vielleicht habe ich ja in ein Wespennest gestochen und weiß nichts davon.« Ich versuchte ein wenig Humor beizusteuern, doch die beiden gingen nicht darauf ein. »Weshalb soll ich denn auch noch Dienstausweis und Marke abgeben? Wenigstens ausweisen muss ich mich doch dürfen! Reicht es nicht, wenn ich meine Waffe hier lasse?«
»Nein, das wäre nur die halbe Miete.«
»Ts ts, so etwas hat es noch nie gegeben - nur bei einer Suspendierung!«
»Ungewöhnliche Maßnahmen«, schaltete sich nun Christina wieder ins Gespräch ein. Ihr Gesicht erschien neben demjenigen meines Chefs. »Die Europäer sind immer noch ein wenig verstimmt wegen der geheimen Kommandooperationen der CIA. Die Sache ist da beileibe noch nicht vom Tisch, da hat ein FBI-Beamter außerhalb seines Zuständigkeitsbereiches gerade noch gefehlt.«
»Ja, Sie müssen den Fall sozusagen als Privatperson lösen, stehen aber mit uns natürlich in engem Kontakt. Christina wird Sie mit Informationen versorgen, noch bevor Sie über europäischem Luftraum sind! Ich werde ihr Zugang zu gewissen Datenbereichen verschaffen.«
»Ich verstehe, Sir. In Ordnung.«
»Gut. Die Spur führt also in die Schweiz, definitiv. Und da dieser Staat nach wie vor in Europa liegt, befindet er sich außerhalb Ihres und unseres Zuständigkeitsbereiches. Was meinen Sie, würde der Direktor sagen, wenn ich ihm erzählen würde, dass ich Sie nach Europa geschickt habe? Dienstlich?«
»Vermutlich wäre er hell auf begeistert.«
»Verdammt richtig. Und die Damen und Herren im Pentagon, im Weißen Haus und unsere Kollegen von den Geheimdiensten, in deren Bereich das fallen würde, vermutlich nicht minder. Also ..., damit Sie nicht noch mehr Staub aufwirbeln - und schon gar keinen in unserer Behörde! -, bevor wir wissen, um was es eigentlich geht, werden Sie sich als Tourist tarnen und den Fall sozusagen privat untersuchen!«
»Wie Sie meinen, Sir.«
»Er ist von mir schließlich offiziell genehmigt, und Sie sind damit bereits beauftragt. Ich werde Sie gegenüber dem Direktor und nach außen hin decken, John, denn der Fall ist mir sehr wichtig. Sie können sofort loslegen, wenn Sie einverstanden sind!«
»Ja, Sir.«
»Kleiden Sie sich als Tourist ein. Koffer, Tasche, Bekleidung ..., was Sie brauchen. Bei den Spesen werde ich einmal ein Auge zudrücken, wenn Sie es nicht übertreiben!«
Christinas Augen wurden immer größer!
»Ihr Flug geht heute am späten Nachmittag, Christina hat bereits ein Ticket reserviert. Morgen zum Frühstück sind Sie in der Schweiz. Viel Glück, passen Sie auf sich auf!«
»Danke, Sir!«
Typisch unser Chef. Sein Name Wellington kam nicht von ungefähr, später wollte er sich auf Neuseeland zur Ruhe setzen und vielleicht ein paar Schafe züchten. Aber seine letzten Dienstjahre waren wir seine Schäflein, die er zu leiten hatte. Und wenn er sich einmal etwas vorgenommen hatte, dann wurde das auch umgesetzt.
Anschließend versorgte mich Christina mit einigen näheren Informationen und meinte dann tief aufseufzend: »Diesmal würde ich wirklich liebend gern mit dir tauschen!«
»Was den Teil mit dem Shopping angeht, selbstverständlich.«
»Selbstverständlich. Und den Trip nach Europa würde ich zur Not auch noch machen - ein wenig Urlaub in der Schweiz und dann mal sehen.«
»Von Urlaub kann gar keine Rede sein!«, protestierte ich.
»Keine Angst, ich werde es nicht von deinem Urlaubskonto abziehen.« Sie lachte, wurde dann aber wieder ernst: »Die Ermordeten sind in allen einhundertsechsundachtzig Interpol-Mitgliedstaaten und in zwölf weiteren Ländern zur Fahndung ausgeschrieben. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie eindeutig identifiziert sind. Und vielleicht erhalten wir ja von anderen Ländern Informationen, die uns die Heimatländer nicht geben würden oder können.«
»Gute Überlegung.«
»Ich habe online kompletten Zugriff auf nahezu alles. Der Chef hat sich beim Direktor anscheinend mächtig ins Zeug gelegt und auch einige andere Kontakte angespitzt. Die gesamte Datenbank des FBI und der meisten Regierungsbehörden, Millionen von Artikeln und Datensätzen, die in den letzten Jahrzehnten aus allen Quellen und Teilen der Welt beschafft worden sind, stehen zu meiner Verfügung; hinzu kommen sogar Geheimdokumente aus den Archiven unserer Geheimdienste - sofern sie nicht auf Top Secret lauten. Dem Chef muss wirklich etwas an dem Fall liegen. Ich wüsste nur gern, was und warum? Aber immer, wenn ich ihn darauf anspreche, sieht er mich so komisch an ... - als ob er ein Gespenst gesehen hätte - und sagt dann doch nichts.«
Ich schluckte. Was hatte meinen Chef nur dazu gebracht?
»Hmm«, brummte ich dann. »Ich verstehe es auch nicht. Er ähnelt gar nicht mehr dem rational denkenden und handelnden Typen, den ich einmal kennen lernte.«
»Eben! Aber ich habe mich inzwischen damit abgefunden. Und immerhin habe ich dadurch alle Dinge zur Verfügung, die man sich wünschen kann. Na ja, fast alle.«
»Ja, und du musst dazu nicht einmal in irgendwelche staubigen Archive klettern und Akten durchwühlen - funktioniert alles auf Knopfdruck.«
»Richtig. Das ist ja das Schöne an unserem Zeitalter - man bekommt fast alles an seinen Arbeitsplatz, ohne seinen Hintern auch nur einmal bewegen zu müssen. Sofern man technisch gut ausgestattet ist, jedenfalls.«
»Ein Traum für jeden PC-Freak«, stellte ich emotionslos fest. »Aber trotzdem: Warum ist der Chef bloß so heiß auf den Fall? Es ist doch mehr als ungewöhnlich, dass er dich nicht eingeweiht hat, das macht er doch stets.«
»Tja, er wird schon seine Gründe haben, du weißt doch, dass er einen guten Riecher hat.«
»Ja, ein Gespür für kriminelle Machenschaften aller Art.«
»Und außerdem sind seine Kontakte nicht zu unterschätzen. Dadurch weiß er mehr als andere; die sind gewachsen, auch in Regierungskreisen.«
»Ja, das weiß ich noch vom letzten Fall. Aber ohne deine Grundlagenforschung könnten wir auch einpacken. Ohne Hinweise oder Ansatzpunkte ist der beste Agent hilflos. Ohne Unterstützung seiner Kollegen manchmal allerdings auch.«
»Rechne nicht auf Hilfe von unseren anderen Agenten. Die sind zum größten Teil beschäftigt. Zwölf arbeiten an Einzelaufträgen - quer über die Staaten verteilt. Vier ermitteln in einer Gesamtoperation im Süden, Dallas und Houston, und drei sind in Florida im Einsatz.«
»Und die beiden restlichen?«
»Du wirst es nicht glauben! Sie haben Urlaub ..., bereits seit ein beziehungsweise zwei Wochen.«
»Doch wohl nicht in der Schweiz!«, scherzte ich.
»Nein«, lautete die nüchterne Antwort. »Guten Flug!«
»Danke!«
*
»Entschuldigung.«
»Mein Essen ist nicht kalt geworden.«
Ich hatte das Telefonat beendet und sah Mai Li Mei an. Das Lächeln um ihre Lippen - »Bezaubernd!«
Sie deutete auf meinen Teller. »Erst essen, dann Verbrecher fangen.«
»Alte chinesische Weisheit, fünfhundert vor Christus?«, scherzte ich.
»Nein. Lebenseinstellung einer jungen Chinesin, einundzwanzigstes Jahrhundert nach Christus.«
Ich musste lachen. »Okay, dem habe ich nichts entgegenzusetzen.« Und ich langte mit außerordentlichem Appetit zu.
Nach Beendigung des Mittagessens bedankte ich mich noch einmal ausdrücklich bei meiner Lebensretterin, und dann gingen wir wieder getrennte Wege. Schade!
Das Rockefeller-Center liegt nicht weit entfernt vom Grand Central Terminal, und mein Hotel lag ebenfalls in einer Distanz, die ich zu Fuß bewältigen konnte. Ich musste noch auschecken und meine Sachen holen, bevor ich den Trip über den Großen Teich antrat. Aus Mangel an Zeit kaufte ich im Schnellverfahren ein. Ich bevorzugte bequeme, lässige Kleidung, die meinem sportlichen und unter Umständen nicht gerade Kleidung schonenden Job entgegenkommen würde. Jetzt trug ich ein Hemd und eine dunkle Jeans. Meine Wendejacke vervollständigte den Eindruck des harmlosen Touristen. Ich war zufrieden.
Schließlich rief ich Mary am Flughafen von L. A. an und berichtete ihr in groben Zügen, dass sich meine Rückkehr noch ein wenig verzögern würde. Sie ließ nur etwas wie 'das habe ich mir schon gedacht' verlauten und versicherte mir, dass sie gut auf mein Auto und auf meine Sachen aufpassen würde. Ich sollte den Fall in aller Ruhe aufklären.
*
Das Shopping war erledigt, ich hatte mich bei einer Bank mit Schweizer Franken in Höhe von umgerechnet eintausend Dollar versorgt und meinen Haustürschlüssel, meine Waffe und meinen Dienstausweis dem Sicherheitspersonal am Flughafen zur Weiterleitung an das FBI-Hauptquartier übergeben. Christina würde mein Hotel auf Hawaii stornieren - sagen, dass ich meine Urlaubspläne kurzfristig geändert hatte. Meine alten Sachen aus dem Hotel holen, alle neuen integrieren, sinnvoll packen und wieder zum Flughafen fahren, hatten mich fast zwei Stunden gekostet. Ich hatte meinen Communicator ausgeschaltet und mich in die Schlange der Wartenden eingereiht. Vor dem Schalter war ich Zeuge eines Gespräches, das zwei Männer führten, die kurz nach mir gekommen waren. » ... und wenn mir dann ein Geschäft gefällt, von der Lage oder dem äußeren Eindruck ...«
»Oder wenn du deiner Konkurrenz einfach nur eins auswischen willst ...«
»Oder so, genau!« Ein Lachen unterbrach die Rede. »Na ja, wie gesagt, wenn mir ein Geschäft gefällt, dann gehe ich ganz spontan rein und frage den ersten besten Angestellten nach seinem Chef. Und den dann nach seinem Chef. Und so weiter, bis ich schließlich einen erreiche, der keinen Chef mehr über sich hat. Das ist logischerweise der Höchste. Und das ist dann mein Mann, mit dem verhandele ich.«
»Und wie?«
»Ich unterbreite ihm ein großzügiges Angebot ...«
»Das er nicht ablehnen kann, selbstverständlich.«
»Selbstverständlich. Jeder Zweite geht darauf ein, wenn auch nach einer gewissen Bedenkzeit oder weiteren Verhandlungen. Aber die Quote stimmt.«
»Und dann?«
»Dann saniere ich den Laden, und wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist, ...«
An dieser Stelle musste ich meine Aufmerksamkeit wieder auf den eigentlichen Grund meines Hierseins wenden, ich war der nächste in der Schlange.