Читать книгу Ich hatte keine Chance, aber ich habe sie genutzt - Günter Neumärker - Страница 4

Die frühe Kindheit

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Auch dieses Jahr gibt es wieder einen goldenen Oktober. Die Herbstsonne scheint mild auf unser Dorf Waldbröl im Rheinland hinab. Wir schreiben Dienstag, den 3. Oktober 1944, und gegen 17 Uhr gellt ein Schrei durch das großelterliche Schlafzimmer in der Bahnhofstraße 15. Ich habe das Licht der Welt erblickt, bin abgenabelt und habe meinen Klaps auf den Po bekommen. Doktor Kösser, unser alter Hausarzt, sagt wie üblich zu meiner Mutter: „Da hast du ja wieder einen Menschen geboren.“ Er sagte es schon vor vier Jahren, als meine Schwester Dorothea geboren wurde, und vor zwei Jahren, als mein Bruder Hans-Georg zur Welt kam.

Bekanntlich steht Deutschland zu jener Zeit kurz vor dem Endsieg, und deshalb wird jeder Mann gebraucht, auch mein Vater, der erst einen Monat zuvor eingezogen wurde. Eigentlich wohnen meine Eltern in Köln-Mülheim, aber Köln wurde schwer bombardiert, und so lebt meine Mutter mit den Kindern nun in Waldbröl. Und weil die Lage zwar ernst, aber nach Ansicht der Machthaber nicht hoffnungslos ist, bekommt mein Vater keinen Abstellurlaub. Erst zu Weihnachten wird er kommen, und erst dann soll ich getauft werden.

Meine Oma, das werde ich schon sehr früh begreifen, ist Der Herr im Hause, deshalb ist es selbstverständlich, dass sie auch meine Pflege an sich zieht, leider wird sie diesen Machtanspruch, so lange wir in Waldbröl leben, nicht mehr aufgeben.

Es ist, wie gesagt, ein goldener Oktober, und so werde ich schon früh im Kinderwagen in den Garten gestellt. Am 27. November erfolgt dann meine erste Ausfahrt. Rechts und links, durch meine stolzen Geschwister eskortiert, werde ich durchs Dorf gefahren. Im Dorf begegnen meine Mutter und meine Geschwister unserem Pastor, und meine Schwester gibt unserer Mutter den guten Ratschlag, dem Onkel Pastor aber nicht zu sagen, dass wir ein Brüderchen haben, "sonst tauft er es bevor der Papa da ist."

Am 23. Dezember kommt mein Vater und kann mich endlich auf den Arm nehmen. Wie für die anderen Kinder auch, legt mein Vater für mich ein Album an, eine Art Tagebuch, angereichert mit Fotos, Zeichnungen und anderen Unterlagen.

Die Taufe

Heute, genau drei Monate nach meiner Geburt, am 3. Januar 1945 werde ich getauft. Diese wichtige Handlung findet, wie bei uns üblich, zuhause statt. Superintendent Meiswinkel spricht über die Losung des Tages: „Ich hoffe auf den Herrn, der sein Antlitz verborgen hat vor dem Hause Jakob; ich aber harre sein.“ Das Harren (Hoffen) auf den Herrn wird sich später auch in meinem Konfirmationsspruch wiederfinden, und es wird mich mein Leben lang begleiten.

Meine Paten sind Tante Käthe, die Frau von Onkel Paul-Walter, einem Bruder meiner Mutter, Tante Angelika Petry, Tante Ilse, die Schwägerin meiner Oma und Clemens Kugelmeier, ein Schulkamerad meiner Mutter.

Meine Eltern

Wie gesagt, wohnen meine Eltern eigentlich in dem Haus meines Vaters in Köln-Mülheim, aber weil Krieg herrscht, lebt meine Mutter mit uns Kindern in Waldbröl. Mein Vater ist der letzte Überlebende seiner Familie. Ein Bruder starb früh am Leistenbruch und seine Eltern sind nun auch schon beide tot. Inzwischen ist mein Vater Studienrat in Köln. Als er noch Assessor in Bergneustadt war, verliebte er sich in seine Schülerin, die ihm zunächst einen Korb gab, weil sie lieber Theologie studieren wollte. Dann aber verlobte sie sich noch während der Schulzeit, heiratete, und wurde meine Mutter.

Lange Zeit ist es meinem Vater gelungen, wegen eines Herzfehlers als „nicht verwendungsfähig“ eingestuft zu werden, im September 1944 aber wird er doch noch eingezogen. 1943 begleitet er eine Gruppe Kölner Schüler nach Johannisbad im Sudetenland. Meine Mutter, mit der Doro an der Hand, besuchen ihn dort. Hier hört mein Vater von seinem Vetter, der in den USA gelebt hatte, dass Deutschland den Krieg nicht gewinnen kann, weil die USA größer und stärker sind. Es ist das letzte Mal, dass sie glücklich zusammen waren, obwohl meine Mutter seither Visionen hatte und ahnte, dass er, einmal in den Krieg gezogen, nicht mehr heimkehren wird.

Das Ende naht

Die Front rückt näher, Bomber dröhnen über unser Haus, und ich liege mit Keuchhusten in meinem Körbchen. Wenn die Sirenen heulen, beginnt für mich eine schwere Zeit, denn die Familie sucht Schutz im Keller, während ich mit meinen Ängsten allein im dunklen Wohnzimmer zurück bleibe und keiner da ist, der meine Schreie hört und mich tröstet.

Was in meiner Mutter zerstört wurde, als sie mit mir schwanger war und von Ihren Eltern dafür bittere Vorwürfe einstecken musste? Ich weiß es nicht. Allein der Gedanke, ich würde mich selbst in Sicherheit begeben und meinen Sohn in der Gefahr zurücklassen, ist mir einfach unvorstellbar.

Wieder heulen die Sirenen: Fliegeralarm! In aller Eile werden die notwendigen Utensilien zusammengepackt, als meine Mutter plötzlich sagt: „Ach, heute nehmen wir den Günter mal mit in den Keller.“ Gemeinsam mit ihrer Schwester Ruth tragen sie mich im Kinderwagen die Kellertreppe hinunter. Kaum ist die Kellertüre geschlossen, da kracht auch schon eine Bombe auf unser Haus, eine Brandbombe, und die landet genau in meinem Körbchen, das in tausend Stücke zerfetzt wird. In dieser Nacht bin ich dem Tod zum ersten Mal von der Schippe gesprungen. Es wird nicht das letzte Mal sein. Schon wenige Jahre später werde ich mich an den roten Pillen meiner Oma vergiften.

Frieden

Endlich ist der Krieg vorbei, alle kehren heim. Mein Opa, der auswärts eine Pfarrstelle hatte, weil er als Evangelist im Dritten Reich die Machthaber kritisiert hat und deshalb Redeverbot bekam, Onkel Paul-Walter, und schließlich Onkel Johannes, der jüngste Bruder meiner Mutter aus Englischer Gefangenschaft. Nur mein Vater nicht. Die Visionen meiner Mutter werden sich wohl bewahrheitet haben. Offiziell gilt er als vermisst. Tatsächlich, so erfahren wir sehr viel später, gerät mein Vater noch am 9. Mai 1945 (am 8. Mai hatte Deutschland kapituliert) in russische Gefangenschaft und kommt nicht mehr zurück. Lange bevor die offizielle Todesnachricht eintrifft, heißt es immer, der Papa sei im Himmel. Ich habe ihn sehr vermisst.

Meine Mutter und Onkel Johannes beginnen das Studium der Theologie in Bonn, was meine Mutter ja seit jeher wollte. So werden wir drei Kinder von unserer Tante Ruth, die ebenfalls Kriegerwitwe ist, und unserer Oma, die ja im Haus das Sagen hat, aufgezogen.

Nun sind wir eine richtige Großfamilie. Oma, Opa, Tante Ruth, Onkel Johannes, wir Neumärkers, unser Dienstmädchen Irmgard und Fräulein Satzinger. Anna Satzinger ist Schneiderin und hat schon für meine Großeltern in Köln genäht. Im Krieg wurde sie nach Waldbröl evakuiert und schläft mit Irmgard zusammen in einem Zimmer. Bis in die 1950er Jahre hinein wird sie bei uns wohnen und auch noch danach für uns die schönsten Kleider nähen. Irgendwann in dieser Zeit verlobe ich mich mit ihr, sie wird meine erste Braut. Die sechzig Jahre Altersunterschied stören mich dabei gar nicht.

Meine erste Erinnerung

Vieles von dem, was ich bisher erlebt habe, konnte ich bestenfalls im Unterbewusstsein wahrnehmen oder weiß es sowohl aus Erzählungen, als auch aus meinem Album. Nun aber liege ich, noch klitzeklein, im Waschbecken und sehe ganz deutlich, wie sich meine Oma und meine Tante Ruth über mich beugen. Ich sehe den Medizinschrank über der Badewanne und das Badezimmerfenster. Ich werde gebadet, und dies ist meine erste Erinnerung. Natürlich habe ich mich oft gefragt: Kann es denn überhaupt sein, dass du dich daran erinnerst, so klein wie du warst? Ja, es kann, denn das Waschbecken hatte durchaus die Größe dazu. Restlos überzeugt war ich aber erst, als mir klar wurde, dass ich in meiner Erinnerung genau in der Position liege, die erforderlich ist, um von Rechtshändern gewaschen zu werden. Ich bin nun einmal Linkshänder, und deshalb fallen mir solche Unterschiede eben besonders auf.

Schokolade

Belgische Truppen haben unser Dorf besetzt, und in unserem Haus ist ein Belgischer Offizier eingezogen. Im Zivilberuf ist er katholischer Priester, ein feiner Herr. Er hat im Erdgeschoss sein Arbeitszimmer und im Obergeschoss sein Schlafzimmer. Neben seinem Adjutanten gehen auch seine sonstigen Untergebenen bei uns ein und aus.

Gestern Abend, nach dem Abendbrot, als der Offizier noch im Kasino war, ging ich mit Oma und Tante Ruth in sein Arbeitszimmer. Meine Oma öffnete eine Schranktür und holte eine Orange heraus, zeigte uns diese mit einem vielsagenden Blick, um sie wieder zurück zu legen. Offensichtlich lag in dem Schrank aber auch Schokolade, denn heute Morgen hat sie mir verboten, bei den Belgiern darum zu betteln. Auf diese gute Idee wäre ich allein gar nicht gekommen. So aber setze ich das Verbot gleich in die Tat um und laufe schnurstracks ins Arbeitszimmer, um mir ein Stück Schokolade zu erbitten. Der Offizier gibt seinem Adjutanten eine entsprechende Anweisung, und stolz zeige ich meiner Oma, die gerade in der Küche arbeitet, meine neue Errungenschaft: Einen ganzen Riegel! Natürlich werde ich ausgeschimpft, aber in dem Moment geht der Offizier durch den Flur, und sagt: „Nicht schimpfen, kleine Kinder essen gern Schokolad.“ Das ist nun ein Befehl der Besatzungsmacht, gegen den selbst meine Oma machtlos ist. Ich bin gerettet!

Meine Großeltern

Die Eltern meines Vaters leben beide nicht mehr. So habe ich nur die Eltern meiner Mutter als Großeltern. Anna und Daniel Schäfer.

Mein Opa ist ein in Deutschland sehr bekannter und geschätzter Evangelist. Sein Beruf bringt es mit sich, dass er viel verreist ist. Jedes Mal, bevor er wieder auf Reisen geht, werde ich ihm später zum Abschied den Schlager: „Auf Wiedersehn, auf Wiedersehn, bleib nicht so lange fort, denn ohne Dich ist´s halb so schön, darauf hast Du mein Wort...“ singen.

Die Frage, was eher war, die intensive Reisetätigkeit meines Großvaters und daraus resultierend die Machtbefugnis meiner Oma, oder die Herrschsucht meiner Oma und daraus resultierend die rege Reisetätigkeit meines Opas, kann ich nicht beantworten. Auf jeden Fall führt meine Oma zu Hause das Regiment, und wenn mein Opa daheim ist, so liegt er im Liegestuhl auf dem Balkon und sonnt sich, geht im Garten spazieren, oder bringt jede Postkarte, die er schreibt, einzeln zum Briefkasten.

Seine wahre Bedeutung aber, die ich zu seinen Lebzeiten noch nicht so recht erkennen konnte, erschließt sich mir, als ich ihn googele, und sehe, dass er auch noch 50 Jahre nach seinem Tod selbst in Katholischen Pfarrblättern zitiert wird. 1954, mit 65, stirbt mein Opa an Nierenversagen.

Meine Oma hat einen entstellten Fuß (Hartmannfuß), einen Herzfehler und Diabetes. Als ich fünf Jahre alt bin, ist mir klar, dass sie wegen ihres Herzens vor meinem Opa sterben wird.

Solange ich denken kann, und solange sie lebt, sagt sie mehrfach am Tage: „Ich sterbe bald, ihr glaubt es mir ja nicht, aber ich sterbe bald.“ Diese Todesdrohungen führen bei mir zu einer gewissen Gleichgültigkeit. Sie beeindrucken mich nicht, solange darüber ohne konkreten Befund gesprochen wird. Alles, was in dieser Richtung gesagt wird, kann ich nicht ernst nehmen.

Später wird genau daran meine erste Ehe zerbrechen, weil der Hinweis meiner Frau, sie sei beinahe gestorben, mein Herz nicht erreichen wird und ich ihr deshalb als lieblos erscheine.

Meine Oma ist 79 Jahre alt geworden und hat ihren Mann um 19 Jahre überlebt.

Die Sammeltasse

Auf der Toilette steht Omas Lieblingssammeltasse, aus hauch-dünnem Porzellan, mit bunten Blümchen bemalt und mit Goldrand verziert. Aus dieser feinen Tasse trinken die Soldaten Wasser. Das aber gefällt meiner Oma gar nicht, und sie tauscht die gute Tasse gegen ein schlichtes Wasserglas aus. Das wiederum gefällt den Belgiern nicht, die unverzüglich die Tasse zurück verlangen, sie gewissermaßen beschlagnahmen. Mir, der ich doch noch recht klein bin, wird dadurch die Macht unserer Besatzer deutlich, die in der Lage sind, sich meiner Oma erfolgreich zu widersetzen Das hat es ja in unserem Hause bisher noch nie gegeben.

Natürlich kommt, was kommen muss: Meine Oma steht weinend im Wohnzimmer, hält ihre Lieblingstasse in der Hand, der Rand ist angeschlagen!

Die Belgier sind abgezogen. Wir sitzen am Tisch und essen unser Abendbrot, als die Tür aufgeht und ein Soldat ein Paket aus Zeitungspapier auf den Nähtisch, links neben der Tür, legt, „ein Moment“ sagt, und noch einmal hinausgeht, um mit einem großen Karton zurückzukehren. In seiner Abwesenheit öffnet meine Oma das Paket, darin sind lauter Tassen und Untertassen. Natürlich solides Kasino Geschirr. Aber der Wunsch nach Wiedergutmachung ist unverkennbar.

Die Sünden

Warum der liebe Gott ein lieber Gott ist, weiß ich nicht so recht, denn alles, was Spaß macht, ist Sünde, und da soll der liebe Gott ja nun mal keinen Spaß verstehen.

Natürlich ist es auch Sünde, "Böse Wörter" zu gebrauchen. Nun liege ich in meinem Bettchen, habe mein Nachtgebet „Lieber Gott mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm“- gesprochen und kann noch nicht einschlafen. Schwaches Licht dringt durch die Fensterläden. Vor mich halte ich ein blaues Taschentuch, dessen Saum mit Zickzackstich genäht ist, und dieser Saum erinnert mich an ein böses Wort. "Jetzt sag ich es noch einmal", flüstere ich vor mich hin, und damit mich der liebe Gott nicht sieht, krieche ich unter mein Federbett, um dort voller Inbrunst zu sagen: "Zickezacke Hühnerkacke."

Viel hat diese Erziehung natürlich nicht genutzt. Dreißig Jahre später brülle ich sehr oft Scheiße, wenn mir beim Heimwerken etwas misslingt.

Aufgeregt winkt mich meine Frau heran. Sie steht in der offenen Tür zum Kinderzimmer. Auf dem Boden sitzt unser zweieinhalb Jahre alter Sohn, völlig versunken vor einer kleinen Werkbank, in der bunte Rundhölzer stecken, die er mit einem Holzhammer durch die engen Öffnungen treibt, und bei jedem Schlag sagt er, ebenfalls voller Inbrunst: "Szeiße, Szeiße, Szeiße..."

Der Teufel

Wieder meint es ein Gönner meines Großvaters, dem Evangelisten Daniel Schäfer, gut mit uns und schickt uns zu Weihnachten eine Gans. Kurioserweise wohnt der Spender in der "Ostzone", und schickt ein Lebensmittelpaket in den Westen. Später wird es für viele Jahre umgekehrt sein.

Nun liegt sie, als „Jute Jabe Jottes“, gut gebraten und zerteilt auf dem Teller, und die Mutti weist uns auf einen kleinen Fleischklumpen hin und sagt: "Dies hier ist das Herz", worauf mein Bruder fragt: "Wohnt da auch der Teufel drin?" Dies verneint unsere Mutter jedoch mit ernsthafter Mine.

Die Freunde

Meine Freunde heißen Paul-Erhardt Schneider und Kurt-Walter Nöll. Der wird zuhause, und auch von uns Freunden Männi genannt. Eines Tages wird mir seine Schwester Karin ganz klar sagen: "Er heißt nicht Männi, sondern Kurt-Walter", das werde ich mir merken.

Paul-Erhardt, genauso alt wie ich, wohnt auf derselben Straßenseite praktisch zwei Häuser vor uns. Praktisch nur deshalb, weil diese Häuser erst noch gebaut werden müssen. So liegt zwischen uns eine große Wiese, auf der wir gerne spielen.

Männi wohnt mir schräg gegenüber. Genau wie ich, wohnt auch er im Haus seiner Großeltern Simon. Sein Opa ist Hufschmied, und die Schmiede liegt auf dem Hof hinter seinem Haus. Sie ist auch ein wunderbarer Spielplatz für uns Kinder. Noch heute kann ich an keinem Amboss vorbeigehen, ohne ihn zum Klingen zu bringen. Aber kein Amboss war bisher so wohlklingend, wie der meiner Kindheit in der Schmiede Simon. Dort standen die zwei Ambosse nämlich auf Holzstümpfen und nicht auf Betonsockeln, wie allgemein üblich, und das Holz erzeugt eine wohlklingendere Resonanz als Beton.

Gerne fahren Paul-Erhardt und ich mit unseren Dreirädchen die Bahnhofstraße hinunter, denn die hat ein gehöriges Gefälle. Am Ende der Fahrt angelangt, ruft Paul-Erhardt jedes Mal: "Berliiin!“ Das hat für mich zunächst einen seltsam mystischen Klang, weil ich nicht weiß, dass Berlin eine große Stadt ist, die ganz weit weg ist, nämlich „einen ganzen Tag lang mit dem Auto", wie mir meine Oma später erklärt.

Anfang der 1950er Jahre werden wir drei Freunde auf Schneiders Grundstück sein, und Paul-Erhardt erhebt den Anspruch, vor uns hergehen zu dürfen, da es ja sein Grundstück sei. Wir lassen ihm den Vortritt. Anschließend gehen wir auf Simons Hof. Hier nun fordert Kurt-Walter das Recht des Voranschreitens. Jetzt kommen wir in unseren Garten, und meine Freunde sind beide der Meinung, dass wir bei uns alle nebeneinander gehen dürfen. Ich habe keine Einwände dagegen, es ist mir herzlich egal wie wir durch unseren Garten gehen. So zeigt sich schon früh, dass ich weder von krankhaftem Ehrgeiz gequält werde, noch über eine hervorragende Führungsqualität verfüge.

Nicht nur die Wiese zwischen Schneiders und uns ist noch von ursprünglicher Natur. Nein, hinter unserem Haus bis an das Grundstück von Schneiders heran erstreckt sich auch ein kleines Wäldchen, das steil zum Brölbach hin abfällt und bis an Venns Villa reicht: „Venns Busch“.

Herr Dr. Venn war in Waldbröl Sanitätsrat und baute sich dieses herrschaftliche Haus in der Kaiserstraße. Im Erdgeschoss befindet sich nun die Buchhandlung „I. Max und Co“ ehemals Breslau, die von seiner Enkeltochter Frau Birke betrieben wird. Hier kauft unsere Mutter meistens ihre Bücher. Mit Sohn Albrecht und seinem Vetter Eberhard Konrad, der auch in der Villa Venn wohnt, sind wir befreundet. Beide sind so alt wie die Doro. Im Nachbarhaus wohnt Wolfgang Klees, auch mit ihm bin ich befreundet, er ist genauso alt wie ich, aber katholisch, und so geht er auf eine andere Schule. Birkes und Klees ziehen Mitte der 1950er Jahre aus Waldbröl fort.

Der Leistenbruch

Mechthild wohnt gegenüber im Haus von Tante Grete, der Schwägerin meiner Oma. Mechthild ist so alt wie Georg, und sie gehen gemeinsam zur Schule. Ihr Vater ist Arzt am Krankenhaus in Waldbröl. Heute besucht er mich im Schlafzimmer, und er hat so merkwürdige Bänder mit Lederpolstern an ihren Enden bei sich. Es sind Bruchbänder. Ebenso wie Walter, der Bruder meines Vaters, der daran schon mit einem Jahr starb und wie die Doro, habe ich einen Leistenbruch, der solange mit diesen Bändern zurückgedrängt wird, bis ich operiert werde.

So finde ich mich eines Tages in einem Dreibettzimmer im Krankenhaus wieder. Mein Gitterbettchen steht an der Wand zum Flur. Die zwei anderen Jungen in meinem Zimmer sind beide älter als ich. Eigentlich fühle ich mich ganz wohl hier. Das einzige, was mich stört, ist die Bettpfanne, die finde ich ausgesprochen unsympathisch. Irgendwie kann ich auch nicht einsehen, warum ich bei der einen Krankenschwester über das Gitter klettern darf um auf den Nachttopf zu gehen, bei der anderen aber in die Bettpfanne machen muss. Nur aus Protest benutze ich bei einem „großen Geschäft“ dann weder den Nachttopf, noch die Pfanne und mache ins Bett. Natürlich haben dies die Schwestern meiner Mutter erzählt, die darüber nicht gerade begeistert ist.

Die Zeit ging schnell vorbei, und gestern fuhr ich mit der Taxe nach Hause. Heute Morgen stehe ich im Unterhemdchen in der Küche neben dem Spülbecken. Doro und Georg sitzen auf der Küchenbank vorm Fenster, dem Platz für uns Kinder, und Doro sagt zu mir: “Zeig mir doch noch einmal Deine Narbe.“ Da hebe ich mein Hemdchen hoch, und neben dem Oberschenkel verläuft sie, die Narbe, eine dünne, schwarze Linie, und ich bin mächtig stolz auf sie.

Mit 53 Jahren muss ich die Operation wiederholen, und ich sage den Ärzten, dass ich mit drei Jahren schon einmal am Leistenbruch operiert wurde. Ich sage: „Machen Sie das ja anständig, ich habe keine Lust in fünfzig Jahren wieder zu kommen.“ Da solle ich mir mal keine Sorgen machen, meinen die Ärzte lächelnd, denn sie haben den Scherz sehr wohl verstanden.

Woher ich wusste, dass ich damals drei Jahre alt war? Ich weiß es nicht. In 2007 werde ich meine Patentante Käthe besuchen, und sie erzählt mir, dass sie mich damals im Krankenhaus besuchte, und ich im Flur auf meine Zimmernummer 3 zeigte, und sagte: “So alt bin ich jetzt.“

Die erste große Reise

Heute heißt es, früh aufstehen, denn ich fahre mit Tante Ruth nach Nastätten im Taunus, wo immer das ist.

Zuerst geht es mit dem Brölbähnchen, einer Schmalspurbahn, in der die Bänke an den beiden Längsseiten der Wagons verlaufen, nach Beuel, das liegt gegenüber von Bonn auf der rechten Rheinseite. Danach fahren wir unendlich lange mit der normalen Eisenbahn. Oh, wie ist mir langweilig, ich lege meinen Kopf in Tante Ruths Schoß und sehe die Telegrafenmasten mit ihren weißen Isolatoren und den vielen Leitungen am Fenster vorbei flitzen.

Endlich sind wir am Ziel. Wir sind Gäste der Familie Zeiler! Herr Zeiler ist der Direktor der großen Spinnstofffabrik Spindler, und auch ein Bewunderer meines Opas. Deshalb durfte erst meine Mutter und nun wir beide bei ihnen unseren Urlaub verbringen. Die Zeilers sind ausgesprochen nette Menschen.

Eigentlich kann ich ja schon ganz gut sprechen, aber mit dem 'G' hapert es noch. Auf die Frage: "Wie heißt Du", antworte ich stets mit "Dünter." Nach dem Frühstück sagt Tante Ruth, dass wir heute das 'G' üben wollen. So ziehen wir los, bis wir an eine Wiese gelangen, an deren Ende ein kleiner Hügel liegt. Den steuern wir an. Plötzlich sehe ich neben mir im Gras einen blauen 5 Pfennigschein liegen, den ich aufhebe und in meine Jackentasche stecke. Am Hang des Hügels sitzend, üben wir erfolgreich, und bei der Rückkehr kann ich nun Frau Zeiler stolz erzählen, dass ich Günter heiße.

Gut fünfzig Jahre später erhält diese Episode zwei Nachspiele. Meine liebe Tante Ruth hat Gewissensbisse und bittet mich um Verzeihung dafür, dass sie es nicht gewagt hat, diesen netten Menschen zu sagen, dass ich an jenem Tag Geburtstag hatte. Wie alt ich geworden bin, habe sie vergessen. Ich verzeihe ihr gerne, denn alles was sie tat, tat sie aus Liebe und in Vertretung ihrer Schwester, die sich derweil schon selbst verwirklichte, während Alice Schwarzer noch am Daumen nuckelte. Im Alter von 75 Jahren wird mir meine Mutter eingestehen, dass sie bei ihrem Beruf nur an sich selbst und nicht an ihre Kinder gedacht hat. Ich werde ihr erwidern, dass ich dies schon lange weiß, es aber sehr respektabel finde, dass sie dies nun hier so sagt.

Kurz nach dem Geständnis meiner Tante leert eine Bekannte ihr Portemonnaie mit den Worten: "Dies sind meine kleinen Schätze." Heraus kommt auch ein blauer 5 Pfennigschein, und ich sage: "Ha, den kenne ich schon, den habe ich damals an meinem Geburtstag gefunden." Jetzt sehe ich, dass der Schein 1948 gedruckt wurde, ich damals also vier Jahre alt wurde.

Wir gehen viel spazieren. Nun führt uns unser Weg an einer großen Buche vorbei und Tante Ruth zeigt mir, wie man Bucheckern öffnet, um die Früchte zu essen. Mh, schmecken die lecker!

Heute geht es wieder heim. Wir stehen früh auf, und in der Dunkelheit gehen wir los, um erst die Fabrik zu besichtigen. Auweia, ist das ein Lärm! Wir gehen an einer Reihe Webmaschinen vorbei, und ich sehe, wie die „Schiffchen“ hin und her flitzen. Nur schnell raus hier. Auf dem Hof steht schon ein Lastwagen bereit, der uns bis Beuel mitnimmt, immer am schönen Rhein entlang. Das finde ich gar nicht langweilig. Wohin der LKW fährt? Ich weiß es nicht, vielleicht nach Hilden bei Düsseldorf? Dort steht nämlich das Stammwerk.

Viele Jahre später kommt Herr Zeiler nach Waldbröl, und ich soll erraten, wer der Besucher ist, der nur mich besuchen will. Ich ahne schnell, dass es der gute Herr Zeiler ist, aber ich habe ihn doch ganz anders in Erinnerung, und so traue ich mich nicht, es zu sagen. Erst als er eine Tafel Schokolade aus der Tasche zieht und sagt: „Günter, Du isst doch gerne etwas süßes“, da traute ich mich dann doch.

Leider weiß ich schon, dass ich auch an dieser Tafel Schokolade keine Freude haben werde, da sie, ebenso wie die letzte, noch in derselben Nacht von meiner Mutter aufgegessen wird. Sie zu verstecken, wage ich nicht. Ich weiß auch, dass meine Mutter sagen wird, sie habe in der Nacht sehr großen Hunger gehabt, und auf meinen Einwand, dann hätte sie doch ein Butterbrot essen können, erwidern wird, ich solle nicht albern sein.

Hätte sie mir doch Geld gegeben, damit ich mir eine neue kaufen kann, wäre das ja in Ordnung gewesen. Schließlich hat doch eine Tafel Schokolade für ein Kind einen hohen Wert.

Der Kindergarten

Gerade zieht sich der Georg seine Lederhose an, da sagt die Tante Ruth zu ihm: "Heute nimmst Du den Günter mit in den Kindergarten." Das gefällt dem Georg gar nicht, aber was soll er machen.

So ziehen wir los, ins Gemeindehaus unserer Kirchengemeinde, denn dort im Erdgeschoss befindet sich der Kindergarten. Da der Georg zu der Gruppe der großen Kinder gehört und ich zu den kleinen, hat er mit mir wenig zu schaffen. Darüber hinaus geht er ja schon bald zur Schule.

Paul-Erhardt geht schon länger in den Kindergarten, so gehen wir später gemeinsam. Heute aber gehe ich mit meinem Vetter Hartmut in den Kindergarten. Er ist der Sohn von Onkel Paul-Walter, dem Bruder meiner Mutter und Tante Käthe, meiner Patentante. Inzwischen gehöre ich zu den Großen und Hartmut zu den Kleinen. Nach der Frühstückspause gehen wir Großen in den Nebenraum. Dort ist eine Rutsche aufgebaut, auf der wir munter hinunter rutschen. Weil Hartmut fremd ist, nehme ich ihn mit in den Nebenraum. Kaum aber sitze ich auf der Rutsche, ergreift Paul-Erhardt den Arm von Hartmut und führt ihn zurück zu den Kleinen, was nicht ohne Tränen abgeht. Warum ich dies geschehen lasse und nicht einschreite, ich weiß es nicht. Später schaue ich nach ihm, und er fühlt sich wohl.

Heute ist Sommerfest im Kindergarten, und wir führen den Eltern das Märchen vom Froschkönig vor. Ich spiele die Rolle des Prinzen. Tante Ruth hat mir dafür extra meinen blauen Samtanzug angezogen. Es ist mit vier Jahren mein erster öffentlicher Auftritt. Als "Gage" erhalte ich ein Windrädchen. Nun sitzen wir beim Abendbrot und ich halte meinen Schatz stolz in die Höhe, aber der Georg will mein Windrad auch haben, und er zerrt und zieht so lange an meinem Besitz, bis der Stiel durchbricht. Natürlich bekommt er von der Tante Ruth dafür was hinter die Ohren, aber davon wird mein Windrad auch nicht mehr heile.

Irgendwie gefällt es mir im Kindergarten nicht mehr, und, oh Wunder, ich muss auch gar nicht mehr hin. So spiele ich mit Kurt-Walter oder fahre mit unserem Bollerwagen in unserem Garten.

Das Verhältnis

Onkel Heinz ist ein Neffe meiner Oma. Von Beruf ist er Volksschullehrer, und nun, wir schreiben das Jahr 1949, heiratet er die schöne Ruth Mäuler. In der Küche von Tante Grete, seiner Mutter, wird fleißig gebacken und gekocht. Natürlich fallen für uns Kinder viele gute Dinge ab. Besonders lecker sind die dünnen, trockenen Waffeln, von denen wir besonders gern naschen. Die Kuchen und Torten allerdings sind tabu.

Morgen also soll die Hochzeit sein. Die Gäste kommen von nah und fern, und weil mein Kinderbettchen belegt ist, schlafe ich im Bett des Belgischen Offiziers. - Ja, die Bundesrepublik wurde am 23. Mai 1949 mit Verkündung des Grundgesetzes gegründet, aber seine volle Souveränität hat Deutschland noch nicht wiedererlangt. Noch sitzen die Hohen Kommissare auf dem Petersberg bei Bonn und zitieren den Bundeskanzler zum Rapport.- Ich schlafe sehr schlecht, weil ich Angst habe, der Offizier könnte in der Nacht zurückkommen und mit mir schimpfen, weil ich in seinem Bett liege.

Er kommt aber nicht, denn Hochwürden „haben“ ein Verhältnis mit der ebenfalls katholischen, ledigen Apothekerin. Sicherlich lassen beide bei ihren Begegnungen stets größte Vorsicht und Diskretion walten. Unglücklicherweise verursacht der Offizier aber mit ihr als Beifahrerin nachts einen schweren Autounfall, er fährt ihren VW Cabrio zu Schrott, und von da an gibt es im Dorf keine Geheimnisse mehr über die beiden.

Schokoladenbrei

Heute besuche ich Mechthild. Wir spielen ein wenig im Schlafzimmer der Eltern, dann gehen wir hinaus auf den Balkon.

In der Schule gibt es Schulspeise. Die Militärverwaltung sorgt dafür, dass die Schulkinder eine warme Mahlzeit bekommen. Das Essen, oft eine Suppe, wird in der Küche der Soldaten gekocht und mit Militärlastwagen angefahren. Heute gab es außerdem für jedes Kind eine Tafel Schokolade.

Mechthild hat ihre von außen vor das Küchenfenster gelegt, und weil die liebe Sonne scheint, gibt es nun Schokoladenbrei. Den essen wir mit großem Vergnügen und beschmierten uns dabei kräftig die Backen und Mäuler. Das gefällt Mechthilds Vater außerordentlich, und er kommt sogleich mit dem Fotoapparat und schießt drei Bilder von uns. Farbbilder, die ich 60 Jahre später zum ersten Mal sehe und digital aufbereite, denn sie haben im Laufe der Jahre einen gewaltigen Blaustich bekommen. Über das Ergebnis sind Mechthild und ich gleichermaßen erfreut.

Die Todesnachricht

Dass mein Papa im Himmel ist, weiß ich schon lange, meine Mutter hat es mir oft genug gesagt. Diesen Verlust kompensiert sie mit erfundenen Geschichten über ein Trampel Auto, wie Kurt-Walter eins besitzt. Ein solches Auto hätte mein Vater mir im Himmel besorgt, und ich flitzte mit dem Gefährt dort so wild herum, dass die Engel zur Seite springen, und der Petrus mit dem Finger droht.

Irgendwie unverständlich ist mir daher die Stimmung zu Hause, als jetzt im Jahre 1949 die offizielle Todesnachricht eingeht. Georg Schunk, der Sanitäter meines Vaters im Lazarett und zugleich ein Bewunderer meines Großvaters, schreibt, dass mein Vater im Lazarett in Tscherepowetz "heimgegangen" sei. Das aber wissen wir doch schon lange, warum jetzt diese Trauer? Erst viel später erzählt mir meine Mutter von ihren diesbezüglichen Visionen, die ja noch Hoffnungen zuließen, die es jetzt aber nicht mehr gibt. So sitze ich mit meiner roten Schürze bekleidet im Schlafzimmer der Großeltern. Während meine Oma, mit dem Brief in der Hand im Bett liegt und weint, freue ich mich von ganzem Herzen, denn nun weiß ich sicher, dass ich mein Trampel Auto bekomme. Ja, Mutti bestätigt es mir sogar. Dann geht sie raus, es hat geklingelt.

Kurze Zeit später kommt meine Mutter mit einer Reiterfigur aus Ton ins Schlafzimmer zurück, und meine Oma sagt: “Haben sie es Dir doch gegeben.“ Jenes Pferd war eines von zwei Exemplaren aus dem Jahre 500, die aus Mongolischen Prinzengräbern kamen.

Der Bruder meiner Oma, Onkel Heinrich, Mann von Tante Grete und Vater von Onkel Heinz, war Sportflieger. In den 30er Jahren ging er als Pilot nach China. Von der Luft aus sollte der Gelbe Fluss neu vermessen werden. Dort bekam er die Figuren geschenkt.

Nach Deutschland zurückgekehrt, musste er beim Aufbau der Luftwaffe mitwirken und stürzte dabei tödlich ab.

Dieses Pferd nun gefiel meinem Vater am besten. Als er in den Krieg zog, versprach Tante Grete ihm, dass er es nach seiner Rückkehr erhalten werde, und nun bekam meine Mutter das Pferd, obwohl mein Vater nicht mehr zurückkommen wird.

Der Zauberstab

Tante Ruth möchte Diakonisse werden. „Marburger Schwester“. So reist sie heute ganz früh ins Mutterhaus nach Marburg, um sich vorzustellen. Gestern Abend hat sie mich gefragt: „Was soll ich Dir denn mitbringen?“ Das war nun eine schwere Frage, weil ich viele Wünsche habe, und nun sollte ich mich für einen entscheiden. Da fiel mir eine geradezu geniale Lösung ein. Wenn ich einen Zauberstab hätte, könnte ich mir doch alle meine Wünsche selbst erfüllen. Also wünsche ich mir einen Zauberstab, und Tante Ruth verspricht mir feste, dass sie mir diesen Wunsch erfüllen werde.

Nun liege ich in meinem Bettchen und erwarte sehnsüchtig ihre Ankunft. Da kommt die gute Tante herein, allerdings mit leeren Händen. „Leider“, so sagt sie mir, „hatte das Geschäft schon geschlossen, als ich dort einkaufen wollte.“ Schwer enttäuscht fange ich bitterlich an zu weinen und frage sie, warum sie denn nicht zuerst in das Geschäft gegangen sei. Daran habe sie nun leider nicht gedacht. Ich habe mir nie wieder einen Zauberstab gewünscht.

Tante Käthe

Am häufigsten von meinen Paten sehe ich meine Patentante Käthe. Sie ist mit Onkel Paul-Walter, dem älteren Bruder meiner Mutter, verheiratet. Beide wohnen in Steimelhagen, und das ist nicht sehr weit von Waldbröl entfernt.

Tante Käthes Eltern, Ewald und "Gustchen" Krämer, betreiben eine Landwirtschaft. Von dort stammen auch die Hühner, die wir in Waldbröl halten. Als uns eines davon starb, brachte uns der Onkel Paul-Walter in seiner Aktentasche auf dem Motorrad ein neues mit.

Urlaub in Steimelhagen

Mit Tante Ruth habe ich jetzt einige Tage Urlaub in Steimelhagen gemacht. Neben Krämers und Schäfers gab es noch einen Knecht auf dem Hof. Auch kam in dieser Zeit Tante Martha aus Berghausen zu Besuch. Sie war mit Tante Käthes Bruder verlobt, der ebenso wie mein Vater, im Krieg geblieben ist. Ich werde sie noch häufiger sehen.

Heute nach dem Frühstück gehen Tante Ruth und ich nach Holpe, denn unser Aufenthalt ist vorbei. Es ist ein steiler Fußweg dort hinunter. Zwischen Holpe und Waldbröl verkehrt der Postbus. Bevor der aber kommt, fragt Tante Ruth den Paketwagen, ob er uns mitnähme. Das tut er. Hinter dem Fahrer und Beifahrer steht ein einfacher Holzhocker. Darauf setzt sich Tante Ruth und nimmt mich auf ihren Schoß. Im Dach des Postautos ist ein Loch, und ich frage mich, ob das wohl aus dem Krieg stammt.

Christas Taufe

Heute fahren wir wieder nach Steimelhagen, diesmal mit dem Zug bis Volperhausen. Dort erwartet uns schon Onkel Paul-Walter. Er ist mit dem Fahrrad gekommen, das er nun neben sich herschiebt. Seine Tochter soll heute getauft werden.

Die Taufe findet oben im Wohnzimmer der Schäfers statt, und es ist unser Opa, der das Kind auf den Namen: Christa Anette Ursula, tauft. Zur Feier des Tages habe ich wieder meinen blauen Samtanzug an.

Patmos

Patmos ist ein christliches Erholungsheim in der Nähe von Siegen. Und weil der Georg Herbstferien hat, fährt Tante Ruth mit uns zwei Jungens dort hin. Der Postbus bringt uns früh nach Schladern, und von dort fahren wir mit dem Zug weiter.

Unterwegs, kurz bevor wir in einen Bahnhof einfahren, kneift mich die Tante in den Arm. Zugleich fragt sie: „Wie heißt dieser Ort?“ Mehr aus Schreck, als aus Schmerz, denn natürlich hat sie nicht feste gekniffen, schreie ich: „AU!“, und Tante Ruth sagt. „Richtig.“

In Geisweid vor dem Bahnhof wartet Herr Hartmann mit einer Kutsche auf uns. Wir Jungens dürfen vorne auf dem Kutschbock sitzen, und ab geht die Fahrt.

Patmos ist eine große Anlage mit eigener Landwirtschaft, die von Herrn Hartmann verwaltet wird, einer Gärtnerei, einer Krankenstation und einer eigenen Kirche. Patmos hat eine Insellage inmitten von Feldern und Wäldern.

Heute besuchen Georg und ich die Gärtnerei, und der Gärtner öffnet ein Frühbeet, in dem Radieschen wachsen. Er deckt aber nur einen Teil des Beetes auf. Damit ich aber auch an die Radieschen ran komme, knie ich mich auf den Glasrahmen. Natürlich weist mich der Gärtner sofort auf die Gefahr hin und fordert mich auf, da herunter zu gehen. Doch genau in diesem Augenblick breche ich ein. Zack, habe ich eine große Fleischwunde und humpele zur Krankenstation. Dort erhalte ich einen anständigen Verband und mache meine erste Bekanntschaft mit Jod. Sehr unangenehm!

Zwischen dem Haupthaus, in dem wir wohnen und dem Kuhstall liegt ein kleiner Wald, in dem befindet sich eine große Schaukel für uns Kinder und ein richtiges Plumpsklo für die Arbeiter. Das hat mich stark beeindruckt.

Abends dürfen wir Kinder die Kühe von der Weide in den Stall treiben, was gar nicht so leicht ist, weil die Kühe ihren eigenen Kopf haben, es uns aber doch gelingt.

Herr Hartmann fährt mit einem Fuhrwerk, auf dem ein langer runder Tank liegt, an mir vorbei, und ich frage ihn, ob er mich mitnimmt. Er tut es. Wir fahren hinaus auf die Weide, und dort öffnet er den Tank, heraus fließt Gülle. Auch das hat mich stark beeindruckt, und so spiele ich noch jahrelang „Gülle ausbringen“, indem ich draußen pinkelnd vorwärts gehe, anstatt mich an einen Baum oder in eine Ecke zustellen.

Heute habe ich Geburtstag, ich werde fünf Jahre alt. Der Georg geht mit mir auf „Betteltour“. Überall erzählt er mit Erfolg, dass ich heute Geburtstag habe. Der Gärtner schenkt mir einen Blumentopf mit einer Pantoffelblume, die Köchin füllt aus einer großen Schublade Plätzchen in eine Tüte, in der zuvor Tee war. Alle guten Gaben drapiere ich um meinen Frühstücksteller, und die Dame, die mir gegenüber sitzt, fragt die Tante Ruth, ob der Kleine wirklich Tee geschenkt bekommen habe. Natürlich nicht, dumme Frage.

Zwei Jahre später machen wir vier Neumärkers hier Ferien. Es ist eine einzige Katastrophe. Wir Jungens verstehen uns mit unserer Mutter nicht. So bitte ich unsere Oma, die mit Bekannten zu Besuch kam, unter Tränen, mich mit nach Waldbröl zu nehmen, was sie ablehnt. Für lange Zeit war dies das letzte Mal, dass die Mutti mit allen drei Kindern zusammen verreist ist.

Bunte Pillen

Eigentlich ist es Doros Kinderbettchen, das im Schlafzimmer der Großeltern steht. Warum ich heute hier schlafen soll, ich weiß es nicht. Da ich noch nicht einschlafen kann, „untersuche“ ich Omas Nachttischschublade. Zuerst finde ich ein silbernes, sehr glänzendes Geldstück (50Pfg). Dann ein Röhrchen, voll mit roten Pillen. Die muss ich doch einmal probieren...

Die Hausärztin bringt mich schnell ins Krankenhaus, der Magen wird mir ausgepumpt, und ich lebe weiter. Nun bin schon zum zweiten Mal dem Tod von der Schippe gesprungen.

Liebesbeweis

Das Arbeitszimmer des Offiziers ist nun unser Schlafzimmer. Auch die Mutti schläft hier wenn sie aus Bonn kommt.

Gerade kommt sie nach Hause. Wir liegen schon im Bett, schlafen aber noch nicht. Die Mutti hat für jeden von uns einen Pinsel für den Farbkasten mitgebracht, und ich darf mir als erster einen aussuchen. Ich nehme den roten. Dass ich als erster wählen darf, empfinde ich als großen Liebesbeweis.

Schloss Homburg

Heute gibt es etwas Besonderes: Wir fahren mit Mutti nach Schloss Homburg. Dieses Schloss ist unser Oberbergisches Heimatmuseum.

Zuerst geht es mit dem Triebwagen der OVAG über Nümbrecht nach Kalkofen und von dort zu Fuß an unser Ziel. Unterwegs bewirft mich der Georg mit Kletten, die ich dadurch kennenlerne.

Gleich am Eingang begrüßt uns eine Studienkollegin unserer Mutter, die uns durch das Schloss führt. Höhepunkt der Besichtigung ist ein Turmzimmer. Dort hebt die Kommilitonin ein paar Fußbodenbretter an, und wir haben den Blick frei in das Burgverlies. Das ist schaurig schön. Anschließend zeigt sie uns die Schmetterlingssammlung, die im selben Raum steht. Im Schrank an der Wand werden viele Schubladen geöffnet, und da sind sie, in allen Farben und in allen Größen, aus aller Herren Länder.

1973 werde ich zum letzten Mal das Schloss besuchen. Die Böden sind mit Nadelfilz ausgelegt, vom Verlies keine Spur mehr, und auch die Schmetterlinge werden nicht mehr gezeigt. Schade!

Café Huhn

Gestern waren wir mit der Mutti wieder einmal im Café Huhn. Kuchen und Kakao haben lecker geschmeckt. Zuletzt hat die Mutter noch eine Tüte Eiswäffelchen gekauft.

Die Mama duzt die Chefin, denn sie sind zusammen zur Schule gegangen. Das Café selbst ist nicht allzu groß. Das wird sich aber bald ändern, denn bald werden die Gäste auch von weit her kommen, und so muss das Café zwei Mal erweitert werden. Dann wird im ursprünglichen Gastraum ein Fernsehapparat stehen, und wenn ich zum Fernsehen nicht zu Nölls gehen möchte, gehe ich eben ins Café Huhn, esse eine Schillerlocke, das ist ein Hörnchen aus Blätterteig, mit Sahne gefüllt und werde dort in die Röhre schauen.

1990 werde ich meinem Sohn Waldbröl zeigen, unser Haus, und auch das Café Huhn. 2008 erzählt mir ein Herr aus Wuppertal, er habe bei Huhns jährlich eine Tonne Christstollen backen lassen als Werbegeschenk für seine Kunden.

Ich hatte keine Chance, aber ich habe sie genutzt

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