Читать книгу Ich hatte keine Chance, aber ich habe sie genutzt - Günter Neumärker - Страница 5
Die Volksschulzeit
ОглавлениеDie Schule in Waldbröl
Ja, jetzt heißt sie noch so, und in Österreich wird sie auch noch Jahrzehnte später so heißen. Ich werde mich dann bei jedem „Tatort“ aus Österreich freuen, wenn ich dort ein Schulgebäude sehe, auf dem groß Volksschule steht.
Schon lange vor der Einschulung sagt die Tante Ruth zu mir, dass bald der Ernst des Lebens beginnt. Und wenn ich gefragt werde, ob ich mich denn auch auf die Schule freue, so ist meine Antwort stets ein klares „Nein.“ Nun ist es also so weit, der Ranzen gepackt, die Schultüte gefüllt, so begleitet mich Tante Ruth in die Schule. Ich setze mich neben Paul-Erhardt in die dritte Reihe. Unser Lehrer heißt Müller, und er erzählt den lieben Eltern, was nun auf sie und uns zukommt. Unter anderem empfiehlt er einen Mittagsschlaf, der bei uns ja obligatorisch ist. Und während ich ihn heute halte, vergnügen sich meine Geschwister mit meiner Zuckertüte, sie naschen sie ratzekahl leer, nicht ein Keks ist mir geblieben. Ja, meint meine Schwester: "Wir hatten schließlich auch keine." Nun habe ich keine. Dies war das erste Mal, dass ich für die Mängel, an denen meine Geschwister gelitten hatten oder noch leiden werden, herhalten muss.
Als ersten Buchstaben lernen wir das kleine „e“. Nun sitze ich neben meiner Oma in ihrem Wohnzimmer und mache Hausaufgaben. Drei Reihen „e“ sollen wir auf die Schiefertafel schreiben. Schnell erledigt, denke ich, aber meine „ees“ gefallen meiner Oma gar nicht, und so greift sie zu Schwamm und Lappen. Oh, wie ist das Schreiben doch mühsam.
Unsere Haushilfe heißt Angnes, die liebevollste Hilfe, die wir jemals hatten. Bevor sie mich morgens weckt, zieht sie mir erst die Strümpfe an und dann sagt sie ganz sanft: „Günterchen, Du musst jetzt aufstehen.“ Dies ist die einzige Wohltat des Tages, denn auf unerfindliche Weise komme ich in der Schule nicht zurecht. Ich bin ein miserabler Schüler und habe erhebliche Probleme mit dem Lesen und der Rechtschreibung.
Die großen Ferien
Das schönste an der Schule aber sind doch immer noch die Ferien, und die großen stehen nun bevor. Leider darf ich nicht mit meiner Mutter und den Geschwistern an die Nordsee fahren, was ich als Strafe für meine schlechten Leistungen in der Schule empfinde. Tatsächlich war es eher ein Akt der Lieblosigkeit und der Gleichgültigkeit. So amüsiere ich mich in dieser Zeit zu Hause in unserem Dorf.
Zum Beispiel mit Fredy. Er, so alt wie meine Schwester, will mir etwas Schönes zeigen, und zwar in unserem alten Hühnerstall. Was mag das sein, dort? Es sind Doktorspiele, natürlich streng wissenschaftlich. Dummerweise hat uns die Tante Ruth zuvor beobachtet, und sie ahnt Böses. Jetzt ist sie von ihrem Mittagsschlaf erwacht, und ich werde einem peinlichen Verhör unterzogen. Es ist unfassbar, aber sie hat einfach kein Verständnis für die Wissenschaft, und so geht sie mit mir in den Keller, um mir die Hose stramm zu ziehen.
Nachdem ich mir die Hände gewaschen und die Tränen getrocknet habe, setzen wir, meine Oma, Tante Ruth und ich, uns in unseren Vorgarten und schauen uns den Festumzug anlässlich des hundertjährigen Bestehens des Waldbröler Viehmarktes an. Besonders beeindruckt mich natürlich der Wagen der Schmiede Simon.
Gewissensbisse werden die gute Tante noch fünfzig Jahre später quälen, weil sie mich jetzt gehauen hat, dann endlich wird sie mich dafür um Verzeihung bitten. Ich werde ihr sagen, dass es mir unendlich leid tut, dass sie sich so lange damit geplagt hat, denn ich weiß noch alles von diesem Tag, sogar die Farbe des Kleides, das sie trug. Nur, dass wir im Keller waren, habe ich dann längst vergessen. Ich muss es wohl als eine gerechte Strafe empfunden und verdrängt haben.
Von der Nordsee kommt Post, das Wetter sei gut, und für mich hätten sie schon viele schöne Muscheln gesammelt. Tatsächlich überreicht mir Doro nach ihrer Rückkehr immerhin ein Säckchen voller Muscheln, aber es sind die miesesten Miesmuscheln, 08/15. Georg hingegen hat Schnecken-, Schwert- und andere kostbare Muscheln. Dazu eine Reihe von Souvenirs, die ich auch gerne gehabt hätte. So bin ich doppelt benachteiligt.
Mittags kommt Paul-Erhardt vorbei und fragt, ob ich heute Abend mit zum Feuerwerk ins Schwimmbad dürfe? Ich darf nicht. Da aber protestiere ich, ich hätte schon nicht mit an die Nordsee gedurft, jetzt wollte ich wenigstens einen kleinen Ausgleich haben, und so darf ich denn doch mit. Mein Stolz darüber, nun etwas erlebt zu haben, was meine Geschwister nicht hatten, wird mir am nächsten Morgen dadurch vergällt, dass mir meine Schwester das Feuerwerk ziemlich genau beschreibt und mir zunächst erzählt, sie sei gestern auch dort gewesen, dann aber sagt sie, auf Langeoog habe es auch so ein Feuerwerk gegeben.
Frischer Wind
Mutti hat auch ihr zweites Examen bestanden. Von der Ausbildung her ist sie nun eine Pastorin, aber (Das Weib schweige in der Gemeinde, 1. Kor. 14, 34ff) als Frau darf sie sich nur Vikarin nennen. Es wird noch viele Jahre dauern, bis auch in der Kirche die Gleichberechtigung Einzug hält.
Onkel Johannes studiert noch, und Opa meint, er solle sich sein Studium selbst verdienen. Onkel Johannes aber sagt: "Ich kann nicht arbeiten." Ich verstehe das nicht, Männis Onkel Erich und sein Onkel Albert arbeiten doch auch.
Nun ist die Mutter wieder zu Hause und gibt Religionsunterricht an den Waldbröler Schulen, vorwiegend jedoch am Gymnasium. Dabei muss sie dafür sorgen, dass sie sich ihren Rücken frei hält. So zieht sie jedem Kind eine „andere Jacke“ an. Die Doro bekommt die Mutterrolle, der Georg die Vaterrolle zugewiesen, und ich bin der Versager. Das hat allerdings den großen Vorteil, dass mir meine Geschwister diese Rolle nicht streitig machen. Während sich die Doro und der Georg noch bis in die 1990er Jahre hinein erbitterte Konkurrenzkämpfe liefern werden, werde ich meine Jacke 1967 ausziehen, mein Leben selbst in die Hand nehmen und erfolgreich nach Berlin gehen.
Doros Rolle als “Ersatzmutter“ kommt mir allerdings sehr zu Pass, denn Doro und ich sind ein Herz und eine Seele, und das werden wir wohl bis ans Ende unsere Tage auch bleiben. So manches Mal hat sie für mich bei der Mutter eine Zustimmung für etwas bewirkt, das die Mutter zuvor schon abgelehnt hatte. Von daher ist mir die Rolle der Maria als Fürbitterin in der Katholischen Kirche durchaus verständlich.
Natürlich hat meine Mutter, trotz gegenteiliger Bekundungen, auch keinen Sinn für die Hausarbeit. Die liegt ganz in der Hand der Oma, die die Haushilfen anleitet und auch selbst Hand anlegt.
Ganz im Gegensatz zum Georg hatte ich es sehr gut bei meiner lieben Tante Ruth. Nun, wo die Mutter zu Hause ist, und Tante Ruth in Bad Salzuflen auf die Bibelschule geht, wendet sich das Blatt, und ich habe den Eindruck, dass ich nun dafür büßen muss, dass es dem Georg nicht so gut ging.
Seit langer Zeit muss ich mittags unserer Haushilfe beim Abwasch helfen und abtrocknen. Heute hilft der Georg auch dabei, und nimmt sich anschließend aus der Haushaltskasse 5 Pfennige. Die habe ihm die Mutter für jedes Abtrocknen versprochen. Wie schön, denke ich, und möchte nun auch immer 5 Pfennig haben. „Nein“, sagt meine Mutter, „Du musst ja sowieso abtrocknen, beim Georg ist das eine Sonderleistung, die auch besonders bezahlt werden muss.“
Den Eindruck, dass ich gegenüber meinen Geschwistern generell benachteiligt werde, habe ich noch viele, viele Jahre lang. Einmal habe ich dieses Gefühl ganz konkret angesprochen und gesagt: „Ich glaube, Du hast meine Geschwister mehr lieb als mich.“ Da kam mir meine Mutter ideologisch und erwiderte: „Das gibt es gar nicht, dass eine Mutter ihre Kinder unterschiedlich lieb hat.“ Erst 1989 wird meine Mutter eine „Fehlspekulation“ von mir heilen, die mich mehrere 1000 DM gekostet hätte; Geld, das ich mir geliehen hatte. Erst von da an werde ich das Gefühl haben, jetzt werde ich genauso behandelt wie meine Geschwister.
Im Jahre 2000 wird meine Mutter ihren 81. Geburtstag bei mir in Kellenhusen feiern und ein weiteres Geständnis ablegen, indem sie sagt: „Meine Erziehung war immer willkürlich.“ „Auch das“, sage ich ihr, „weiß ich schon lange, und ich finde es sehr respektabel, dass Du das nun bekennst.“ Damit wird zwischen uns alles bereinigt werden, was Jahrzehnte unter der Decke gehalten, abgewiegelt und bestritten worden war.
Berufswunsch
Meine Mutter ist Vikarin, mein Opa Evangelist und auch Onkel Paul-Walter ist Pastor. Was ich erst später erfahre: Pastoren gab es in unserer Familie schon seit der Reformation, so zum Beispiel Jacob Stein, genannt Pater Stephan, der 1532 konvertierte. Einer meiner Vorfahren hat schon an Luthers Grab eine Rede gehalten. Da liegt es doch nahe, dass auch ich Pastor werden will, denn es liegt ja ganz offenbar in den Genen.
Zuerst bin ich allerdings davon überzeugt, dass ein Pastor nur sonntags arbeiten muss, und so wähle ich den Doppelberuf: Pastor und Anstreicher (Maler).
Nun aber tut sich eine neue Perspektive auf. Nach Waldbröl kommt ein Missionszelt. Dort wird ein Evangelist wie mein Opa eine Woche lang predigen. Nur, dass der Prediger im Zelt, Zeltmissionar heißt. Ich will Zeltmissionar werden.
Selbstverständlich helfe ich beim Aufbau des Zeltes mit, und was besonders schön ist, ich darf auch, weil Herbstferien sind, im Lautsprecherwagen mit über Land fahren und zu den Vorträgen einladen. Das geht über viele Jahre so.
Mit von der Partie ist Horst Waffenschmidt, der später als Staatssekretär im Innenministerium für die Russlanddeutschen zuständig sein wird. Der fragt mich bei einer dieser Fahrten, wen ich denn lieber hätte, meine Mutti oder die Tante Ruth. Natürlich sage ich: „Die Tante Ruth“, und er meint, dass wolle er meiner Mutter erzählen. Diese Peinlichkeit will ich mir ersparen, und so berichte ich ihr selbst von dem Gespräch. Es hat meine Mutter überhaupt nicht berührt, sie meinte nur: „So, so.“
1963 werde ich diesen Berufswunsch „begraben“, dann wird meine Mutter sagen, ich solle mit der Mittleren Reife die Schule verlassen und ich stimme ihr zu. Somit entfällt das Studium der Theologie mangels Abitur, und ich muss mir ein neues Berufsziel suchen.
Die Hohegrete
Das christliche Erholungsheim „Hohegrete“ spielt in unserer Familie eine besondere Rolle. Hatte die Unterprimanerin Anneliese Schäfer dem Assessor Günter Neumärker zunächst einen Korb gegeben, weil sie Theologie studieren wollte, so bestellte sie ihn in den Sommerferien 1937 auf die Hohegrete, um ihn dort ihren Eltern vorzustellen, was, wie man weiß, erfolgreich war. Und so feierten die Zwei hier ihre Verlobung.
15 Jahre sind seither vergangen. Jetzt sind Osterferien, und heute fährt die Tante Ruth mit dem Georg und mir dort hin. Wir fahren mit dem Zug bis (kneifen) „AU“ und von dort mit der Taxe an unser Ziel. Georg und ich finden bequem auf dem Beifahrersitz Platz, denn ich bin noch sehr zart. Auf der Rückfahrt wird es merklich eng, ich habe erheblich zugenommen und kämpfe seit her mit meinem Übergewicht.
Noch zwei Mal werden Hans-Georg und ich hier unsere Ferien mit der Tante Ruth verbringen.
Die Mundorgel
Mein Vater war mit dem Druckereibesitzer im Ort befreundet. So darf ich in der Druckerei Heise ein- und ausgehen, bekomme Papier geschenkt und kann bei der Arbeit zusehen. Stets bin ich freundlich geduldet. Der Chef trägt einen weißen Kittel und sein Sohn Hans einen "Blaumann".
1953 fällt mir in dieser Druckerei die erste Ausgabe der Mundorgel in die Hände - jenem kleinen Büchlein voller Fahrtenlieder - und natürlich bekomme ich ein Exemplar geschenkt.
Ich zeige es einem Schulfreund, und der fragt mich, ob ich ihm meine Mundorgel verkaufen würde. Ich weise auf den gedruckten Preis von 50 Pfennig hin, und er gibt mir 20 Pfennig dafür. Irgendwie ist mir dabei aber unwohl. Ich hatte die Mundorgel ja geschenkt bekommen und bin mir sicher, dass ich auch eine weitere geschenkt bekomme. Darf ich da einen Gewinn machen? Nein, das darf ich nicht! Das ist unanständig. So gebe ich meinem Kumpel seine 20 Pfennig zurück.
Selbstverständlich eile ich sofort in die Druckerei, um mir ein neues Exemplar zu holen. Aber was ist das? Die gewohnte Freundlichkeit ist verschwunden. Vater und Sohn sind sehr ungehalten darüber, dass ich Dinge verschenke, mit denen sie ihr Geld verdienen. Aber natürlich bekomme ich eine neue Mundorgel geschenkt, und der Ärger ist schnell vergessen. Später wird einmal ein Chef von mir sagen: "Jede Gefälligkeit rächt sich."
Fünfzig Jahre später wird es die Mundorgel immer noch geben. Nicht nur im Miniformat für die Brusttasche des Fahrtenhemdes, sondern auch gebunden in Postkartengröße mit Noten und Gitarrenakkorden. An Hans Heise, inzwischen über 70 Jahre alt, schicke ich eine E-Mail, in der ich diese Geschichte erzähle. Wenig später ruft er zurück und erzählt mir, wie er an diesen schönen Auftrag, die Mundorgel zu drucken, gekommen ist.
Die Schule geht weiter
Die ganze Schulzeit über ändert sich nichts an meinen Leistungen. Zu allem Überfluss schreiben wir bald täglich ein Diktat, und da mache ich auf meiner Schiefertafel locker 36 Rechtschreibfehler. Zum Glück sitze ich neben Paul-Erhardt, denn der ist der Beste in der Klasse und lässt mich oft abschreiben. Aber, wie das unter Kindern so üblich ist, eines Tages haben wir uns fürchterlich zerstritten. Paul-Erhardts Schwester Gerda kommt in die Schule und fordert, dass wir auseinander gesetzt werden. Da war´s vorbei mit dem Abschreiben. Natürlich muss ich, weil ich ein schlechter Schüler bin, den Platz wechseln, und komme auch nicht auf meinen Stammplatz zurück, nachdem wir uns wieder vertragen haben.
Ich bin Legastheniker, aber das weiß noch niemand. Später wird man wissen, dass sich Legastheniker in der Schule gewaltig anstrengen müssen, und das tue ich auch. Leider sind die Ergebnisse nicht entsprechend. Manchmal wache ich morgens auf und habe einen Druck in der Magengegend und ein Ziehen in der Herzgegend. Ich nenne es "ein komisches Gefühl". Es ist eine erste Depression, der körperliche Ausdruck meiner Hoffnungslosigkeit. Oft denke ich auf dem Schulweg, heute wirst du wieder eine Niederlage einstecken und zuhause dafür kritisiert werden. So höre ich dann von meiner Mutter oder der Oma Sätze wie: „Du bist entweder dumm oder faul; dumm bist Du nicht, also musst Du faul sein. Streng Dich doch mal an, Du kannst doch wenn Du willst. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.“ Oder ich höre oft die Frage: "Was soll aus Dir nur werden?" Das tut weh, denn diese Kritik ist ungerecht. Noch heute fühle ich den Schmerz von damals, wenn ich zu Unrecht kritisiert werde.
In der ersten Stunde haben wir immer biblische Geschichte. Natürlich kenne ich vieles bereits von dem, was uns der Lehrer Müller da erzählt. Es fällt mir aber auf, dass ich, ohne sie nachzulesen, auch die unbekannten Geschichten aus der Bibel am nächsten Morgen ohne weiteres wiederholen kann.
Heute hören wir, wie Moses das Volk Israel aus der Ägyptischen Knechtschaft befreit und mit ihm 40 Jahre lang durch die Wüste zieht. Ich frage mich, warum er so lange durch die Wüste zieht, und nicht gleich ins Gelobte Land geht? Den Lehrer zu fragen wage ich nicht, denn die Tatsache als solche hat er so selbstverständlich vorgetragen, dass alle anderen Schüler sie sicherlich sofort begriffen haben, nur ich nicht, weil ich ja doof bin.
Es werden fast 40 Jahre vergehen müssen, bis ich endlich1989 die Antwort erhalte. Gerade geht die Berliner Mauer auf. Jubel und Euphorie liegen über dem ganzen Land. Der ehemalige Berliner Bürgermeister und Bundeskanzler, Willy Brand, sagt: „Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört.“ Auch ich bin optimistisch, weil mein lang gehegter Wunsch nach Wiedervereinigung endlich in Erfüllung geht. Nun sitzen wir in der Kantine, und ich strahle meinen Optimismus aus. Da sagt mein Kollege Alexander „Günter weißt du, warum Moses mit dem Volk Israel 40 Jahre durch die Wüste gezogen ist?“ „Nein“, sage ich, „das wollte ich immer schon wissen.“ „Weil Menschen, die in Unfreiheit geboren sind, sich in der Freiheit nicht zurecht finden. Es müssen erst mindestens zwei neue Generationen heranwachsen, bis wir wieder wirklich ein Land sind.“ Er wird Recht behalten, selbst zwanzig Jahre später sind Ost und West noch immer weit voneinander entfernt.
Als Hausaufgaben sollen wir den neunzigsten Psalm lernen. Vieles darin verstehe ich nicht, besonders den Vers: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ Den begreife ich erst nach meinem fünfzigsten Geburtstag als das, was die Psychologen mit „Loslassen“ bezeichnen.
Nicht nur im Religionsunterricht, sondern auch sonst erzählt uns der Lehrer oft von seinen früheren Nachbarn, die offensichtlich orthodoxe Juden waren und am Sabbat nicht einmal selbst das Licht anschalten durften, weil es symbolisch für Feuer anzünden stand, und deshalb Müllers stets um Hilfe baten. Überhaupt haben es ihm sowohl die Juden, als auch alles Fremde angetan. Wird es in der Klasse zu laut, ruft er: „Hier geht es ja zu wie in einer Juden-schule.“ Oft greift er sich dann einen Störenfried und lässt seinen Zeigestock tanzen, vom "kleinen Tick" am Arm, wie es mir passiert ist, und was die Tante Ruth peinlicher weise beim Baden entdeckt hat, bis hin zur kräftigen Tracht Prügel.
Wir hören auch mehrmals von seiner Wanderung durch Böhmen und dem merkwürdigen Kaffee (Türkischer Mokka), den man dort trinkt.
Jedes Jahr um Ostern bange ich um meine Versetzung. So lerne ich schon früh die Existenzängste kennen, die andere erst im Alter von 50 Jahren heimsuchen werden, wenn sie um ihren Arbeitsplatz bangen müssen.
Altena
Tante Ruth hat ihre Ausbildung abgeschlossen und arbeitet nun als Gemeindehelferin in Altena in Westfalen. Dort im Pfarrhaus bewohnt sie ein möbliertes Zimmer.
Wieder habe ich Ferien, und Tante Ruth nimmt mich mit. Wir sitzen im Zug und meine gute Tante liest die BILD Zeitung, was mir überhaupt nicht gefällt. Plötzlich sehe ich, wie eine fremde Frau mit unserem Koffer zur Tür geht. Erst denke ich an einen Irrtum meinerseits, dann aber alarmiere ich doch die Tante, die läuft schnell dem Koffer hinterher und ruft: „Das ist unser Koffer!“ Die Dame, die den Koffer trug, ist entsetzt und entschuldigt sich tausend Mal. Sie erklärt, dass die Frau, die ausgestiegen ist, sie gebeten habe, ihr den Koffer hinaus zu reichen.
Die Ferien dort sind schön. Im Haus selber wohnen noch zwei Kinder, mit denen ich spiele. Der Pfarrer und seine Frau sind verreist, aber Jogurt, den sie immer essen, ist noch reichlich vorhanden, und so lerne ich ihn auch kennen und schätzen.
In Tante Ruths Schrank finde ich „Feldgesangbücher“. im Format der Mundorgel. Diese Gesangbücher führten die Soldaten im II. Weltkrieg in ihrem Gepäck mit. Ich blättere ein wenig, da stoße ich auf das Lied: „Wer nur den lieben Gott lässt walten“, das gefällt mir so gut, dass ich es zu meinem Lieblingslied erkläre. Dies wird auch Jahrzehnte später noch so sein.
Onkel Clemens
Mein Patenonkel Clemens Kugelmeier war ein Schulkamerad meiner Mutter in Bergneustadt. Er wohnt in Rossenbach, einem Nachbarort von Waldbröl. Aufgabe der Paten ist es ja, beim Tode der Eltern die christliche Erziehung zu gewährleisten, und es spricht für die Liberalität meiner Mutter, dass sie damit auch den Onkel Clemens betraut hat, obwohl er katholisch ist. Sie selbst hatte in Bergneustadt am Katholischen Religionsunterricht teilgenommen, denn der evangelische Religionslehrer war ja ihr Bräutigam, der sie deshalb nicht mehr benoten durfte.
Auch Onkel Clemens hat in Bonn studiert, er will Studienrat werden und absolviert gerade in Waldbröl sein Referendariat. Das ist für mich eine schöne Zeit, denn jetzt kommt er jeden Tag zu mir und macht mit mir Schularbeiten und beschäftigt sich auch sonst mit mir. Einmal malt er mit mir eine Alpenlandschaft, die ich dem Kurt-Walter schenken will, der immer in den Ferien in die Berge fährt.
Onkel Clemens ist ein lustiger Vogel. Immer wenn ich krank im Bett liege, und er kommt zu Besuch, dann sagt er: „Was machst Du denn da, steh mal schnell auf.“ Inzwischen weiß ich ja, dass er dies nicht ernst meint. Meine Späße, die ich später mit Kindern machen werde, gehen auf ihn zurück.
Viel wichtiger für mich ist es aber, dass ich jetzt mal einen Mann an meiner Seite habe, der mir in Teilen den Vater ersetzt. Viele, viele Jahre später wird er mir sagen, dass er sich mehr um mich hätte kümmern müssen, und ich erwidere ihm, dass gerade seine Zeit, als Referendar in Waldbröl, unendlich wertvoll für mich war und ich deshalb nichts vermisse.
Kartoffelferien
1952 werde ich wieder Ferien in Steimelhagen machen. Auf dem Land heißen die Herbstferien auch Kartoffelferien, und bei der Kartoffelernte möchte ich helfen. So wird mich am Abend der Onkel Paul-Walter mit dem Motorrad abholen. Aber ich werde nicht helfen, statt dessen spiele ich mit Hartmut und Christa im Garten. Aus Decken wird uns Onkel Paul-Walter ein Zelt bauen, und mit uns einen Drachen steigen lassen.
In Steimelhagen ist der Weg zur Toilette etwas umständlich, denn die liegt im Kuhstall am Ende des Ganges. Ausgerechnet in der Nacht muss ich dringend dahin. Also Treppe runter, durch die Milchküche in den Stall. Als ich Licht mache, stelle ich fest, dass ich überhaupt keine Angst habe.
Heute ist Sonntag, und der Kindergottesdienst aus Holpe, wo Onkel Paul-Walter Pastor ist, hat einen Ausflug nach Steimelhagen gemacht. Nun sitzen die Kinder vorm Haus und freuen sich über Kuchen und Kakao.
„...doch nur faul“
Heute geht meine Mutter mit mir zum Augenarzt. „Mein Sohn ist in der Schule schlecht, prüfen Sie doch bitte einmal, ob es an den Augen liegt, oder ob er nur faul ist.“ Bei diesem „nur faul“ spüre ich einen Stich in meinem Herzen. Es verletzt mich sehr, denn noch mehr als ich jetzt schon lerne, kann ich nicht. „Nein, an den Augen liegt es nicht“, sagt der Arzt.
„Dann ist er also doch nur faul.“ Nun ist es sozusagen amtlich, und das tut sehr weh. Sie sollten sich alle irren, aber davon weiß ich noch nichts.
Ein ereignisreiches Jahr
Ostern 1954 bin ich in die vierte Klasse versetzt worden. Wie wird es weitergehen? Lehrer Müller fordert alle Schüler auf, die im nächsten Schuljahr die Hollenbergschule, unser Gymnasium, besuchen wollen, sich zu melden. Natürlich will ich auch dahin, Doro ist schon lange dort und der Georg auch, meine Mutter unterrichtet nur noch dort Religion. So stehe auch ich auf und ernte ein höhnisches Gelächter meiner Mitschüler. Dreimal wiederholt sich diese Prozedur im Laufe des Schuljahres, aber ich meine, dass ich nicht weiter in die Volksschule gehen möchte, sondern aufs Gymnasium gehöre.
Fußballweltmeister
Noch gibt es nur wenige Fernsehapparate, in Deutschland etwa 15.000 Stück. Einer davon steht bei Nölls im Wohnzimmer, und ich bin dort oft zu Gast.
Heute aber, und das wundert mich, bleiben Herr und Frau Nöll nicht daheim, sondern gehen in eine Gaststätte, um sich dort das Spiel Deutschland gegen Ungarn anzuschauen. Es ist das Endspiel der Fußballweltmeisterschaft, das aus Bern übertragen wird. Die Ungarn sind haushoher Favorit.
Georg, mein Freund Wolfgang Klees und ich sitzen derweil in unserer Gartenlaube und hören aus eben jener Gaststätte den Jubel, wenn ein Tor für Deutschland gefallen ist. Es regnet unaufhörlich, nein, jetzt schüttet es sogar. Das Dach ist undicht, wir werden nass. So rennen wir schnell ins Haus ans Radio. Noch steht es unentschieden, und die Zeit ist in wenigen Minuten abgelaufen. Da ruft der Reporter Herbert Zimmermann: „Der Ungar ist am Ball. Er hat den Ball – verloren diesmal, gegen Schäfer. Schäfer nach innen geflankt. Kopfball – abgewehrt. Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen – Rahn schießt –Tooooor! Tooooor! Tooooor! Tooooor! Tooooor für Deutschland." Fünf Minuten später ist Deutschland Weltmeister.
Knapp 50 Jahre später wird es einen sehr bewegenden Film geben, Das Wunder von Bern, und dort wird für mich Fußballlaien auch das Geheimnis des Sieges gelüftet. Herr Adolf Dassler (Adidas) ist der Sportwart der Deutschen Mannschaft. Er hatte einen neuen Fußballschuh mit austauschbaren Stollen entwickelt. Kurze, für trockenes Wetter, lange, für Regen, und diese Schuhe hatte nur die Deutsche Mannschaft. Nicht nur in Waldbröl hatte es geschüttet, auch in Bern, und das war unser Glück.
Jetzt, neun Jahre nach dem Ende des Dritten Reiches, hat sich Deutschland zumindest im Fußball wieder internationale Anerkennung erkämpft.
Werbung von VW
Georg hat einen Schulkameraden, der ein kleines Ringbuch besitzt. Ein Werbegeschenk von VW. So ein Büchlein hätte ich auch gerne. Also mache ich mich an einem Tag, an dem wir bis fünf Uhr nachmittags Schule hatten, auf den Weg zu VW-Wehner. Zwei flotte Verkäufer sitzen gleich am Eingang, und ich trage mein Anliegen vor. „Ja“, meint der eine etwas höhnisch, „das bekommen nur unsere Kunden. Dein Vater fährt wohl keinen VW, sag ihm er solle sich einen VW kaufen, dann bekommst Du auch so ein Ringbuch.“
Da bricht es aus mir heraus, laut weinend sage ich: „Aber ich habe doch keinen Vater mehr, der ist doch im Krieg geblieben.“ Nun sind die flotten Jungs doch sehr betroffen, denn das haben sie natürlich nicht gewollt und sind rührend bemüht, die Scharte wieder auszuwetzen. Einer von ihnen bindet mir gar meinen Schuh zu.
Tante Angelika
Dass sich mein Vater 1937 in seine Schülerin verliebte und sich mit ihr noch während der Schulzeit verlobte, war die Sensation bis hin zur obersten Schulbehörde in Koblenz schlechthin.
Natürlich wollte die Frau des Schuldirektors vom ersten Kind Patentante werden, das aber wurde unsere Tante Ruth, weil ihr Mann zuvor gefallenen war. Auch beim Georg wurde es Frau Petry aus einem ähnlichen Grunde nicht. So wurde sie schließlich meine Patentante. Ich habe viel von ihr gehört und zu Weihnachten auch immer einen schönen Pullover von ihr bekommen. Gesehen habe ich sie zehn Jahre lang nicht.
Nun, im Jahre 1954, haben wir eine Haushilfe aus Bergneustadt, und jetzt in den Herbstferien nimmt sie mich mit zu sich nach Hause. Natürlich kennt sie Herrn Direktor Petry, der seit 1945 im Ruhestand lebt. Zum einen hat sie die gleiche Schule besucht, und zudem ist Bergneustadt eben auch nur eine Kleinstadt, wo jeder jeden kennt.
Heute machen wir unseren ersten Besuch dort, und Tante Angelika lädt mich für den übernächsten Tag zu sich ein. Zu ihrem Mann darf ich Onkel Walter sagen. Mit ihm unterhalte ich mich, während Tante Angelika noch in der Küche schafft. Dann ist der Kaffeetisch gedeckt, und es gibt Pflaumenkuchen mit einer dicken Portion Sahne oben drauf. Mein Gott, schmeckt der gut, besser als jede Buttercremetorte. Pflaumenkuchen mit Sahne wird von nun an mein Lieblingskuchen sein. Wichtig ist dabei aber, dass der Boden aus Hefeteig, und nur aus Hefeteig besteht.
Opas Tod
Wieder bin ich in Steimelhagen zu Besuch. Die Eltern meiner Patentante Käthe wohnen dort. Sie betreiben ja eine kleine Landwirtschaft. Morgens fährt Onkel Paul-Walter nach Patmos, um seinen Vater, meinen Opa, abzuholen, der ist schwer krank. Auf der Rückfahrt kommen sie an Steimelhagen vorbei und ich steige zu. Es ist sehr eng, und ich muss mich auf die Rückbank quetschen. Opa kommt sofort ins Krankenhaus, in dem er nach einigen Monaten am 3. Dezember 1954 verstirbt. Er ist 65 Jahre alt geworden. Wenn ich diese Zeilen schreibe werde ich schon älter sein.
Nun liegt er also in Mutters Arbeitszimmer aufgebahrt, und wir nehmen von ihm Abschied. Leider darf ich nicht alleine ins Zimmer gehen; ich hätte doch so gerne mit meinen Händen eine Schwimmbewegung über seinem Fußende gemacht, in der Hoffnung, er würde wieder auferstehen, und wenn es nicht geholfen hätte, so hätte es doch auch nichts geschadet. Das kann ich nun nicht, ständig ist ein Erwachsener zugegen. Die Beerdigung war gigantisch. Ich schätze, einen so großen Trauerzug hatte Waldbröl noch nie zuvor gesehen.
Dem Tod ins Auge sehen
Mit Georg und Kurt-Walter gehe ich zur Baustelle der neuen Hollenbergschule. Kurt-Walter hat seinen Roller mit. Es ist Sonntag und die Arbeit ruht. Ein Steg führt auf eine Holzwand hin. Es ist die Schalung der Kelleraußenwand, in die demnächst Beton gegossen werden soll. Der Steg überspannt in ca. 2 Meter Höhe den Teil der Baugrube, außerhalb des Gebäudes, der später wieder verfüllt wird. Auf diesem Steg gehe ich an die Schalung heran, und schaue in einen tiefen Keller. Plötzlich sehe ich unter mir auf der Erde ein rot / weißes Vermessungsstäbchen, das ich haben möchte. Das Problem dabei ist aber, dass Kurt-Walter hinter mir steht und sofort in die Grube springen wird, wenn ich meinen Wunsch äußere. Da trifft es sich gut, dass die Schalwand durch Längs- und Querhölzer, stabilisiert wird. Es sind Kanthölzer, 10 mal 10 cm stark, die etwa zwei Meter lang sind. Diese Längshölzer sollen mir nun als Leiter dienen, auf der ich bequem nach unten klettern kann. Gesagt, getan. Unglücklicherweise ist der oberste Balken noch nicht befestigt, (verrödelt), und so stürze ich mit ihm in die Tiefe. Da liege ich nun in Todesangst, dass der Balken mir gleich meinen Schädel spalten wird. Der aber liegt einen Meter neben mir, ich habe nur eine Platzwunde an der Stirn, und die muss genäht werden. So komme ich wieder ins Krankenhaus und werde genäht und mit einigen Tagen Schulfrei belohnt.
Das goldene Bad
Das Krankenhaus in Waldbröl ist ein Relikt aus dem Dritten Reich. Die Organisation „Kraft durch Freude, KdF“, organisierte u.a. Reisen, und den KdF Wagen, den späteren VW Käfer als Leistungsmotivation für die Volksgenossen. Ihr Chef war Robert Ley, und der kam aus Waldbröl. Ebenso, wie Wolfsburg als Autostadt entstand, sollte Waldbröl Traktorenstadt werden und einen so gewaltigen Aufschwung nehmen, dass es mit dem 60 Km entfernten Köln durch eine U-Bahn verbunden werden sollte. Es ist also nicht verwunderlich, dass auch in Waldbröl ein KdF-Hotel gebaut wurde, das nun als Krankenhaus dient.
Die Ausstattung des Hauses ist edel. Im Erdgeschoss gibt es an den Wänden viel Marmor, Mosaike, und Gobelins. Jahrelang erzählte man sich in Waldbröl, dass es in diesem Hotel auch ein Bad mit goldenen Wänden (ein goldenes Bad) gegeben hätte, für den Fall, dass der "Führer" dort einmal einkehren würde.
Dieses Bad, ein fensterloser Raum, liegt neben dem Operationssaal. Nachdem meine Wunde genäht ist, schauen Mutter und ich hinein, und sind maßlos enttäuscht. Er ist weiß gefliest, mit einer drei Zentimeter breiten umlaufenden Bordüre aus goldenen Mosaiksteinen in ca. zwei Metern Höhe. Das ist alles.
Georgs Zimmer
Gisela aus Bergneustadt war die letzte Ganztagshaushilfe. Nachdem sie uns verlassen hat, ziehen wir Jungens in das „Mädchenzimmer“. Warum wir dabei nicht gleichberechtigt sind, sondern dieses Zimmer dem Georg gehört, und ich dort nur Gast bin, ich kann es nicht nachvollziehen, aber es ist halt so. Was der Georg sich wünscht, das bekommt er meist auch: Besonders Dinge aus Papas Nachlass, auch die, auf die ich zuvor ein Auge geworfen habe, und die Mutter mir hoch und heilig versprochen hat, sie mir zu schenken.
Die Schule in Ziegenhardt
Heute, an einem Samstag im Dezember 1954, fahre ich mit meiner Mutter nach Ziegenhardt. Der Ort liegt fünf Kilometer von Waldbröl entfernt. Dort angekommen, begrüßt uns ein freundlicher Herr. Es ist der Lehrer Küpper, "Leiter" der dortigen Katholischen Zwergschule, zu der er uns nun führt. Mein Gott! So schön können Klassenräume aussehen. Der Fußboden, Kiefer, farblos lackiert. Die Möbel, rot-braune Tische und Stühle. Alles macht einen hellen, freundlichen und sauberen Eindruck. Dann gehen wir weiter ins Wohnzimmer, wo die Kaffeetafel schon gedeckt ist. Während ich anschließend mit Fränzchen, dem zweitjüngsten Sohn spiele, unterhält sich meine Mutter mit dem Lehrer, ohne dass ich hören kann, was dort gesprochen wird.
Wenige Tage später fragt meine Mutter, ob ich wohl Lust hätte auf diese Schule zu gehen. Vor Freude klatsche ich in die Hände, mache einen Luftsprung und sage: „Ja sehr gerne.“
So gehe ich im Januar 1955, nach den Weihnachtsferien, fröhlich zur Bushaltestelle vor unserem Bahnhof. Und während der Bus auf der Straße rangiert, um von dort aus wieder zurück fahren zu können, steige ich ein. Gleich in der ersten Reihe sitzt unsere frühere Haushilfe, die liebevolle Angnes. „Ich steige aber gleich aus“ meint sie, und ich erwidere, dass ich ab heute in Ziegenhardt zur Schule gehe. Die kennt Angnes gut, sie hat in dieser Katholischen Zwergschule ihren Kommunionsunterricht erhalten.
Inzwischen ist Angnes Verkäuferin bei Neuhöfers, dem größten Lebensmittelladen in Waldbröl mit drei Geschäften im Ort und einer Filiale in Rossenbach. Da hat mich auch endlich der Busfahrer entdeckt, und fragt: „Wo kommst Du denn her?“ Während des Rangierens einsteigen, das dürfe ich nie wieder tun, ermahnt er mich freundlich.
Zum ersten Mal erlebe ich nun, dass Schule auch Spaß machen kann. Wir sind 25 Kinder, von der vierten bis zur achten Klasse. Der Rohrstock als pädagogisches Hilfsmittel ist längst abgeschafft. Natürlich bleiben meine Schreib- und Leseprobleme bestehen, aber der Lehrer hat genügend Zeit, sich um mich zu kümmern, kann Fehler schneller erkennen, und ich kann daraus lernen. Darüber hinaus ist er Graphologe und kann allein aus meiner Schrift heraus mein Innenleben ergründen und korrigierend eingreifen. Heute lernen wir ein sehr gemütvolles Wintergedicht, das ich zu meiner Freude über fünfzig Jahre später im Internet wiederfinden werde.
Rodelnde Kinder
Nun rodeln sie wieder den Kirchberg hinab,
die Mädchen u. johlenden Buben.
Erst geht es gemächlich in mäßigem Trab,
dann holpert's durch Mulden und Gruben.
Am Friedhofstor kommt es erst richtig in Schwung
und wird ein Rasen und Schießen.
Es setzt über Gräben und Buckeln im Sprung,
vergleitet dann sacht in den Wiesen.
Und unten endlich, am Glöcknerhaus,
da schwingt sich das wilde Getriebe aus.
Schon kommen sie wieder talnieder gefegt,
zu vieren, zu dritt und zu zweien.
Der Franz hat sich bäuchlings aufs Sitzbrett gelegt.
Die Ankettler toben und schreien.
Das wirbelt und saust und der Schneestaub blitzt,
dass sie vor Wonne erschauern.
Und dort, wo die Kufe Funken verspritzt,
steh'n schon wieder die Ersten und lauern
und werfen, mit lockeren Bällen bewehrt,
auf jeden, der eben vorüberfährt.
So geht es bergauf und bergab ohne Rast,
bis die Mütter rufen und winken.
Allmählich der Schimmer des Tages verblasst.
Im Dorfe die Hoflichter blinken.
Zur Nacht, wenn der Westwind ans Fenster weht,
dann hängen sie voller Vertrauen
als letzten Wunsch an ihr Abendgebet:
"Ach, lieber Gott, lass es nicht tauen!"
Dann schlafen sie froh u. ermüdet ein.
Und draußen fängt´s wieder an leise zu schnei'n
Die ersten drei Strophen lerne ich mit meiner Mutter zusammen, sie liest mir vor, ich spreche nach, und im Nu kann ich die Verse auswendig. Natürlich gehe ich auch mit den nächsten Strophen zu ihr, aber sie weist mich ab und meint, ich müsse auch ohne ihre Hilfe lernen können. Enttäuscht sitze ich über meinem Buch, mein Gott, wie schwer das geht.
Vier Jahre später wird sich herausstellen, dass ich doch einen Sehfehler habe, der bei jener Untersuchung in Waldbröl nicht erkannt wurde und ich deshalb mit den Ohren besser lernen konnte als mit den Augen.
Zu früh gefreut
Karneval in Waldbröl ist eine rein katholische Angelegenheit, das gilt selbst für uns Kinder, obwohl wir überhaupt nicht verstehen können, was so verwerflich daran ist, sich in dieser Zeit als Indianer oder Cowboy zu verkleiden. Ist es aber!
Jetzt rückt der Rosenmontag näher, in der Schule wird schon darüber gesprochen, wie gefeiert wird, und ich freue mich, weil ich mich nun guten Gewissens daran beteiligen darf.
Doch heute am Samstag bin ich geknickt. Gerade hat der Lehrer Küpper zu mir gesagt, ich solle am Montag zu Hause bleiben. Schade! Aber wenigstens den Karnevalsschlager der Saison, „Da lachst'e dich kapott, dat nennt mer Camping", durfte ich in Ziegenhardt fröhlich mitsingen.
Durchgefallen
Ich kann es nicht glauben, was mir Doro da gerade erzählt hat, der Onkel Johannes habe sein Examen nicht bestanden. Doch es stimmt. Das allein wäre ja noch kein Beinbruch, wenn er einen zweiten Anlauf nähme, tut er aber nicht. So wohnt er nun wieder ganz in Waldbröl, liegt seiner Mutter auf der Tasche, löst Rabattkarten ein (1,50 DM), lässt sich von seinen Freunden zum Bier einladen und lebt in den Tag hinein. In meinen Augen ist er ein Versager.
Die fünfte Klasse
Während Paul-Erhardt nun zum Gymnasium geht, werde ich in die fünfte Klasse versetzt, und zum ersten Mal in meinem Leben habe ich nichts zu befürchten.
Einmal wurden uns einige mehrstellige Zahlen diktiert, die wir untereinander schreiben müssen, um sie dann zu addieren. Mein Ergebnis weicht von den anderen ab. Zunächst vergleicht der Lehrer die Zahlen, die stimmen, dann aber bemerkt er, dass ich meine Zahlen linksbündig geschrieben habe (Linkshänder). Ich lerne etwas dazu, anschließend stimmt mein Ergebnis mit den anderen überein. So werde ich nun fit fürs Gymnasium gemacht.
Meine Schulkameraden sind ausgesprochen nett zu mir, obwohl ich doch „protestantisch“ bin und zwischen den beiden Konfessionen noch „kalter Krieg“ herrscht (Katholische / Evangelische Böcke scheißen in die Röcke). Das Einzige, worüber sie sich wundern ist, dass ich mich nach dem Morgengebet nicht bekreuzige. Wobei ich mich wiederum darüber wundere, dass sie sich auch beim Vorübergehen an dem großen Kruzifix auf dem Schulweg bekreuzigen.
„Morgen fährt der Uwe Claussen mit Dir nach Ziegenhardt“, sagt mir meine Mutter. Uwe kenne ich schon, mit dem war ich schon in der ersten Klasse in Waldbröl zusammen. Dann verließ er unsere Schule und besuchte des Lehrers wegen eine andere Schule in einem anderen Ort.
Nun sind wir schon zwei Protestanten in der Katholischen Zwergschule. Während ich mich in der Klasse auf meinen Platz setze, bleibt Uwe noch vorne stehen, und der Lehrer fragt, ob man nämlich mit oder ohne „H“ schreibt. Auch ich melde mich, aber Uwe wird gefragt. Gott sei Dank! Prompt sagt er: „Wer nämlich mit H schreibt ist dämlich.“ Da habe ich doch wieder Glück gehabt.
Mein Schulwechsel ist in Waldbröl nicht unbemerkt geblieben. Wie kann es sein, dass der Sohn einer evangelischen Pastorin auf eine katholische Schule geht? So regt sich das ganze Dorf auf. Wildfremde Menschen klingeln deshalb an unserer Haustüre. Und auch ich werde wiederholt auf der Straße darauf angesprochen. Der Sturm der Entrüstung legt sich auch nicht, weil nun auch der Uwe mit nach Ziegenhardt zur Schule kommt.
Seit dieser Zeit bin ich allerdings gefeit vor der Frage: "Was sollen denn die Leute sagen?" Hätte ich mich nach ihnen gerichtet, ich hätte eine wunderbare Zeit und einen enorm großen Entwicklungssprung verpasst, und keiner hätte es mir gedankt.
Als Hausaufgabe sollen wir einen Aufsatz über den Sonntag-morgen in der Familie schreiben. Uwe beschreibt das Frühstück mit Toastbrot und Marmelade, und dass er später mit seinen Geschwistern und seinem Vater, „Kirschkern-Weitspucken“ macht.
Fast fünfzig Jahre später, 2003, finde ich Herrn Küpper wieder. „Mensch Günter“ sagt er, „was habe ich oft mit meiner Frau über Dich gesprochen, Du warst doch ein sehr eigenwilliger Junge.“ Auch erinnert er sich noch genau, wie der Herr Professor Claussen mit seinen Kindern „Kirschkern-Weitspucken“ gemacht hat. Da ist Herr Küpper 94 Jahre alt.
Kurz vor meinem Besuch hatte er mit dem Bundespräsidenten über Schulpolitik korrespondieren wollen und war sehr enttäuscht darüber, dass sein Schreiben von einem Referenten höflich abgewimmelt wurde. Für Herrn Küpper war es „Eine Beerdigung erster Klasse.“ Jetzt kann ich auch mal etwas für meinen alten Lehrer tun und reiche eine Kopie des Briefes an Johannes Rau mit der Bitte weiter, ihn selbst zu beantwortet. Was der dann auch gerne tut.
Zum 95. konnte ich Herrn Küpper noch gratulieren, 96 ist er nicht mehr geworden.
In Ziegenhardt ist der Unterricht viel allgemeinbildender gehalten. Zum einen werden wir mit der Literatur vertraut gemacht. Theodor Storm´s "Pole Poppenspeeler" steht ebenso auf dem Lehrplan, wie "Die Glocke" von Schiller. Auch wenn wir sie nicht auswendig lernen müssen, so haben wir sie doch intensiv besprochen. Zum anderen gibt es das, was man als Technisch-Naturwissenschaftlichen Unterricht bezeichnet, und da habe ich durchaus die Chance, etwas beizutragen und zu lernen. Zum Beispiel, warum man keine Sicherungen „flicken“ darf. Genau das aber tut Alfons, Angestellter beim Elektrizitätswerk, als er uns eines Abends besucht und prompt bei uns eine Sicherung durchbrennt. Meine Oma ermahnt mich, gut aufzupassen, damit ich das später auch könne. Ich aber erwidere, dass man so etwas nicht machen darf. Worauf mich meine Oma, wie so oft, einen "dummen Bengel" nennt, schließlich sei Alfons doch beim RWE beschäftigt, da könne ich doch nicht sagen, er tue etwas Verbotenes. Der aber meint, ich hätte Recht.
Gesungen wird viel (Wir sind jung, die Welt ist offen...), und Lehrer Küpper dirigiert sehr exakt mit seinem grünen Druckbleistift. Zu meinem Leidwesen darf ich aber nicht mitsingen. Meine, später als schöner Bass gelobte, Stimme wird als Brummen verunglimpft, und ich lerne schon in jungen Jahren, dass ich nicht singen kann. Diesen Glauben werde ich bis 1991 behalten.
Heute ist der 5.5.55, und heute hat unser Lehrer Geburtstag. Da gibt es keinen Unterricht, sondern Herr Küpper liest uns eine schöne Geschichte vor, über einen der auszog das Reiten zu lernen.
Dass am heutigen Tage die Bundesrepublik ihre Souveränität wieder erlangt, und die Hohen Kommissare den Petersberg räumen, erfahre ich erst viel später.
In der Klasse gibt es ausgesprochene Talente, und es ist schade, dass sie nicht gefördert werden. Als Hausaufgabe sollten wir eine Bildbeschreibung anfertigen, und Bruno soll die seine nun vorlesen. Flüssig beschreibt er ein Bild, das eine Alpenlandschaft darstellt. Sein Aufsatz endet mit dem Satz: „Das Bild ist in Öl gemalt, und Ölgemälde gefallen mir immer gut.“ Klasse! Und dann fragt der Lehrer: „Und was steht davon in Deinem Heft?“ Darauf erwidert Bruno: „Die Überschrift.“
Auf der Tafel sind sechs Bilder gemalt, die sollen wir abzeichnen und sie als Hausaufgabe sortieren und daraus eine Geschichte machen. So sitze ich nun daheim und frage mich, warum ich etwas verbal formulieren und mühsam aufschreiben soll, was man ohnehin sieht. Also fertige ich einfach einen Comic an mit Denkblasen und Sprachpfeilen. Für diese pfiffige Idee werde ich am nächsten Morgen auch noch gelobt. Seither kultiviere ich die Vereinfachung meines Lebens. Als ich Herrn Küpper knapp fünfzig Jahre später wieder begegne, erzählt er mir, das sei damals ein Intelligenztest gewesen.
Wieder droht mir Unbehagen: Zwei angehende Lehrer wollen ihr Praktikum in Ziegenhardt machen. Gerade jetzt, wo ich mich wohl fühle, weil niemand wegen meiner Unzulänglichkeit auf mir rumhackt, kommen Fremde, und ich fürchte neue Demütigungen. Eine Hoffnung bleibt: In den großen Ferien fahre ich diesmal mit meiner Tante Ruth nach Hamburg, und wir fahren schon vor Ferienbeginn. Vielleicht, so hoffe ich, sind die Praktikanten ja schon wieder fort, wenn ich zurückkomme.
Hamburg
Auch an dieser Schule sind die Ferien das Schönste, und diesmal fahre ich mit der Tante Ruth nach Hamburg, genauer gesagt, nach Wentorf. Dort arbeitet sie jetzt als Seelsorgerin in einem riesigen Flüchtlingslager, das in zwei Kasernen untergebracht ist. Die Kasernen wurden vor dem Krieg für 3000 Soldaten gebaut, jetzt leben 10.000 Menschen hier.
Um neun Uhr geht der Zug, vor lauter Aufregung kann ich nicht frühstücken. Der Hunger kommt erst, als wir im Zug sitzen, und Tante Ruth meint, die Brote seien für die lange Reise gedacht. Unterwegs müssen wir x-mal umsteigen, essen zu Mittag im Speisewagen und erreichen am Abend Hamburg. Dort essen wir im Bahnhof erst einmal Kartoffelpuffer, bevor die Fahrt mit einem uralten Vorortszug, in dem die Abteile nur von außen betreten werden können, weitergeht. Zuletzt steigen wir in einen Bus, denn wir wollen ja nach Wentorf.
Der Bus hält im Ort, links der Dorfteich, rechts Geschäfte, u.a. ein Milchladen. Nach eines Tages langer Reise kommen wir endlich an, und Tante Ruth wird von der Lagerwache freundlich begrüßt. Später werde ich dort auf einer Tramptour stranden, und der Hinweis auf Frau Mehrhoff bewegt die Lagerwache, mich für eine Nacht in der Notunterkunft übernachten zu lassen.
Nun betreten wir ihre "Wohnung". Es ist ein großes Zimmer mit Waschbecken. Eingerichtet ist es mit zwei Betten, einem Schrank, einer Anrichte und einer kleinen Sitzgruppe.
Ihre "Küche", in der eine einflammige Gaskochstelle steht, wird auch von der Bibliothek auf der gleichen Etage zum Leimkochen benutzt. Das Badezimmer befindet sich bei Frau Genschow in der Nachbarwohnung.
Gleich am nächsten Morgen vermittelt mir Tante Ruth Nachhilfeunterricht bei Frau Tolle, einer Lehrerin, die ich nun täglich für eine Stunde zum Üben aufsuche. Neben der Pflicht gibt es die Kür, und die besteht in gemeinsamen Ausflügen mit Vater, Mutter und Sohn Tolle zum Baden in der Elbe bei Geesthacht. Das Wasser ist klar und sauber, so klar, dass ich die bleichen Beine der toten Flusskrebse sehen kann. Das finde ich unappetitlich und als es etwas später zu Hause in Waldbröl Krabbensalat gibt, der genauso aussieht, verweigere ich die Nahrungsaufnahme.
Aber auch sonst lerne ich in diesem Urlaub viel Neues, z.B., dass die Zeitangabe „vierteldrei“ viertel nach zwei bedeutet. Ich lerne den Umgang mit der Laubsäge, und bastele für Tante Ruth ein Schlüsselbord.
Als ich heute Morgen aus der Haustür gehe, schneidet mir ein älterer Junge den Weg ab. Zwei kleinere Jungen stehen neben ihm. Erst unterhält er sich freundlich mit mir, merkt, dass ich rheinisch und nicht berlinerisch spreche, murmelt etwas von polnisch rückwärts, und fordert mich auf, ihm "mein Ding" zu zeigen. Das geht mir aber zu weit, da bedroht er mich ernsthaft, und bietet mir Prügel an. Ich schätze den Weg bis zur Haustür ab, und weiß, dass ich, das Überraschungsmoment nutzend, bis dorthin flitzen kann, ohne dass er mich einholen wird. Schwupp bin ich weg. Später wird sich die Tante Ruth diesen Lümmel zur Brust nehmen, danach ist Ruhe.
Jetzt liegen wir auf unseren Betten und halten Mittagsruhe. Da weckt mich meine Tante, weil sie in der Küche ein Rascheln hört. Ich schaue nach, die Küche ist leer. Kurze Zeit später höre auch ich ein Rascheln, wieder schaue ich nach, und sehe zwei kleine Mädchen. "Was macht ihr hier“, frage ich streng. Antwort: "Nüscht!!“ "Und was hast Du da in Deinem Taschentuch?" "Nüscht!!" "Dann lass mal sehen." Da dreht sich das Mädchen blitzschnell um, läuft zu der Schale mit Stachelbeeren zurück, und entleert dort sein kleines Taschentuch. Schnell verschwinden die beiden. Als ich den Vorfall meiner Tante erzähle, sagt diese: „Iiih, hättest Du ihnen doch die paar Stachelbeeren in ihrem verrotzten Taschentuch gelassen."
Gerne trinkt Tante Ruth Apfelsaft und isst dazu Holländische Sandkekse. Ich auch! Beides gibt es in der Kantine. Dort gibt es auch eine Musikbox, so etwas habe ich ja noch nie gehört und gesehen. Die aktuellen Schlager sind: „Das alte Försterhaus“ und „Am weißen Strand von Surabaja“. Stundenlang könnte ich zuhören, aber Tante Ruth wartet auf ihren Apfelsaft.
Einmal in der Woche ist Tante Ruth zum Mittagessen bei einer Familie eingeladen. Es gibt Reibekuchen, oder wie der Berliner zu sagen pflegt, Kartoffelpuffer, und ich bin auch eingeladen. Mein Gott, wie leben die Menschen hier! Drei Familien teilen sich einen Raum, und der ist nur durch Wolldecken und Schränke abgeteilt, und das oft über Jahre hinweg! Wie soll da Intimität aufkommen?
Heute Abend begleite ich Tante Ruth zunächst zu ihren Kurz-andachten, die sie jeden Abend auf anderen Fluren der Kasernenblöcke hält. Anschließend geht es zur "Jungen Gemeinde", dort liest und erzählt sie aus der "Feuerzangenbowle" von Heinrich Spörl. Noch kann ich nicht ahnen, dass diese Feuerzangenbowle ein bedeutender Teil meines Lebens sein wird.
Mit der jungen Gemeinde fahre ich auch ins Umland nach Ratzeburg und Mölln. Erstaunt bin ich darüber, dass es den Till Eulenspiegel, der in Mölln begraben liegt, wirklich gegeben hat.
Natürlich sorgt die liebe Tante Ruth auch dafür, dass ich etwas von Hamburg sehe. Sie organisiert mir Begleiter, die mit mir in den Tierpark Hagenbeck gehen, eine Hafenrundfahrt machen, und anschließend den Elbtunnel besuchen. Die Vorstellung allerdings, die Tunneldecke könnte brechen und die Wassermassen würden herab stürzen, beunruhigt mich doch ein wenig.
Auch die schönsten Ferien gehen einmal zu Ende. Inzwischen ist der Busverkehr nach Ziegenhardt unterbrochen, weil die Straße erneuert wird. So muss ich die fünf Kilometer täglich mit dem Fahrrad fahren. Eigentlich ist nun der Zeitpunkt gekommen, ein eigenes Rad zu bekommen. Ich brauche es ja täglich. Bisher hörte ich immer, solange Du so schlecht in der Schule bist, brauchen wir gar nicht darüber zu reden. Nun bin ich in der Schule gut, aber ich bekomme es dennoch nicht. Die Tante Ruth, wie könnte es auch anders sein, würde mir ja eins kaufen, aber die Oma ist dagegen. So
benutze ich die Räder meiner Geschwister. Erst vier Jahre später werde ich von meiner Patentante Ilse ein altes Fahrrad bekommen, das vor ihrem Laden stehen geblieben ist.
Wenn ich morgens durch Rossenbach fahre, steht Angnes hinterm Fenster von Neuhöfers Filiale und winkt mir freundlich zu, das tut gut. In fünfzig Jahren werde ich ihr dafür noch danken.
Erst jetzt kommen die von mir so gefürchteten Praktikanten. Und weil es Herbst ist, die Zeit der Weinlese, lernen wir sehr viel über den Rhein, den Wein und die Lieder, die sich um beide ranken. Ich werde keineswegs gedemütigt und erlebe eine so wundervolle Zeit, dass ich eines Abends im Bett weine, weil die beiden Herren nun ihr Praktikum abgeschlossen haben und uns bald wieder verlassen werden.
Spätheimkehrer
Im Herbst 1955 wird Konrad Adenauer nach Moskau eingeladen. Bisher hatte die Siegermacht Sowjetunion nur zur DDR diplomatische Beziehungen. Die Einladung erfolgt deshalb über die Botschaften in Paris. Adenauer nimmt die Einladung an, denn in Russland sind, zehn Jahre nach Kriegsende, immer noch zehntausend Soldaten in Gefangenschaft und Adenauer möchte, dass sie heim kommen.
Das Ergebnis der Reise: Die beiden Staaten nehmen diplomatische Beziehungen zueinander auf, und die Gefangenen kommen frei.
Einer dieser Spätheimkehrer ist Herr Dr. Poschmann, der Ehemann unserer Hausärztin. Mit vielen Waldbrölern stehe ich vor seinem Haus, um ihn zu empfangen.
Später erzählt mir meine Oma, meine Mutter sei zur ihr ins Wohnzimmer gekommen und hätte geklagt: „Stell Dir vor, der Poschmann kommt heim, und mein Mann kommt nie wieder.“ Darüber bin ich doch sehr verwundert, denn mir gegenüber handelt meine Mutter den Tod meines Vaters so emotionslos cool ab, dass ich fest davon überzeugt bin, er mache ihr nichts aus.
Jungschar
Ich wäre gerne zu den Pfadfindern gegangen, aber in Waldbröl gibt es nur die Katholische Pfadfinderschaft St. Georg. Ich gehe in die Jungschar, da gibt es zwar Parallelen, aber es ist doch etwas ganz anderes.
Wir tagen im Gemeindesaal, da, wo in meinen Kindergartentagen die Rutsche aufgebaut war, und heute lernen wir das Fahrtenlied: Wir lieben die Stürme.
Ab 2011, inzwischen 66 Jahre alt, werde ich es im Shanty-Chor in Kellenhusen wieder singen, und in Gedanken bin ich dann wieder 10 Jahre alt, und sitze im Gemeindesaal.
Die Aufnahmeprüfung
“Morgen kommst Du zur Schule, damit wir für die Aufnahmeprüfung üben können”, fordert Herr Küpper den Uwe auf. Ha! denke ich, der muss noch für die Prüfung üben, und du bist so gut, dass du dies gar nicht brauchst. Stolz erzähle ich der Tante Ruth davon, wie gut ich doch bin. Sie sagt aber eher skeptisch nur “So, so." Da kommt meine Mutter vom Einkauf aus dem Dorf zurück und sagt: „Ich habe den Lehrer Küpper getroffen, du fährst morgen auch nach Ziegenhardt." Jetzt verstehe ich die Welt nicht mehr. Was war geschehen? Eigentlich wollte mir meine Mutter die Niederlage der nicht bestandenen Aufnahmeprüfung ersparen und hat mich gar nicht erst zur Prüfung angemeldet. Fräulein Mockert aber, Lehrerin am Gymnasium und Freundin meiner Mutter, gab ihr den Rat, mich doch zur Prüfung anzumelden, sie wolle dafür sorgen, dass ich in ihre Gruppe käme, und dann würde das schon klappen. Davon jedoch weiß ich nichts.
Dieser Winter ist besonders kalt! Minus 36 Grad zeigt das Thermometer an der Flora Apotheke, als ich abends daran vorbei gehe. In dieser kalten Jahreszeit mache ich nun, ein Jahr später als Paul-Erhardt, die Aufnahmeprüfung für unser heimisches Gymnasium. Ich mache sie mit einer Mischung aus Hoffen und Bangen und bin eher auf Moll gestimmt. Aber eigentlich läuft alles glatt. Es gibt keinerlei besondere Vorkommnisse. Natürlich habe ich im Diktat viel zu viele Fehler, aber das ist ja nichts Besonderes. Anders ist da schon die Sache mit dem Bild, das wir malen sollen. Das Thema heißt Wintersport. Freudig male ich eine belebte Wintersportarena und in den leeren, stahlblauen Himmel einen grünen Hubschrauber. Der gefällt der Prüferin, Fräulein Mockert, überhaupt nicht und gibt ihr Anlass zu herber Kritik und beißendem Spott. „Cortina mit Hubschrauber, ha, ha." Tatsächlich demonstriere ich damit aber, wie weit ich meiner Zeit schon wieder voraus bin. Später wird es kaum ein sportliches Ereignis geben, das nicht auch vom Hubschrauber aus gefilmt wird.
Eigentlich habe ich diese wichtige Prüfung ja bestanden, ich habe nämlich einen Punkt mehr erlangt als Ilse Thiele, die aufgenommen wurde. Aber der Direktor will mich wegen der mangelnden Rechtschreibung nicht auf seiner Schule haben.
Tausend Tode
„Geh´mal in den Keller und mach die Waschküchentür zu!" „Nein Mutti, ich hab Angst." „Sei nicht albern." So gehe ich heute wie fast jeden Abend in den Keller. Das Licht der Waschküche wird vom Flur aus eingeschaltet. Ich schaue in den Raum, ob ein Einbrecher darin ist. Nein, gut so! Jetzt ist Eile geboten, er könnte ja vor der Tür stehen. Also flitze ich zur Tür und knalle sie mit Schwung zu, und zack - den Riegel vorgeschoben. Aber die Gefahr ist noch nicht vorbei. Aus Wut darüber, dass ich ihn ausgesperrt habe, könnte er jetzt durch die Tür schießen. Also drücke ich mich in die Ecke neben der Tür. Hier im toten Winkel bin ich sicher, aber mein Herz rast noch bis zum Hals, ich sterbe tausend Tode. Allmählich beruhige ich mich und gehe hoch.
Kopfschmerzen
Ach, wenn die Mutti doch nicht so oft Kopfschmerzen hätte. Diese plagen sie schon seit Jahren fast täglich. Ich kenne inzwischen alle Schmerzmittel (Thomapyrin, Gelonida, Spalttabletten, Aspirin) und ihre Werbesprüche (Schnell verklinget wie ein Ton, jeder Schmerz durch Melabon).
Es kann durchaus geschehen, dass meine Mutter mir vorwirft, sie habe, weil ich unartig war, nun Kopfschmerzen bekommen. Das ist schlimmer als eine Ohrfeige, die es nur äußerst selten bei uns gibt, denn gehauen wird bei uns eigentlich gar nicht.
Viel später wird ein Arzt seine Schweigepflicht verletzen, und der Doro und mir sagen, dass unsere Mutter tablettensüchtig ist. Drei Tage ohne Tabletten, und sie hätte keine Kopfschmerzen mehr.
Nach meinem Studium werden auch mich Kopfschmerzen plagen, aber ich sage mir ganz klar NEIN, DAS WILL ICH NICHT!!! So bleibe ich mein Leben lang davon verschont.
Luftschutzbunker
In Venns Busch unterhalb unseres Gartens ist in den Fels ein Stollen gehauen worden als Luftschutzbunker für den Krieg. Uns Kindern ist es streng verboten, in den Bunker zu gehen, weil er einstürzen könnte, was natürlich Unsinn ist. Dieses Verbot ist zudem überflüssig, da das Wasser im Bunker so hoch steht, dass es uns von oben in unsere Gummistiefelchen laufen würde.
Jetzt aber in diesem bitter kalten Jahr 1955/56 ist das Wasser gefroren, und nicht nur das, unser Bunker gleicht einer Tropfsteinhöhle. Die Eiszapfen hängen wie Stalaktiten von der Decke, und auch auf dem gefrorenen Wasser haben sich Stalagmiten aus Eis gebildet. Jetzt hält uns nichts mehr.
Ute
Kurz vor Ende des Schuljahres kommt auch Uwes Schwester Ute mit nach Ziegenhardt. So fahren wir nun zu dritt. Ich finde Ute, die etwas älter ist als ich, sehr sympathisch. Dass wir beide das nächste Jahr in Königsfeld verbringen werden, ahne ich noch nicht. Wie denn auch? Ich weiß ja selber nicht einmal, dass ich dort sein werde.
Jetzt kommt die Zeit des Abschieds von Ziegenhardt, das Schuljahr ist bald vorbei. Wie alle anderen Schüler auch, die die Schule verlassen, porträtiert mich mein Lehrer. Dieses schöne Bild schenke ich meiner lieben Tante Ruth.