Читать книгу Das Wort Gottes: Top Secret - Günter Laube - Страница 7
4. Erste Hinweise
ОглавлениеLuftraum der USA
Montag, 7:00 p.m.
Nun saß ich also im Flugzeug mit Kurs Europa, Schweiz. Die Uhrzeit deckte sich durchaus mit meinen Vorstellungen über das Ende meines Aufenthaltes in New York, meine Rückkehr nach L. A. und den Beginn meines Urlaubs. Nur die Flugrichtung war genau entgegengesetzt, nach Osten und nicht nach Westen.
Somit hatten meine Vorstellungen über den Verlauf des heutigen und auch der nächsten Tage einige gravierende Änderungen erfahren. Und der Urheber dieser Änderungen war - wie nicht anders zu erwarten - wieder einmal mein Chef. Auch nach dem Gespräch mit Christina war ich noch nicht so ganz schlau geworden, warum ihm dieser Fall so am Herzen lag, bis mir der Gedanke kam, dass es vielleicht eine persönliche Angelegenheit sein könnte. Wie auch immer, nach meiner Rückkehr aus Europa würde ich es schon erfahren.
Ich hatte bereits eine erste Inspektion des Fliegers unternommen, Berufskrankheit, und keine potentiellen Störenfriede geortet. Auch Sky Marshalls hatte ich keine entdeckt, doch hatte das nichts zu sagen. Schließlich gehört es zu ihrem Job, nicht entdeckt zu werden.
Dafür waren zahlreiche Journalisten an Bord vertreten, eine kleinere Gruppe identifizierte ich als Pilger auf dem Weg in die Schweiz. Von dort würde sie per Anschlussflug nach Rom gelangen. Gestern hatte die Karwoche begonnen.
Daher richtete ich meine Aufmerksamkeit jetzt auf meine technische Ausrüstung. Da ich, wie von meinem Chef vorgeschlagen, meine Waffe und meinen Ausweis nebst Marke am Flughafen abgegeben hatte, besaß ich an Hilfsmitteln jetzt nur noch meinen Communicator und meine Uhr.
Meine Armbanduhr schien auf den ersten Blick ein ganz alltäglicher Chronograph zu sein, auch wenn es sich offensichtlich um ein etwas teureres Exemplar handelte. Doch barg es eine Fülle von Funktionen, die ein Uneingeweihter nicht hätte nutzen können, da ihm die notwendigen Codes nicht bekannt waren, um diese aktivieren zu können, geschweige denn die Handhabung der Funktionen.
Das runde Display beinhaltete vier kleinere Multifunktionsdisplays, die Datum, Wochentag, Monat, Jahr und eine weitere Zeitzone anzeigten. Hier hatte ich grundsätzlich Ostküsten Standard Zeit eingestellt, New York Zeit. Weitere Funktionen wie Stoppuhr, Wecker, Kalenderfunktion und Erinnerungsmodus waren ebenfalls verfügbar, doch erforderte dies bereits eine Codeeingabe, eine Ziffer aus meiner Personalnummer. Die Eingabe dieser und weiterer alphanumerischer Zeichen erfolgte über zwei Knöpfe auf jeder Seite, zum Drehen und Drücken. Genau wie der Communicator war auch die Uhr dank eines Spezialgehäuses bis zu einer Tiefe von einhundert Metern wasserdicht. Sowohl in die Uhr als auch in den Communicator waren jeweils ein GPS-Sender und -Empfänger integriert, so dass man mit dem einen Utensil das andere aufspüren und beide überall auf der Welt per GPS orten konnte. Mit dem GPS-Empfänger war eine perfekte Satellitennavigation möglich, und man konnte beides sogar als Navigationssystem für Fußgänger benutzen. Weiterhin hielt ich einen elektronischen Reiseführer, ja Reiseleiter in der Hand. Per Satellitennavigation geleitete er mich nicht nur punktgenau an jeden gewünschten Ort der Erde, sondern es bestand auch die Möglichkeit, Videosequenzen über etwaige Orte oder Punkte einzuspielen und abzurufen. Ein interaktiver Reiseführer, gespeist aus Reisemagazinen und Reiseführern, elektronischen und menschlichen.
Das Zauberwort für dieses Wunderwerk der Technik lautete Multimedia. Alle Agenten des FBI benutzten einen solchen Communicator, der durch Spezialisten der NSA an unsere Bedürfnisse angepasst und neben einem weiterentwickelten biotechnologischen DNS-Scanner mit einem dreifachen Code versehen war. Kryptologie allerersten Ranges! Den ersten Code, ein zehnstelliges alphanumerisches Kennwort, kannten neben den Technikern aus unserem Hause auch die zuständigen Beamten bei der NSA, die uns die Geräte eingestellt und diensttauglich gemacht hatten. Der zweite, ein zwölf- beziehungsweise dreizehnstelliger alphanumerischer Code, war eine abteilungsinterne Geschichte. Diesen Code kannten jeweils nur wir selbst, die zweiundzwanzig Agenten, sowie Christina und unser Chef.
Der dritte Code hingegen war eine persönliche Sache. Eine Persönliche Identifikations Nummer oder ein persönliches Kennwort war je nach individuellem Wunsch des jeweiligen Special Agents die Zugangsberechtigung zu seinem geschützten E-Mail-Programm, dem Telefonbuch und der Mailbox. Die Codes zu knacken hätte auch den überzeugtesten Hacker dazu ermuntert, seinen Beruf zu wechseln, wie uns ein Mitarbeiter der NSA versichert hatte. Bei jeder anderen Person, die das Gerät nutzen wollte, würde der Communicator einfach abschalten, keine Anwendungen erlauben, gleichzeitig jedoch über einen Satelliten ein Notsignal an die NSA-Zentrale senden. Selbstverständlich konnten die Anwendungen des Computers auch offline genutzt werden. Bei entsprechender Auswahl blieb dann die Mailbox für Telefonanrufe aktiv, nur die Funktion des Telefonierens war deaktiviert, und der Communicator war auch in kein Mobilfunknetz eingeloggt. Die PC-Anwendungen konnten somit genutzt werden, doch um mein E-Mail-Programm zu öffnen, bedurfte es nach wie vor eines weiteren Schrittes: Margaréta1205.
Der zweite Vorname meiner Schwester Caroline, den sie seit Kindertagen nicht mochte, und der deshalb weder in unserer Familie noch in ihrem Freundeskreis benutzt wurde. Als sie Teenager war, hatte sie es kategorisch abgelehnt, mit ihrem zweiten Namen angesprochen zu werden. Und da Frauen prinzipiell das Recht haben, bestimmte Vorstellungen und Meinungen haben zu dürfen, ohne diese begründen zu müssen, wurde das innerhalb der Familie bis auf den heutigen Tag respektiert. Ich selbst hatte damals den Verdacht gehabt, dass sie nur einfach nicht so alt sein wollte wie unsere Urgroßmutter - denn nach ihr war sie benannt worden.
Der zwölfte Mai ist ihr Geburtstag, und den Tag ihrer Geburt werde ich immer in Erinnerung behalten. Ich war damals bereits acht Jahre alt und weiß noch recht gut, wie aufgeregt mein Vater und wie ruhig meine Mutter war. Dieses Wort war ebenfalls das Kennwort für den Bildschirmschoner oder vielmehr die Tastensperre. Nicht einmal meinen engsten Kollegen und Vertrauten war es bekannt.
Nachdem ich in Gedanken meine Ausrüstung überprüft hatte, überlegte ich meine weiteren Schritte nach Ankunft in Zürich. Ich würde einen Mietwagen nehmen und von Zürich nach Dornach fahren. Dann ein Hotel suchen, meine Sachen dort deponieren und mich auf den Weg zum Goetheanum machen. Für meine Nachforschungen veranschlagte ich zunächst einmal einen halben Tag. Dort würde ich etwas essen, und dann konnte ich entscheiden, wie und wann ich zurückfliegen würde. Aber das wiederum würde ich nicht allein entscheiden, sondern erst nach Rücksprache mit meinem Chef, beziehungsweise Christina. »Wenn sich der Fall so weiter entwickelt, dann werde ich wohl nicht nur einen Tag in der Schweiz verbringen. Wer sagt denn, dass ich sofort auf die richtige Fährte stoße oder einen vernünftigen Anhaltspunkt finde? Wenn doch unser Labor die Zettel entschlüsseln könnte!«
»Entschuldigen Sie ..., Verzeihung ..., Entschuldigung!«
Ich drehte mich um.
Ein langer, schmaler Mittvierziger bahnte sich hektisch seinen Weg durch die Sitzreihen - in der Linken eine Tasche, in der Rechten ein Notebook. Verschwitzt, einige Haarsträhnen hingen ihm wirr ins Gesicht, erreichte er seinen Sitz - zwei Reihen vor mir. Ich erinnerte mich, dass er wenige Minuten zuvor in der entgegengesetzten Richtung verschwunden war. Wahrscheinlich zur Toilette.
Hinter ihm und neben ihm wurden die Sitze von vier Herren und zwei Damen besetzt. - Journalisten. Eine der Damen kannte ich sogar. Sie war freie Journalistin und arbeitete unter anderem für die New York Times.
Sie alle waren auf dem Weg nach Genf, wie ich dem aufkommenden Gespräch entnehmen konnte, wo unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen ein Außenministertreffen der EU-Staaten, der USA, Kanadas und Russlands stattfand. Thema war wieder einmal der weltweite Terrorismus und seine Bekämpfung.
»Meine Damen und Herren ..., es tut mir leid, aber ich habe wirklich kaum Zeit. Ich habe mir extra mein Notebook mitgenommen, damit ich auf dem Flug endlich einmal in Ruhe arbeiten kann. Am Mittwoch beginnt die große, einwöchige Tagung in Rom ..., Wissenschaft und Religion sollen sich einander endlich mehr annähern, wie Sie wissen; und es sind viele Gäste aus allen Bereichen des Lebens eingeladen ... - sowohl Theologen als auch Wissenschaftler. Und am Samstag muss ich dann schon wieder in Chicago sein - als Gastredner an der Universität werde ich über den globalen Klimawandel referieren. Spätestens Freitag Nachmittag muss ich also schon wieder zurück über den Großen Teich. Heute und morgen habe ich für diese Veranstaltung reserviert. Die Hauptarbeit werde ich natürlich im Flugzeug bewältigen müssen.«
»Gut, dass er seine Termine wenigstens noch weiß - auch wenn er sie kaum wahrnehmen kann«, dachte ich. Dann kam der nächste Wissenschaftler zu Wort, und mit ihm begann eine Fachdiskussion: »Die kosmologische Konstante scheint mir irgendwie der reine Stein der Weisen zu sein. Ist es nicht bedenklich, dass wir lediglich zehn Prozent oder weniger der Vorgänge und Zusammenhänge im Kosmos nachweisen oder erklären können, und über die übrigen neunzig Prozent im Dunkeln tappen?« Er sprach mit russischem Akzent.
»In der Tat. Die dunkle Energie wurde im Übrigen schon im Altertum erwähnt, natürlich unter anderem Namen. Aristoteles sprach von der Quintessenz, einer Art fünftem Element, das überall - in uns, um uns - vorhanden sein soll«, war eine Frauenstimme zu vernehmen.
»Neben Feuer, Luft, Wasser und Erde«, fügte ein Mann hinzu. »Die Religionen der Welt sind äußerst vielschichtig. In Brasilien bestehen neben der offiziellen christlichen Religion nach wie vor indianische und afrikanische Religionen, und auch der Spiritismus erfreut sich einer großen Beliebtheit. Derartige Einflüsse sind für mich ganz selbstverständlich. Die Menschen haben ihre alten Religionen einfach mit dem Christentum verbunden ..., und sie können prima damit leben!«, vernahm ich eine Stimme mit portugiesischem Akzent.
»Das ist auch nicht verwunderlich ..., immerhin ist Brasilien ein großes Land und wurde von verschiedensten Kulturströmungen beeinflusst. Man könnte sagen, weltweit.«
»Alles Spinnkram!«, meinte ein Herr älteren Semesters, der sich bisher noch nicht beteiligt hatte.
»Ja, wie lange wollen Sie denn noch zweifeln?«, fragte eine weitere Frau. Sie sprach ebenso wie er akzentfreies Englisch.
»Im Zweifel mein ganzes Leben«, lautete die lakonische Antwort. »Man sollte sich immer alle Optionen offenhalten.«
»Sind Sie Politiker oder Wissenschaftler?«, fragte nun der mit dem harten Akzent. Doch es ertönte nur ein unverständliches Gemurmel.
Dafür mischte sich nun wieder der Ältere ein: »Aber erkennen wir nicht gerade an der unendlichen Größe des Universums unsere eigene Winzigkeit? Je mehr die Technik uns in dieser Hinsicht erlaubt, in das All vorzudringen und ihm die Geheimnisse zu entlocken und unser Wissen voranbringt, umso nachvollziehbarer wird doch die Erkenntnis, wie klein wir im Grunde sind. Und die Gesetze, die im Makro- und im Mikrokosmos herrschen, werden wir so schnell mit Sicherheit nicht verstehen und erklären können. Immerhin haben wir mit der Welt dazwischen auch genug zu tun. Ich für meinen Teil fühle mich jedenfalls noch jung genug, um neue Erfahrungen zu machen und neue Dinge kennen zu lernen.«
»Das sehe ich genau so. Aus wissenschaftlicher Sicht gibt es nur die Möglichkeit, dass etwas ist, oder dass nichts ist. Und da de facto eine Menge ist, bedeutet das, dass auch überall etwas ist. Mit anderen Worten: Überall in der Welt, im Universum ist irgendetwas vorhanden, ob wir es nun sehen, hören oder messen können ...«
»Oder mit den heutigen Methoden noch nicht nachweisen können - sehr richtig!«
»Ja, meine Herren, wenn da draußen in der Welt, im Universum, soviel ist ..., dann ist dort doch mit Sicherheit auch noch ein bisschen Platz für Religion, oder?«
»Für mehrere Religionen«, korrigierte ein weiterer. »In Indien beispielsweise leben eine dreiviertel Milliarde Menschen hinduistischen Glaubens. Diese Religion hat sowohl islamischen als auch christlichen Missionierungsgedanken widerstanden ...«
»Ach was, Religion, Wissenschaft, oder was auch immer! Das Grundproblem ist doch, dass es heutzutage zu viele Fachidioten gibt. Das Spezialisten- und Expertentum ist zu ausgeprägt!«, vernahm ich als nächsten Kommentar.
»Genau, der Gesamtzusammenhang geht völlig verloren!«, rief nun wieder der erste Sprecher.
»Sie wissen ja sicherlich, warum die Zehn Gebote so klar und eindeutig sind, oder?«, fragte ein weiterer. Da ihm niemand antwortete, gab er selbst die Antwort: »Weil bei deren Entstehung keine Arbeitskreise und Experten mit einbezogen waren!«, rief er und lachte laut.
»Und ein Gutachten ist auch nicht eingeholt worden!«, schlug eine männliche Stimme von hinten rechts in die gleiche Bresche.
Es folgte ein Durcheinander an Stimmen, die ich nicht zuordnen konnte. Die Herrschaften ergingen sich in teilweise recht unflätigen Äußerungen, kleinere und auch größere Beleidigungen erhitzten die Gemüter. Als sich der Trubel allmählich legte, war eine Stimme mit deutschem Akzent von der anderen Seite zu vernehmen: »Also aus medizinischer Sicht kann ich nur sagen, dass in der Tat noch irgendetwas da ist, wenn die Materie, also der Körper oder ein Teil des Körpers entfernt ist, wie zum Beispiel eine Hand oder ein Arm oder Bein oder Ähnliches. Patienten verspüren noch später Schmerzen oder ganz einfach Impulse, die man allerdings nicht sehen oder sonst irgendwie nachweisen könnte. Physiologisch betrachtet könnte es sich um eine Nervenüberreizung handeln ..., aber man weiß es halt nicht genau. Mediziner sprechen auch vom so genannten Phantomschmerz oder einem Phantomgefühl. Originell, nicht?«
»Sehr richtig, und Sie werden mir sicherlich beipflichten, dass auch bei einem Menschen, dem es krankheitsbedingt nicht mehr gut ..., oder sogar ziemlich schlecht geht - wenn also der Körper nur noch eine mehr oder weniger geordnete Ansammlung Atome ist -, der Geist immer noch aktiv ist; bei manchen Menschen sogar sehr!«
Erneute Stille in der Runde. Ohne jeden Zweifel warteten alle - ich auch - gespannt auf eine Antwort. »Ja, in der Tat. Ich kann die These des Kollegen bestätigen. Ja, es ist geradezu fabelhaft, welche geistigen Aktivitäten selbst todkranke Patienten teilweise entwickeln ...«
»So ein Quatsch!«, erklang eine andere Stimme.
»Aha ...«, dachte ich. »Auf zu Runde zwei!«
»Natürlich denkt der Mensch, solange er lebt. Schließlich verabschiedet sich der Geist nicht, bevor jemand stirbt, denn dann wäre er ja kein Mensch mehr, sondern ein Tier, nicht wahr?«
Der Spott in seiner Stimme war unverkennbar. Doch es war still für den Moment. Dann fügte der deutsche Mediziner hinzu: »Menschen, die klinisch tot waren ..., deren Herz ausgesetzt hatte, und die wir nur durch Elektroschocks reanimieren konnten, berichten übereinstimmend, dass es 'danach' noch weitergeht. Einige haben ein Licht gesehen, andere sahen ihr ganzes Leben an sich vorüberziehen, wieder andere ...«
»Bitte, meine Damen und Herren, wir sind doch noch nicht in Rom, sondern gerade einmal auf dem Weg dorthin! Meine Sekretärin hat für mich keinen Direktflug nach Rom mehr bekommen, daher muss ich jetzt den Umweg über Zürich machen. Ich komme von einer Tagung zum globalen Umweltschutz aus San Francisco«, meinte ein anderer, den ich nicht sehen konnte. Er sprach mit deutlichem Südstaaten-Akzent.
»Liebe Kollegen, auch ich habe einige kurzweilige Tage hinter mir. In sieben Tagen habe ich zwölftausend Flugmeilen zurückgelegt. Wahrlich kein Kinderspiel. Aber so geht es wahrscheinlich vielen von uns«, äußerte sich ein weiterer, der unbedingt Engländer war.
Eigentlich war ich der Ansicht gewesen, dass mein zurückliegender, gerade vor drei Tagen gelöster Fall mit äußerst pressewirksamen Auswirkungen die Damen und Herren von den Zeitungen für einige Zeit beschäftigen würde - aber da hatte ich mich offenbar geirrt. Nichts vergeht so schnell wie das geschriebene Wort.
Kaum war die Story behandelt, gab es neue Schlagzeilen.
Bald schon achtete ich nicht mehr auf die Gespräche in der Umgebung, sondern konzentrierte mich wieder auf meinen Fall. Zahlreiche Gedanken verursachten mir einiges Kopfzerbrechen: In welchem Zusammenhang stehen die vielen Ermordeten in New York zu den Zetteln aus den Sachen des toten Cartwright? Was bedeuten diese Zettel? Sind es vielleicht nur irgendwelche Notizen, völlig unwichtig, und er hat nur vergessen, sie wegzuwerfen? Oder haben sie eine größere Bedeutung? Warum bringt jemand so viele Leute um? Ach, nicht jemand! Es müssen mehrere Täter sein! Und sie alle wollen vielleicht eine Sache! Aber was?
Ich sah aus dem Fenster. Doch was auch immer manchem Künstler, sei es nun ein Dichter oder ein Musiker, intuitiv oder inspirativ an neuen Ideen oder Antworten auf quälende Fragen so zugeflogen kommen mochte, mir kam keine gescheite Idee. Ich grübelte weiter. »Was weiß mein Chef von der Sache? Warum setzt er mich auf diesen Fall mit Cartwright an? Anderton hat es nicht verstanden und ich ehrlich gesagt auch nicht. Nun, er wird schon seine Gründe haben. Hauptsache, Christina versorgt mich mit ausreichend Informationen.«
Daran erinnert, griff ich nach meinem Communicator und las die E-Mail von Christina noch einmal in Ruhe: »Hi John! Nachfolgend einige Informationen über die anderen Ermordeten, ein paar Daten über die Schweiz und das Ergebnis einer ersten schnellen Recherche bezüglich der Stichworte 'Rudolf Steiner', 'Anthroposophie' und 'Goetheanum'. Allein über Steiner gibt es allerdings schon so viele Artikel, dass ich es selbst in einem Monat nicht bewältigen könnte, daher nur zunächst das, was offiziell bekannt ist, wie Lebenslauf und so weiter. Durch deinen Communicator hast du ja auch Zugang zu unserer Datenbank und kannst dich dort spezieller informieren. Gruß, Christina. Wie du bereits von Assistant Director Anderton erfahren hast, war der erste Tote Argentinier. Sein Name war Miguel Rodriguez, und gemäß unserer Datenbank werden ihm Verbindungen zur italienischen Mafia nachgesagt. Der zweite Tote stammte aus Honduras und hieß Luis Silveira. Laut CIA-Datenbank arbeitete er für ein Verbrechersyndikat in Südamerika. Die Frau aus Russland hieß Sonja Dostojewskaja und war Journalistin, genauer gesagt Enthüllungsjournalistin. Woran sie zuletzt arbeitete, weiß allerdings auch ihr momentaner Chefredakteur nicht zu sagen. Ich habe vorhin mit ihm gesprochen, es gibt eine kleine Außenstelle hier in Washington. Es war allerdings nicht ungewöhnlich, dass sie sich über einen längeren Zeitraum nicht gemeldet hat, nur um dann unvermutet eines Tages mit hochbrisanten Informationen plötzlich wieder aufzutauchen. Die anderen drei Toten geben noch Rätsel auf. Von dem Mann aus Israel habe ich noch nicht einmal einen Namen in Erfahrung bringen können, sein Pass war offensichtlich eine Meisterfälschung. Jedenfalls sehr mysteriös. Der Typ aus Malaysia scheint das Land nur als Deckadresse benutzt zu haben, er ist den dortigen Behörden nicht bekannt. Und die Frau aus Atlanta setzt dem Mysterium die Krone auf. Die gibt es gar nicht! Ich habe alle unsere Datenbanken abgefragt, inklusive Heimatschutzministerium, Einwanderungsbehörde, CIA, NSA, sogar vom Militär. Die Frau scheint nicht zu existieren. Du brauchst jetzt nicht zu grinsen, ich weiß, was du jetzt denkst: Dass eine Leiche ein ganz guter Beweis für eine wenigstens ehemalige Existenz ist. Ja, in der Tat. Ich arbeite daran. Soviel einstweilen zu den Ermordeten, nun zu deinem Ziel: Die Schweiz zählt mit ihren gut sieben Millionen Einwohnern zu den reichsten Ländern der Erde, unter anderem weil sie im Kriegsfall stets Neutralität bewahrt, so auch im Zweiten Weltkrieg. Die Hauptstadt ist Bern. Die Schweiz liegt zwar mitten in Europa, gehört jedoch nicht der Europäischen Union an, daher herrscht als Währung der Schweizer Franken. Internationale Bekanntheit haben insbesondere die Bankenbranche sowie die Industrie erlangt. Der Ausspruch 'präzise wie ein Schweizer Uhrwerk' ist ein deutliches Zeichen für Qualitätsarbeit. In Genf wurde achtzehnhundertdreiundsechzig das Rote Kreuz gegründet. Im Durchschnitt besuchen jedes Jahr zehn Millionen Touristen das Land; einer der wichtigsten Zweige des Tourismus ist das Skifahren. - Doktor Rudolf Steiner, geboren achtzehnhunderteinundsechzig in Kraljevic, damals Österreich-Ungarn, heute Kroatien, gestorben neunzehnhundertfünfundzwanzig in Dornach, Schweiz; studierte unter anderem Mathematik und Naturwissenschaften; arbeitete als Privatlehrer in Wien und als Mitarbeiter am Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar, Herausgeber von Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften; Doktor der Philosophie, Promotion achtzehnhundertzweiundneunzig in Rostock. S. trat neunzehnhundertzwei der von Helena Petrovna Blavatsky achtzehnhundertfünfundsiebzig in New York mitgegründeten Theosophischen Gesellschaft bei, leitete später als Generalsekretär die deutsche Sektion, verließ die Gesellschaft jedoch nach zehn Jahren wegen Unstimmigkeiten und begründete neunzehnhundertdreizehn die Anthroposophische Gesellschaft. Annähernd zeitgleich begann der Bau des ersten Goetheanum in Dornach - ein Doppelkuppelbau aus Holz; diente der Aufführung von Mysterienspielen. Die von Emil Molt neunzehnhundertneunzehn in Stuttgart gegründete erste Freie Waldorfschule stand bis zu seinem Tod neunzehnhundertfünfundzwanzig unter Steiners Leitung; von neunzehnhundertachtunddreißig bis neunzehnhundertfünfundvierzig war die Schule verboten, danach Wiederaufnahme und Verbreitung in der ganzen Welt (heute existieren weit über eintausend Schulen und sogar Kindergärten). Ein Prinzip ist das Zusammenwirken von Lehrern und Eltern. Des Weiteren begründete Steiner die Eurythmie, gab Beiträge zu medizinischen Themen, so wird auf ihn die Misteltherapie im Kampf gegen Krebs zurückgeführt. Neunzehnhundertzweiundzwanzig entstand als unabhängige Bewegung für eine Erneuerung der Religion die Christengemeinschaft, zum Jahreswechsel neunzehnhundertzweiundzwanzig/dreiundzwanzig Zerstörung des Goetheanum durch Brand, Wiederaufbau von neunzehnhundertvierundzwanzig bis neunzehnhundertachtundzwanzig, dient heute Schauspielaufführungen, Tagungen und Eurythmie-Vorführungen. Aufbau der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, ebenfalls in Dornach im Goetheanum. Steiner schrieb mehrere Bücher und hielt in gut zwei Jahrzehnten über eintausend Vorträge in unterschiedlichen Ländern, hauptsächlich allerdings in Deutschland; heiratete neunzehnhundertvierzehn seine langjährige Mitarbeiterin Marie von Sivers, die nach seinem Tode die Nachlassverwaltung übernahm und regelte. Anthroposophie ist die Lehre oder Wissenschaft vom Menschen. Was sich allerdings genau dahinter verbirgt, ist noch unklar. Das musst du entweder selbst in der Schweiz recherchieren oder mir noch ein bisschen mehr Zeit geben. Die Entschlüsselung des zweiten Zettels hingegen war ganz einfach. Es handelt sich um Abfahrtszeiten von Zügen - von New York nach Philadelphia.«
Ich schloss die E-Mail. Christina hatte gute Arbeit geleistet. Und ihr Hinweis mit der Datenbank, in der nicht nur FBI- sondern auch CIA-Berichte und einige andere Quellen vertreten waren, brachte mich auf den Gedanken, diese einmal aufzurufen. Ich fand sehr schnell, was ich suchte: Es gab mehrere Dateien, allein in der allgemeinen FBI-Bibliothek. Ich öffnete die erste und las: »Anthroposophie beabsichtigt ursprünglich eine Tolerierung der verschiedenen Meinungen der Religionen um eine Art inneren Wesenskern zu bilden. Es ist ein Versuch, die unterschiedlichen Religionen miteinander zu versöhnen und eine grundlegende Verbindung zu schaffen.« Die weiteren Inhalte des Textes kannte ich bereits aus Christinas E-Mail.
Bevor ich den Communicator ausschaltete, las ich noch zwei weitere Berichte, die im Wortlaut allerdings ähnlich waren. Dann verstaute ich ihn wieder in meiner Tasche, brachte meinen Sitz in eine 'Ruhe-Position' und war in der Tat wenig später eingeschlafen. Ich hätte mich gern einmal ausgeschlafen. Auch die Fliegerei in den Staaten hatte mir keine längere Erholungsphase erlaubt, und die Nacht vor meinem ersten Tag hatte es nicht ausgeglichen. Doch es sollte anders kommen. Ganz anders.
*
»Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Fluggäste, ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit!«
Die Stimme des Flugkapitäns klang beherrscht, aber eine Spur zu angestrengt. Schlagartig war ich hellwach. »Das wird ja wohl keine Entführung sein?«, dachte ich noch, da knisterte es wieder im Lautsprecher: »Wie uns soeben von der Luftsicherung vom Flughafen Zürich mitgeteilt wurde, hat es dort einen Bombenalarm gegeben. Wie uns ebenfalls mitgeteilt wurde, besteht allerdings kein Grund zur ...«
Panik hätte er sagen wollen, aber er hatte keine Chance. Innerhalb von Sekundenbruchteilen war die Kabine von durcheinander schreienden und zeternden Stimmen erfüllt. Es dauerte einige Zeit, bis die Leute begriffen hatten, dass sie nur die Hälfte der Nachricht gehört hatten und verstummten.
Da ertönte auch wieder die Stimme des Kapitäns: »Ich wiederhole: Auf unserem Zielflughafen in Zürich hat es einen Bombenalarm gegeben. Zwei Männer wurden vom Sicherheitsdienst gestellt, als sie mit in zwei Koffern versteckten Sprengsätzen in die Flughafenhalle traten. Doch die technische Überwachung funktionierte, und ein Team des Sicherheitsdienstes stellte die beiden Verdächtigen, bevor sie die Sprengsätze scharf machen konnten. Aus Sicherheitsgründen wurde der Flughafen allerdings umgehend evakuiert und alle Flugzeuge, die sich im Anflug auf Zürich befinden, zunächst einmal gestoppt.«
»Ach herrje, das wird meinen Besuch wohl ein wenig verzögern!«
»Das bedeutet, dass wir unsere Reisegeschwindigkeit drosseln, so dass wir Zürich später als vorgesehen erreichen werden und auf weitere Anweisungen vom Tower warten. Wir werden also weiter zu unserem Bestimmungsort fliegen und im Extremfall kreisen, bis uns die Landeerlaubnis erteilt oder ein Ausweichziel benannt wird.«
Wieder wurden die Leute etwas lauter, um ihre Meinungen auszutauschen. Ich verhielt mich ruhig und überlegte, ob und wenn ja, wem der geplante Bombenanschlag gelten sollte. Vielleicht wollte jemand einen Wissenschaftler ausschalten, der an der Konferenz in Genf teilnimmt. Vielleicht aber auch mich.
Der zweite Gedanke gefiel mir noch weniger als der erste, doch verwarf ich ihn schnell wieder. Wer wusste schon, dass ich hierher unterwegs war? Und selbst wenn - mich kannte hier niemand; keiner, der mich deswegen in die Luft jagen würde!
So verging einige Zeit. Die Leute wurden wieder ruhiger. Ich überdachte eben meine Pläne, da meldete sich wieder der Kapitän: »Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Fluggäste. Wir haben Anweisung vom Tower in Zürich erhalten. Der Flughafen bleibt vorerst gesperrt, die Polizei will kein Risiko eingehen und erst eine komplette Untersuchung veranlassen, da nicht auszuschließen ist, dass es noch weitere Koffer mit derartigem Inhalt gibt. Sämtliche Flüge werden daher von der schweizerischen Luftfahrtbehörde umdirigiert.«
Spannung machte sich breit. So ruhig war es an Bord noch nie!
»Der uns zugewiesene Flughafen ist Basel, den wir in etwa zwanzig Minuten erreichen werden«, fügte der Kapitän ergänzend hinzu. »Von dort erwarten wir weitere Instruktionen und hoffen, im Laufe des Tages nach Zürich fliegen zu dürfen; unabhängig davon haben Sie Gelegenheit, mit der Bahn nach Zürich zu gelangen - sofern Sie terminlich gebunden sein sollten.«
»Danke, ja ..., bin ich, aber die Sache mit Basel kommt meinen Terminen voll entgegen«, überlegte ich.