Читать книгу Die verstörende Lebensgeschichte des Julian M - Günter Scholtes - Страница 7

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Wie es zu diesem Buch kam.

Der Weg zu dieser Geschichte ist wahrlich merkwürdig, aber alles der Reihe nach.

Aus gesundheitlichen Gründen musste ich meinen erlernten Beruf aufgeben, weil sich eine Allergie auf bestimmte Stoffe bei mir entwickelt hatte. Eine Allergie ist nicht nur höchst unangenehm, sie kann auch lebensbedrohliche Formen annehmen. Ein anaphylaktischer Schock ist die höchste und gefährlichste Form einer Allergie und endet nicht selten tödlich. Aus diesem genannten Grunde war dieser Beruf, sehr zu meinem Leidwesen, nicht mehr für mich zum Broterwerb geeignet. So führte mich der Weg im Jahre 1973 zu einem Berufsberater. Ein Herr vom Arbeitsamt, der für meinen Buchstaben zuständig war, erklomm mit einer langen Leiter eine Regalwand und sagte von oben herunter, nachdem er mehrere Register gezogen hatte: „Krankenpfleger ist zunächst, nach ihrer bisherigen Qualifikation und nach ihrer Punktezahl, der vernünftigste Weg in eine andere Arbeitswelt. Widerspruch ist nicht zulässig und auch nicht vorgesehen." Ergänzend meinte der Herr auf der Leiter in 2,5 m Höhe noch: „Mit ihrer jetzigen Qualifikation machen Sie nach fünf Jahren an einer Universität die Ausbildung zum Fachpfleger für Anästhesie und Intensivmedizin.“ Und so ist es auch dann gekommen, aber nicht nur …

Ausbildung kann man überall absolvieren, wenn der Kostenträger ein anderer ist als die Ausbildungsstelle. Das heißt im Klartext, die Berufsgenossenschaft hat meine Ausbildung komplett bezahlt, auch die Fahrtkosten und die nötigen Utensilien wurden von ihr übernommen. Das Ausbildungskrankenhaus hat davon profitiert. Eine billige Arbeitskraft, mit der man fast keine Arbeit hat, an ihr jedoch gut verdient. Wie schön für den Personalchef eines Krankenhauses! An einem einzigen Tag hatte ich drei Ausbildungsstätten ausfindig gemacht und jeweils eine mündliche Zusage bekommen, dass ich dort mit meiner Ausbildung „sofort“ beginnen könne.

Ich nahm die zweite Stelle an und war sehr schnell in der allgemeinen Tretmühle und Hierarchie integriert, die da heißt: „Ich Chef, du nix!“ Nur das, was sich der Normalbürger unter einer Ausbildung vorstellt, findet in einem Krankenhaus nicht statt. Vergessen Sie es, wenn Sie den Beruf ins Auge gefasst haben. Nicht unerwähnt soll hier bleibe: Wollte man sich theoretisches und praktisches Wissen aneignen, so musste man sich alles selbst erarbeiten, Hilfestellung in irgendeiner Art und Weise gab es nicht. Nun kann man sich trösten, auch die jungen Ärzte, also die Ausbildungsassistenten, waren genauso beschissen dran wie die auszubildenden Krankenpfleger.

Eine nette Ärztin erzählt mir kürzlich, selbst in den so genannten akademischen Ausbildungskrankenhäusern hat sich in dieser Richtung bis heute nichts geändert. Alles beim Alten wie vor hundert Jahren, aber das ist nicht das eigentliche Thema dieses Buches. Es ist die traurige Geschichte eines psychiatrischen Patienten. Diese Geschichte ist keine Fiktion, sie hat leider ihren realen Hintergrund.

Nachdem ich in diesem Krankenhaus ein Jahr gearbeitet hatte, erfolgte die obligatorische Zwischenprüfung. Nach dieser Prüfung hatten sich die Reihen meiner Mitstreiter stark gelichtet, aber es waren immer noch etliche übrig geblieben. Und ein besonders merkwürdiges Phänomen zeigte sich hier – Säufer, Drogenabhängige und solche, die zwei linke Hände hatten und an diesen Händen auch nur Daumen, diese Leute sind überall elegant durchgeschlüpft. Ihr Intelligenzkoeffizient stand in keinem Verhältnis zu ihren schauspielerischen Leistungen; darin waren sie Spitze, doch mit Arbeit war da nix.

Die Ausbildungsordnung für Krankenschwestern und Krankenpfleger sah verbindlich vor, dass man bestimmte Fächer und Abteilungen eines Krankenhauses zu Ausbildungszwecken durchlaufen musste. Wie bereits am Anfang erwähnt, wurden männliche Pflegekräfte grundsätzlich nicht in der Gynäkologie oder auf einer Frauenstation eingesetzt. Das hatte wiederum zur Folge, dass die durchlaufenen Fächer in einem Krankenhaus nicht ganz der Ausbildungsverordnung entsprachen. Eigentlich eine glückliche Fügung, denn man wurde für einige Wochen oder Monate in ein anderes Krankenhaus versetzt. Da aber die Auswahl der Fächer in Krankenhäusern nicht so groß ist, wurden die Männer zur Fortbildung in psychiatrischen Einrichtungen untergebracht. Manch einer meiner Kolleginnen und Kollegen hätte aber auch problemlos als Patient dort einziehen können, es hätte kaum einen Unterschied gemacht. Auch ich hatte dieses Los gezogen und durfte in die Psychiatrie eines Landeskrankenhauses Unterschlupf finden. Psychiatrie heißt aber auch immer einen ruhigen Job schieben und, vor allen Dingen, fast keine Arbeit. Sicherlich, in Abteilung mit schweren und schwersten Fällen ist die Arbeit auch kein Honiglecken, aber in der Abteilung, in der ich mich wiederfand, waren nur leichte Fälle oder solche, die wenig Arbeit machten.

Nun sollte man nicht dem Irrtum erliegen und glauben, psychisch kranke Menschen seien auch geistig retardiert, mitnichten. Hoch intelligente Menschen habe ich dort angetroffen. Nach meiner festen Überzeugung hat ein gewisser Anteil (oder gar die meisten) dieser Patienten in solchen Einrichtungen nichts zu suchen. Etliche waren hoch intelligent und haben ihrem behandelnden Arzt oft ein eigenes, derart fundamentiertes Fachwissen präsentiert, dass dieser dem Wissensstand des Patienten nichts entgegenzusetzen hatte. Über ihre Therapie und Krankheitsprognose waren sie bestens informiert, diese angeblichen doch so bekloppten Patienten. Sicherlich, etliche hatten wirklich etwas an der Glocke und nicht nur dort. Es dämmerte mir sehr schnell, oft bestand der Unterschied zwischen Patienten und Arzt nur darin, dass der Arzt einen weißen Kittel anhatte und das Pflegepersonal sich nur durch den Besitz des Schlüssels vom Rest der Insassen unterschied.

Sehr bald gehörte auch zu meiner Lebenserfahrung, dass in solchen psychiatrischen Einrichtungen Patienten verprügelt werden. Gut, das habe ich auch in dem einem oder anderen – normalen – Krankenhaus erlebt, dass im Besonderen Ordensfrauen Patientinnen und Kinder des Öfteren verprügelt haben. Jeder wusste es, den Ordensfrauen ist jedoch nie etwas geschehen, sie waren alle hoch angesehen.

Eine sehr unangenehme Sitte war es in dieser psychiatrischen Anstalt, dass geistig behinderte Frauen vergewaltigt wurden. Anfangs hatte ich den Ärzten und dem Pflegepersonal volles Vertrauen und Respekt entgegengebracht. Dass dies völlig unangebracht war, musste ich sehr schnell unter der Rubrik Lebenserfahrung verbuchen. Besonders das Pflegepersonal vergewaltigte Frauen, die hier zur Behandlung waren, und dass bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Für einen Außenstehenden nicht vorstellbar, aber dennoch Realität. Die geistig behinderten Frauen und Mädchen konnten sich nicht artikulieren und somit nicht mitteilen, was mit ihnen geschehen war. Insider behaupten, auch im 21. Jahrhundert hätte sich daran nichts Wesentliches geändert, aber hier scheint sich im Augenblick doch etwas zu bewegen. Hoffentlich!

Am Rande sei noch bemerkt: Eine weibliche Pflegekraft wurde grundsätzlich nur mit „Schwester“ angesprochen und ein Pfleger nur mit „Wärter.“ Von bestimmten Patienten wurde man auch als Urinkellner oder Scheißespediteur betitelt, besonders alkoholisierte Patienten neigten damals und auch heute noch zu solchen außergewöhnlichen Ehrenbezeugungen, eine Rarität ist das nicht.

Schon nach einigen Tagen wurde ich darauf aufmerksam, dass die Krankenakte eines bestimmten Patienten so etwas wie Kultstatus genoss. Selbstverständlich war ich neugierig, warum diese Akte mehr oder weniger heimlich unter dem Tisch herumgereicht wurde und nur ganz bestimmte und ausgesuchte Personen diese zu lesen bekamen. Auf gezielte Frage hin wurde man genauso gezielt abgewimmelt und mit später, ja später vertröstet oder gleich mit Nein.

Nach nur wenigen Tagen, ich glaube es waren zwei Wochen, wurde ich überraschend zur Stationsleitung zum Gespräch gerufen. Als so genannter Schüler oder Auszubildender hat man fast immer ein schlechtes Gewissen, denn man konnte ja etwas verkehrt gemacht haben oder dem einen oder anderen auf die Füße getreten sein. In dieser Sache war man sich nie sicher, etwas fanden die Vorgesetzten immer, wenn sie es denn wollten. Jedoch von alledem erwartete mich nichts. Im Gegenteil – der Stationsleiter eröffnete mir, dass er mit mir zufrieden sei und ich sein besonderes Vertrauen genießen würde. Erstaunlich, ich hatte eigentlich gar nichts gemacht, um sein Vertrauen zu gewinnen, und besonders fleißig war ich auch nicht. Lag vielleicht genau darin meine besondere Vertrauenswürdigkeit?

Der „Stationswärter“, wie er auch genannt wurde, saß hinter einem alten Schreibtisch. Dieser war aus massivem Eichenholz und reichlich mit Schnitzereien verziert. Antiquitäten jeglicher Art erregten immer meine Aufmerksamkeit, aber in diesem speziellen Fall nicht nur diese. So richtig traute ich meinen Augen nicht. Lag da etwa auf dem Bürotisch diese berühmte, berüchtigte Akte? Freundlich bat mich der „Oberwärter“, auf einem genauso alten Stuhl Platz zu nehmen. Voller Ehrfurcht setzte ich mich auf dieses wuchtige Möbel. Ohne Umschweife sagte der Stationsleiter: „Hier Alter, du hast schon das 30. Lebensjahr überschritten, bist überall in der Welt herumgeflogen und hast vermutlich schon viel gesehen. Hier sind die Krankenakten von M., dem Leichenficker. Du hast nun ein paar Tage Zeit, diese Akten eingehend zu studieren, aber ich verpflichte dich hiermit zum absoluten Stillschweigen. Zu niemandem ein Wort, keine weiteren Fragen, keine Erklärungen. Die Akten hast du dir selbst aus dem Archiv geholt, ich weiß von nichts, nur falls was schiefläuft!“ Überschwänglich wollte ich mich noch bedanken, aber er schob mich wortlos zu Tür und schloss sie geräuschvoll hinter mir. Nun stand ich da – in den Händen diese geheimnisvollen, dicken Krankenakten, die doch so begehrt waren.

Tatsächlich hatte der Patient mit der geheimnisvollen Akte einen Nachnamen, der mit M. begann. An diesen erinnere ich mich auch heute noch sehr genau. Eigenartigerweise aber nicht mehr an seinem Vornamen, und das ist vielleicht auch gut so. Aus einleuchtenden Gründen würde ich den Namen nie und unter keinen Umständen preisgeben. Tatsächlich spielt der Name auch nur eine sekundäre Rolle, oder, um genauer zu sein, eigentlich gar keine. Namen sind beliebig und austauschbar. So habe ich diesen Patienten einfach Julian genannt, und die Geschichte und das Leben von Julian haben sich unauslöschlich in mein Gedächtnis eingebrannt.

Neugierig blätterte ich noch an Ort und Stelle die Akten durch. Es fiel mir sehr schnell auf, dass ein Wort gehäuft und bereits auf der ersten Seite vorkam. „Nekrophilie“ hieß dieses Wort, das so oft vorkam und mir somit auch immer wieder ins Auge sprang. Nur, was ist Nekrophilie? Vielleicht etwas zum Essen? Ich wusste es nicht.

Also musste der Pschyrembel, das klinische Wörterbuch, das in jeder medizinischen Einrichtung zur Standardausrüstung gehört, meine Wissenslücke auffüllen. Im Pschyrembel auf Seite 1045 steht – Nekrophilie in Klammern (Englisch) necrophilia; sexuelle Leichenschändung – mehr nicht. Kein erschöpfender Hinweis, aber die Richtung war eindeutig. Mir dämmerte nun, warum diese Akte so interessant und begehrenswert war, enthielt sie doch etwas Versautes.

M. war tatsächlich ein Leichenficker. Die Akten gaben zwar Auskunft darüber, aber sehr verschwommen, sehr nebulös, eher umständlich verbrämt, verschämt umschrieben. Julian wurde bei seiner letzten nekrophilen Tat erwischt und an Ort und Stelle festgenommen. Ohne große Umstände hatte man ihn in die Psychiatrie eingesperrt, und dort war er immer noch. Die Akten waren irreführend ge – und beschrieben, nicht die Akten, aber der Inhalt … irgendwie fast dümmlich. Sie waren nicht geeignet, sich ein wirkliches Bild machen zu können von diesem merkwürdigen Menschen, der die Leichen von Frauen gefickt haben sollte. Dieser Ausdruck – Ficken – gehört hier in den heiligen Hallen zum Standard, bedeutet aber nichts Diskriminierendes, sondern dient hier nur als Hinweis.

Auch wenn man Julian nur eine einzige Tat nachweisen konnte, sollte er den Rest seines Lebens in der Psychiatrie verbringen. Heute würde Julian vermutlich therapiert werden und wäre in wenigen Monaten wieder ein freier Mann. Nein, nicht so in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Selbst die Homosexualität wurde in diesen Jahren nach § 175 StGB noch mit Zuchthaus bestraft. Warum auch immer, Frauen waren von diesem Paragraphen ausgenommen. Damals wie heute blieben gleichgeschlechtliche Beziehungen unter Frauen straffrei. Das weibliche Geschlecht war von je her im Bezug auf homoerotische Praktiken von einer Strafverfolgung ausgenommen und somit privilegiert.

Nachdem ich die so genannten Krankenakten von Julian gelesen hatte, war ich zwar nicht wesentlich schlauer, aber um ein Vielfaches neugieriger. Den Oberarzt und letztendlich Verantwortlichen für Julian habe ich gebeten, Julian besuchen zu dürfen. „Ja, kein Problem, gehen Sie nur, meinen Segen haben Sie“, so kurz und simpel war die Antwort und ich hatte die Erlaubnis.

Es war an einem Samstag. Alle Aktivitäten in dieser psychiatrischen Abteilung waren auf ein Minimum heruntergefahren. Auch im normalen Betrieb war hier nur wenig los. Die Patienten kannten ihre Medikamente, deren Dosierung und Nebenwirkungen bestens. Etliche dieser Patienten waren in der Pharmakologie besser bewandert als jeder Arzt oder Krankenpfleger auf dieser seltsamen Station. Somit wurden sie auch zum Medikamenten- und Tablettenrichten herangezogen. Die Herren machten ihre Arbeit wahrlich vorzüglich! Im Gegensatz zu dem medizinischen Fachpersonal unterlief ihnen nie ein Fehler oder gar eine Verwechslung, ihnen nicht, ihnen niemals, den andern nur zu oft! Sehr praktisch, sehr angenehm, um die Arbeit noch mehr auf ein Minimum zu reduzieren, und die Patienten waren froh, dass sie eine sinnvolle Beschäftigung hatten. Sinnvoll? Nicht für diese intelligenten Menschen!

An diesem besagten Samstag entschloss ich mich also, Julian zu besuchen. Eine Etage höher, rechts dann links durch ein paar Gänge und schon stand ich vor einer zweiflügeligen Tür. Auf der Tür stand mit altmodischer Schnörkelschrift: „Nur auf Aufforderung eintreten.“ Was nun? Ich klopfte an, aber keine Stimme bat mich herein. Auch das fünfte Klopfen zeigte keine Wirkung. Kurz entschlossen öffnete ich die Tür und stand … in einem kleinen Krankenzimmer? Von wegen! Ich stand eben nicht in einem kleinen Zimmer, sondern in einem großen Maleratelier. Überall hingen Bilder und Zeichnungen, zum Teil an langen Wäscheleinen oder einfach so, mit Reißbrettstiften an der Wand befestigt. Ich war völlig überrascht, denn darauf hatte mich niemand vorbereitet, niemand hatte auch nur ein Wort gesagt.

Seien wir ehrlich, wenn man solch einen Menschen und angeblichen Verbrecher aufsucht, so sieht man vor seinem geistigen Auge einen großen, bulligen, grobschlächtigen, hässlichen und ungebildeten Kerl.

Auch ich hatte diese Bildung, die aber nur eine Einbildung ist. Meine Erwartungen wurden enttäuscht, völlig daneben lag ich mit meiner eingebildeten Bildung. Julian war weder hässlich noch besonders groß und schon gar nicht grobschlächtig. Sicherlich, 178 Zentimeter machen aus einem Menschen noch keinen Riesen, aber klein ist man damit auch nicht gerade. Julian ignorierte mich, er sprach nicht ein Wort mit mir. Nun gut, abwarten, dachte ich mir, und meine Augen fielen auf etliche Bücher in den Regalen, wovon einige sehr alt sein mussten. Da der Aufgesuchte, oder soll ich besser sagen, von mir Heimgesuchte, kein Wort mit mir sprach, sagte ich nur: „Darf ich?“ Keine Reaktion. Aber selbst ist der Mann, und so schritt ich zur Tat. Das erste Buch, das ich aus dem Regal zog, war ein dänisches Wörterbuch aus dem Jahre 1428. Daneben standen ähnliche Bücher, und meine Vermutungen bestätigten sich. Es waren mehrere Wörterbücher der dänischen Sprache, aber eben sehr alt. Sofort legte ich die alten Schriften wieder zurück in das Regal, denn solche Schätze fasst man niemals mit bloßen Händen an. Julian hatte mich genau beobachtet und zeigte wortlos mit dem Zeigefinger auf ein paar weiße Wollhandschuhe. Er hat meine Gedanken, durch mein Verhalten bedingt, erraten können. „Danke“, sagte ich nur, und insgeheim befürchtete ich, Julian könne vielleicht gar nicht so richtig sprechen, was mir irgendwie auch logisch erschien. Passte es doch zu meiner Meinung, dass jeder, der hier war, nicht nur bekloppt, sondern auch noch geistig behindert sei. Mit Handschuhen bewaffnet machte ich mich nun neugierig über die alten Bücher her. Julian beobachtete mich aus den Augenwinkeln heraus sehr genau, ja, ich spürte förmlich seine Blicke.

Als Saarländer, der ich nun einmal bin, beherrschte ich nicht die dänische Sprache, eher schon Französisch. Aber die schönen Malereien in den Büchern verstand ich auch völlig ohne Sprachkenntnisse, die waren wie Musik, international.

Über eine Stunde habe ich mir die seltenen Bücher angeschaut und die Zeit verging wie im Flug. Julian schwieg weiterhin, ja, er ignorierte mich regelrecht. Ein Glück, dass er nicht noch auf mich getreten ist vor lauter vorsätzlichem Übersehen! Nach einer nahezu endlosen Zeit verabschiedete ich mich von Julian und bedankte mich gleichzeitig, dass ich die schönen Bücher sehen durfte. Julian zeigte keine Reaktion, kein Lächeln, nichts. Ich dachte bei mir, der Junge hat tatsächlich etwas an der Klatsche und sitzt wohl nicht zu Unrecht hier. Langsam ging ich zur Tür, sagte nochmals zum Abschied danke und stand bereits in der Tür. Vorsichtig fragte ich meinen schweigsamen unfreiwilligen Gastgeber: „Darf ich Sie wieder besuchen?“ Keine Antwort, keine Regung im Gesicht von Julian. Also machte ich mich etwas missmutig auf den Rückweg. Jedoch bevor ich die Tür ganz schließen konnte, hörte ich ihn noch sagen: „Ja, ist in Ordnung, gerne.“ Nun doch sehr überrascht drehe ich mich um, und ich konnte Julian zum ersten Mal ins Gesicht schauen und ihn auch zum ersten Mal genau betrachten. Der Mensch hatte ein gut geschnittenes, intelligentes Gesicht, makellose Zähne und eine sportliche Figur, aber das Markanteste an ihm waren seine leuchtend kupferroten Haare. Er schmunzelte, als er meine Verblüffung bemerkte, sprach aber keine Silbe.

Ich verabschiedete mich nun endgültig mit einer leichten, eher nur angedeuteten Verbeugung und machte mich auf den Weg. Merkwürdig, welche Vorstellung man hat von Menschen, die wegen irgendeines Deliktes im Gefängnis oder wie hier in der Psychiatrie einsitzen!

Julian war nicht unsympathisch und nach meinem bescheidenen Dafürhalten sah er als Mann recht ordentlich aus, nur zwei oder drei kleine winzige Narben auf jeder Seite in seinem Gesicht sind mir aufgefallen, aber störend waren sie nicht, eher interessant.

Nun gut, ich durfte auf jeden Fall wiederkommen, auch das war ein Erfolg. Ich hatte mich zwar selbst eingeladen, aber damit war ich erfolgreich und das zählt. Wie ich vom Personal der psychiatrischen Abteilung schon im Vorhinein wusste, war Julian sehr schweigsam, man muss schon sagen abweisend. Einige meiner neuen Arbeitskollegen auf Zeit hatten für ihn kein gutes Wort übrig und schilderten ihn in den dunkelsten Farben. Seine angeblichen Schandtaten wurden in den fürchterlichen Szenarien beschrieben. Der Leichenficker hat Hunderte von Frauen auf dem Gewissen und einiges mehr, bekam ich zu hören. Von Mord und Todschlag bis hin zur Vergewaltigung ganzer Mädchenklassen war die Rede. Und das darf dann auch nicht fehlen – jede Menge kleiner Mädchen. Seltsam, seiner Krankenakte war nur zu entnehmen, dass er in einem einzigen Fall auf frischer Tat ertappt wurde. Seltsam, denn dieser eine Fall war für mich besonders interessant.

In dem kleinen Ort im Saarland, in dem ich groß geworden bin, hat ein weltbekanntes Unternehmen seinen Stammsitz, und zwei Fabriken dieser Firma existieren auch heute noch dort.

Das Jahr weiß ich nicht mehr, aber wenn in einem Dorf dieser Größe sich etwas ereignet, so weiß gleich jeder darüber bestens Bescheid. Die allseits hinlänglich bekannten Nachrichtenverbreiter treten den Tratsch in Windeseile in alle Himmelsrichtungen breit, einfach widerlich. Es sind nicht nur Frauen, die dies tun. Die Männer sind um ein Vielfaches unverschämter, wenn die Erzählungen ausgeschmückt werden. Dann haben die Ereignisse auch nichts mehr mit dem ursprünglichen Geschehen zu tun. Auch das ist kein Geheimnis, zwischen dem tatsächlichen Geschehen und bis der Letzte im Ort die Nachricht vernommen hat, ist von dem ursprünglichen Ereignis nicht viel übrig geblieben. So ist das nun einmal in diesem damals streng christlich geprägten Dorf im Saarland gewesen, ich fürchte allerdings, nicht nur dort und nicht nur früher.

In diesem meinem Heimatdorf gab es einen Zahnarzt, oder war er nur Dentist mit einer Kurzausbildung, wie damals in der französischen Besatzungszeit üblich? Ich weiß es nicht mehr. Dieser Zahnarzt hatte zwei hübsche Töchter im Alter zwischen 18 und 22 Jahren. Gemeinsam erlitten sie einen schweren Verkehrsunfall, wobei mindestens eine dieser jungen Frauen ihr Leben verlor. Ob tatsächlich nur eines oder beide Mädchen verunfallt waren, konnte ich nicht mehr in Erfahrung bringen. Sicher ist auf jeden Fall, eine der jungen Frauen, so traurig es auch ist, hat den Unfall nicht überlebt. Die schöne junge Frau wurde beerdigt. Damit war der für die Öffentlichkeit zunächst interessantere Teil zu Ende. Jedoch nicht ganz.

Einige Tage später wurde eine neue Nachricht im ganzen Dorf verbreitet. Jemand Unbekanntes hatte versucht, die junge Frau in einer nächtlichen Aktion wieder auszugraben. Warum auch immer, er konnte sein Werk nicht zu Ende führen. Vermutlich wurde er bei seinen Erdarbeiten gestört. Auch ein zweiter Versuch soll in der darauffolgenden Nacht erfolgt sein, auch hier soll er sein Vorhaben wieder nicht zu Ende geführt haben. Unklug von dem nächtlichen Erdarbeiter, er probierte es in der dritten Nacht in Folge, und dabei wurde er erwischt. Mehrere junge Männer hatten ihm aufgelauert und, als er fast sein Ziel erreicht hatte, ihn auf frischer Tat dingfest gemacht.

Aber oh je, wie nun die Gerüchteküche in dem Dorf brodelte! Verschmähter Liebhaber! Der Geliebte der jungen Frau! Der heimliche Geliebte! Der Geliebte des Mädchens, den die Eltern abgelehnt hatten! Der Geliebte soll ein verheirateter Familienvater sein. Die junge, aber nun tote Frau war schwanger von diesem nächtlichen Aktivisten … und so weiter, und so fort. Wie immer an solchen Gerüchten – nichts war wahr, alles reine Fantasie und Hirngespinste.

Das seltsame, und die Duplizität der Fälle, der nächtliche Akteur auf dem Friedhof war Julian, und der wollte nur die Leiche ausgraben, um sich mit dieser zu vergnügen und sonst nichts. Nichts von all den Legenden aus der brodelnden Giftküche der Gerüchte, so war das nun einmal in diesem seltsamen Dorf. Sicherlich ein besonderer Zufall, oder doch eine Fügung des Schicksals? Hier, in der Psychiatrie meines Ausbildungskrankenhauses, sollte ich Julian, den Leichenschänder aus meinem Heimatdorf, antreffen.

Der folgende Tag, an dem ich Dienst hatte, war nun ein Sonntag. Wie in psychiatrischen Anstalten oft üblich, ist der Sonntag einer der ruhigsten Arbeitstage überhaupt. Also was lag näher, als diesen Tag zu nutzen? Nach Rücksprache mit meinen Arbeitskollegen plante ich erneut, Julian eine Visite abzustatten. Gesagt getan, und so machte ich mich auf den Weg. Wieder stand ich vor der Tür, klopfte vorsichtig an und begehrte Einlass. Natürlich, wie erwartet, wiederum keine Antwort. Ich hatte es geahnt. Aber, wie damals im Saarland so üblich (in ländlichen Gegenden wird dieser unhöfliche Brauch immer noch gepflegt), heute ging ich einfach hinein in das Atelier von Julian. Er begrüßte mich erstaunlicherweise mit einem freundlichen Hallo. Ich begrüßte ihn mit einem Handschlag, und er erwiderte ihn. Ehe ich ein weiteres Wort an ihn richten konnte, hob er fast drohend den Zeigefinger in Augenhöhe und sagte zu mir ganz kategorisch und genauso unmissverständlich: „Ich weiß, dass Sie hier sind, um meine Geschichte zu erfahren. Sie haben wohl kaum ein Interesse an meiner Person, wohl nicht. Sie wollen nur meine Geschichte hören, aber von mir, dem Leichenficker, erfahren Sie kein Wort, nichts! Schluss und aus! Es wäre sinnvoll, jeglichen Versuch Ihrerseits strikt zu unterlassen, und damit Amen!“ Unzweifelhaft, dies war eine klare und nicht zu missdeutende Drohung, geradezu eine Kriegserklärung. Ich wehrte mit beiden Händen ab und erklärte ihm, dass ich ihn schon durch die Gerüchteküche meines Heimatortes kennen würde, leider nur sehr unvollkommen, und deshalb sei ich hier. Auch hätte ich mir ein ganz anderes Bild von ihm gemacht und sei doch arg enttäuscht von ihm und dem, was ich hier vorfand. Die Stirn von Julian kräuselte sich leicht. Ungewollt hatte ich wohl den richtigen Punkt bei ihm getroffen, denn er fragte: „Nun bin ich aber neugierig, inwieweit ich Sie enttäuscht habe.“ Einige Sekunden Schweigen, dann sagt er erneut, „Schießen Sie los, was haben Sie denn hier erwartet?" „Nun ja“, antwortete ich vorsichtig, denn man kann ja nie wissen, in welches Fettnäpfchen man bei solch einem neuen Bekannten tritt. „Ja also, nun ja, ich habe mir zum einem Ihren Aufenthaltsort etwas anders vorgestellt und, zum anderen, Ihre Person passt so gar nicht in das Bild, das ich mir von Ihnen gemacht habe." „Na wie denn bitte“, sagt Julian, offensichtlich neugierig geworden. „Nun“, sagte ich etwas umständlich, „wie stellt man sich solch einen Menschen wohl vor, als der Sie beschrieben wurden. Groß, breite Schultern, natürlich saudumm und ein Gesicht, so hässlich wie der Teufel. Und nun von all dem nichts! Das mit dem saudumm scheint offensichtlich ein völliger Fehlgriff meiner Einbildung zu sein, ein Produkt meiner Fantasie. Ihre Bilder, die ich nur oberflächlich bewundern durfte, sprechen des Weiteren gegen meine ursprüngliche vorgefertigte Meinung, alles Makulatur, welch ein Irrtum. Ach ja, auch ihre Bibliothek spricht für sich. Sie ist völlig konträr zu dem, was ich mir in meiner blöden Fantasie vorgestellt hatte.“ „Ha“, sagt Julian nun sehr laut, „mit Hässlichkeit hätte ich noch bis vor wenigen Jahren sehr gut dienen können, ja, das war ich, sehr hässlich. Und stellen Sie sich einmal vor, eine der lieben Damen des Arbeitsamtes hatte einst zu mir gesagt, ich wäre noch zu hässlich, um auf der Geisterbahn zu arbeiten. Ich würde dort die Besucher zu Tode erschrecken. Die Dame hatte leider absolut Recht. Nun stellen Sie sich einmal mein Gesicht genau so vor, wie ich es Ihnen jetzt beschreibe.

Ich hatte Ober- und Unterkiefer zwischen drei und sieben cm verlängert nach vorne vorstehend, wobei der Unterkiefer mit 7 cm die Krönung meiner Schönheit bildete. Meine Nase war einer Kartoffel ähnlicher als einer menschlichen Nase. Aber damit war noch lange nicht das Ende der biologischen Vielfalt und Gemeinheiten erreicht. Ich hatte fürchterlich abstehende Ohren, eine echte Katastrophe. Sehr groß, ja direkt überdimensional waren sie noch dazu. Schielen tat ich entsetzlich. Erst recht meine Zähne, nochmals eine Katastrophe, eine große Katastrophe. Zum einen ragte der Unterkiefer circa 4 cm über den Oberkiefer heraus, so dass eine artikulierte und verständliche Sprache nicht möglich war. Die wenigen Worte, die ich einigermaßen verständlich sprechen konnte, wurden durch die wie ein Rechen stehenden Zähne wiederum verzerrt und waren nur als Zischen und Pfeifen zu vernehmen. Also eine noch größere Katastrophe. Als Kind, wie auch heute, hatte ich diese kupferroten Haare, was wiederum zum vermehrten Spott meiner Klassenkameraden beitrug. Um es kurz und prägnant zu formulieren: Ich war sehr, nein nicht sehr, ich war unsäglich hässlich! Nun können Sie sich problemlos vorstellen, wie die Dorfkinder und im Besonderen meine Klassenkameraden mit mir umgesprungen sind. Wohl die größte Katastrophe in meinem Leben, die Nachhaltigste, die Prägendste. Aber auch das hässlichste Kind wird allmählich erwachsen, und leider begannen meine Probleme jetzt erst recht. So etwa mit dem 13. oder 15. Lebensjahr schaute ich, wie alle Jungen, nach den Mädchen, nur bei mir war alles anders, leider sehr viel anders. Selbst wenn ich völlig unbeabsichtigt ein Mädchen wenn auch nur aus Versehen berührte, war das Geschrei der hysterischen Ziegen sofort riesengroß. Der Lehrer namens Engel und Direktor der Schule kam herbeigestürzt und vollführte einen unsäglichen Aufstand. Meine Klassenkameraden verprügelten mich häufig, die Lehrer sahen nur grinsend zu. Meine Eltern waren einfache Leute und mein Vater arbeitete hier in einer der Fabriken des Ortes. Geld war nie genug da für mich und meine Schwester, kein Wunder bei den Hungerlöhnen, die damals gezahlt wurden. Trotz alledem, meine Schwester, sonst habe ich keine Geschwister, ist eine bildschöne Frau geworden. Lange blonde Haare und leuchtend blaue Augen und eine Figur, ein Traum für jeden Mann. Leider hat die Natur sich bei mir einen üblen Streich erlaubt, einen völligen Fehlgriff, behaupte ich heute. Mein Gesicht war zwar hässlich, aber mein übriger Körper war dafür völlig normal entwickelt. So ganz ungerecht war die Natur wiederum nicht mit mir. Ich hatte sehr schnell gemerkt, dass ich anders, ja den anderen geistig überlegen war, haushoch sogar.“

Fasziniert hatte ich gelauscht. „Nee, glaub ich nicht“, sagte ich jetzt spontan und ärgerte mich auch schon, dass ich den Redefluss von Julian unterbrochen hatte. Wusste ich doch längst, dass Julian mit niemandem, außer über Belanglosigkeiten, sprach. Meine Befürchtungen bestätigten sich, als Julian das Gespräch und die Besuchszeit für heute für beendet erklärte. „Kommen Sie aber morgen wieder, es würde mich freuen!“ Hatte ich mich verhört? Nein, er hatte es wahrhaftig geflüstert. Immerhin schien ich Julias Vertrauen gewonnen zu haben, aber womit? Ich glaube, das wussten nicht einmal die Götter.

Am anderen Tag war ich mit Dienstbeginn schon bei Julian. Diesmal führte ich das Gespräch zielstrebig und ausschließlich auf und über seine Kunst. Mit sehr viel Begeisterung und auch mit einem gewissen Pathos griff Julian das Thema sofort auf, ich hatte wohl den Finger auf dem richtigen Flötenloch. Nun erfuhr ich, warum er hier ein so komfortables Atelier hatte, während die anderen Patienten eher bescheiden leben mussten.

Höchst bemerkenswert, Julian malte alles und jedes, wobei er auch seinen eigenen, ganz besonderen Stil entwickelt hatte. Egal, was er hier produzierte: Der ärztliche Direktor war an allem interessiert und zahlender Abnehmer für alles. Julian kannte sich in den Maltechniken aller europäischen Maler aus. Von der Frühzeit der Antike bis zur Gegenwartskunst. Es war erstaunlich, von Leonardo Da Vinci bis hin zu den holländischen und belgischen Malern, alle Meister und deren Maltechniken waren ihm bekannt. Gleichfalls die Ingredienzien zur Herstellung der damals gebräuchlichen Farben. Die geheimen Plätze im saarländischen Wallerfangen und dessen Umgebung waren ihm nicht verborgen geblieben, die Fundstellen des Grundstoffes der blauen Farbe, die während der Renaissance und später noch verwendet worden war. Dieses hoch begehrte Blau wurde beim Malen benötigt, zum Beispiel, um dem Mantel der Mutter Gottes seine allseits begehrte leuchtend blaue Farbe zu verleihen. Julian wusste, wo man sie fand. Sämtliche organischen und mineralischen Grundstoffe zur Farbherstellung waren für ihn kein Geheimnis, er kannte sie alle und nicht nur diese. Er nutzte sein großes Wissen für seine Kunst. Er restaurierte sogar hier in der Psychiatrie Gemälde aus verschiedenen Museen und aus Privatbesitz. Er muss es wohl meisterlich getan haben, denn der Zustrom in seinem Atelier riss nie ab. So konnte ich auch hier an diesem Tage Gemälde alter Meister sehen, die sonst nur gut geschützt in einem Museum zu besichtigen sind. Erstaunlich, man muss nur die richtigen Leute kennen und schon kann man diese Kostbarkeiten einfach so betrachten, ja, auch noch anfassen. Unfassbar! Ja sogar anfassen, denn das ist das Größte für einen Kunstbegeisterten. Es spottet jeder Beschreibung, welch ein erhabenes Gefühl es ist, solch ein Bild berühren zu dürfen. Es sogar in den Händen halten zu können – Millionenwerte, das ist einfach das Größte! Julian kannte das Gefühl und sagte lächelnd: „Ein tolles Gefühl, ein Orgasmus ist nichts dagegen.“ Hier kann man(n) geteilter Meinung sein, aber emotional einfach umwerfend. „Auch Fälschungen in der Produktion?“, fragte ich, „Aber ja, natürlich ja“, sagte er, und seine Mundwinkel bewegten sich in Richtung der Ohren. Mit einem breiten Grinsen zeigte er auf verschiedene Bilder, sagte aber weder ein Wort noch einen Kommentar dazu. Ich hatte verstanden, als Kunstbanause und Nichtswisser, der ich in solch einem speziellen Falle tatsächlich war. Julian gab mir Nachhilfeunterricht. Jedoch, was ich an diesem Tag alles zu hören bekam, war zu 90 % vergebene Liebesmüh. Bei der Fülle der Informationen ist leider nicht viel hängen geblieben. Dennoch war ich einfach unglaublich beeindruckt, fast erschlagen. Wie kann ein einziger Mensch so viel Wissen in seinem Kopf unterbringen und vor allen Dingen behalten? Nicht nachvollziehbar, unfassbar. Neugierig und für einen Saarländer typisch fragte ich nun erneut und sehr direkt; „Nochmals, auch hier Fälschungen in der Produktion?“ Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten, „Aber ja, selbstverständlich, was dachten Sie denn?“ Ich dachte gar nichts, und seine Antwort war mir beinahe peinlich.

Stand ich genau genommen also hier in einer Fälscherwerkstatt? Julian bestätigt meine Vermutung mit einem intensiven Kopfnicken. „Hm“, sagte ich nachdenklich, „und wenn das nun ans Licht kommt, oder nur ruchbar wird, was ist dann?“ „Nix“, sagte mein Gegenüber. „Ich bin doch bekloppt und sitze in der Psychiatrie! Sagen Sie selbst, was könnte mir denn hier schon passieren, mir als Vollidioten? Gar nichts!“ Ungläubig schüttelte ich den Kopf. Prompt kam von Julian ergänzend: „Ich? Ich verkaufe nichts, dass tut ein anderer. Nun, mein Lieber, jetzt stellt sich sehr dringend die Frage, wer ist hier der Patient und wer ist Therapeut? Die Antwort dürfte doch wohl sehr eindeutig sein und mehr als berechtigt. Mein „Patient“ verkauft alles für mich, und der Gewinn wird brüderlich geteilt. Vielleicht auch nicht, wahrscheinlich betrügt er mich sogar, aber was soll` s. Ach, in vielen Museen hängen Fälschungen, mit großer Wahrscheinlichkeit auch einige von mir. In einigen Auktionshäusern hier im Saarland wird auch hin und wieder ein wertvolles Ölgemälde versteigert mit der Signatur eines großen Meisters, und der wahre Meister blieb bis heute unerkannt, dass er in der Psychiatrie sitzt, darauf kommt niemand. Picasso und Dali, ja die lassen sich leicht fälschen, die Bilder sind simpel. Das berühmte Blaue Pferd gibt es mehrfach. Die Maler Rembrandt und Albrecht Dürer hatte ich auch schon einmal in der Produktion, schon bevor ich hier mein Zwangsdomizil aufgeschlagen hatte, aufgefallen bin ich noch nie. Ein Problem hat die ganze Sache allerdings doch. Aus meiner früheren Tätigkeit habe ich im Ausland noch einige Konten, auf denen ich Geld gebunkert habe für den Fall, dass ich doch noch einmal diese grässlichen Mauern hier verlassen kann. Mein nicht gerade geringer Verdienst aus der Produktion dieses Ateliers stellte ein erhebliches Problem dar, bis es endlich sicher auf einem geheimen Nummernkonto war. Aber auch hier gilt der Grundsatz, wo ein Wille ist, ist auch ein Weg, und so ist es.“ Julian stopft mir den Kopf mit Fakten und Argumenten voll, mit seinem scheinbar unerschöpflichen Fachwissen, es war mehr als verwirrend. Heute hätte ich noch gerne so viel in Erfahrung gebracht, aber das Telefon klingelte, ich wurde auf meiner Station gebraucht, wirklich schade, es lief gerade so gut an. Ich verabschiedete mich mit Handschlag und bat wiederum um eine Besuchserlaubnis. Julian sagte: „Ich habe ihnen gegen meine sonstigen Gewohnheiten schon zu viel erzählt, nun gut, herzlich willkommen.“ Ich war dankbar über die neue Einladung, obwohl ich diese Saarland-spezifisch selbst in die Wege geleitet hatte. Eines ist sicher, ich wollte und ich werde auf jeden Fall wiederkommen. So machte ich mich etwas betrübt auf den Weg, um das zu tun, weshalb ich eigentlich hier war. Eigentlich hätte ich gerne gesagt: um etwas zu lernen. Aber das war hier nicht der Fall. Hier gab es nichts zu lernen.

Am folgenden Tag stürzte ich mich förmlich in die wenige Arbeit, die solch eine spezielle psychiatrische Abteilung zu bieten hat, im Grunde genommen sehr wenig. Da die Arbeitsweise und deren Abläufe in allen Krankenhäusern Deutschlands und auch in dem angrenzenden Frankreich jeder Logik entbehren, war diese sehr schnell erledigt.

Ein kleiner Kommentar zu der Arbeitsweise in Krankenhäusern und ähnlichen Institutionen sei mir gestattet. Da diese Einrichtungen fest in Frauenhand sind, so sind auch die Arbeitsabläufe entsprechend, völlig irrational, schlicht und ergreifend idiotisch. Kein Produktionsbetrieb könnte sich diese Arbeitsweise erlauben, nicht einen Monat, nein, nicht eine Woche. So hat einmal das Magazin „Der Stern“ in einer seiner Ausgaben geschrieben, „würde ein Kiosk, der nun einmal in jedem Krankenhaus zu finden ist, so arbeiten wie eben das erwähnte Krankenhaus, so wäre dieser in drei Tagen pleite. Dem ist nichts hinzuzufügen, es ist so. Man kann auch nicht behaupten, ich sei ein Frauenhasser, der ich bei Gott nicht bin. Frauen arbeiten tatsächlich in Krankenhäusern, natürlich auch in Altenheimen usw. genauso irrational. Nein, nein und nochmals nein, Männer würden niemals so arbeiten, garantiert nicht. Wer in der Industrie gearbeitet hat oder auch als Handwerker, weiß, wie Arbeitsabläufe vonstatten zu gehen haben. In einem Handwerk und auch in der Industrie habe ich mehrere Jahre gearbeitet, und darum war ich bereits nach einer Stunde mit einer mir zugeteilten Arbeit fertig. Man kann es wörtlich nehmen, auch mit den Nerven, bei diesem Unfug, der in solchen Einrichtungen getrieben wird, es ist nicht zu begreifen.

Nun muss ich zur Ehrenrettung der Frauen Folgendes anmerken. In einem saarländischen Krankenhaus, in dem ich kurzzeitig gearbeitet hatte, herrschten noch merkwürdigere, noch verrücktere Zustände. Das Direktorium – nur Männer. Die Stationsleitung – ein Mann. Das Pflegepersonal – nur Männer. Dort wurde, nur und ausschließlich, so absonderlich gearbeitet, dass ich mich hin und wieder zwicken musste, um mich zu versichern, dass ich noch auf dieser Welt bin, in der sich alle so merkwürdig verhielten. Eine Erklärung für dieses Verhalten liegt vielleicht in der schon Jahrhunderte alten Tradition, dass in solchen Einrichtungen immer schon so gearbeitet wurde Auf dieser Station drängte sich mir permanent der Eindruck auf, ich sei in der Zweigstelle eines Irrenhauses für besonders seltsame Fälle und ohne jegliche Chance auf Heilung.

Die Arbeit erledigt und schon auf der Flucht, nein, nicht ganz, ich war nur auf dem Weg zu Julian. Angeklopft habe ich natürlich gegen alle saarländischen Gewohnheiten und ich habe auch noch gewartet, bis ich eintreten durfte. Wäre alles nicht notwendig gewesen, Julian erwartete mich schon. Nur einen Spalt hatte ich die Tür geöffnet, als mich die Hand von Julian recht unsanft am Kittel faste und in das Atelier hineinzerrte. Taumelnd suchte ich Halt und wunderte mich über sein grobes Vorgehen.

Erstaunt musste ich feststellen, Julian duzte mich. „Du komm mit, ich zeige dir etwas Spannendes“, sagte er mit hochrotem Kopf und schleifte mich regelrecht hinter sich her. „Da schau, ein altes Originalbild“, lachte er, „vermutlich aus dem 14. oder 15. Jahrhundert. Die Signatur des Meisters ist bekannt und das Bild somit von unschätzbarem Wert, ja ist das nix“, sagte er mit seiner hochroten Birne, die selbst im Dunklen geleuchtet hätte. Saarländisch korrekt meine Antwort: „Hä – woh?“ „Loh“ (steht im saarländischen für „da“), kam die Antwort von Julian in eben dem saarländischen Dialekt, und schon standen wir vor dem Gemälde. Das Gemälde sagt mir Kunstbanausen nichts, aber wunderschön war es trotzdem – eine nackte junge Frau, die sich lasziv auf der Leinwand räkelte. Voller Begeisterung und Elan erklärte mir Julian, um was es sich hier handelte. „Sollst du das Bild restaurieren, oder was soll damit geschehen?“ fragte ich, mal wieder nichts ahnend. „Nein“, kam die prompte Antwort von ihm, „kopieren soll ich es. Nicht genauso, aber dem Stil entsprechend wird ein neues Bild entstehen. Es soll dem hiesigen ähneln und somit als weiteres Werk des alten Meisters gelten. Ja natürlich, die nackte Frau soll wieder zu sehen sein, nur das Sujet muss etwas anders sein, es soll diesem Bild gleichen, vielleicht nicht ganz, aber in etwa so, so dass man eine Zuordnung vornehmen kann. Es muss aber dem Original relativ ähnlich sein, dass man es zwangsläufig als weiteres Bild des Meisters erkennen muss.“ Mir verschlug es fast den Atem, und meine Neugier wuchs fast ins Unermessliche.

Illegale Dinge sind immer viel spannender als Allerweltsgeschehnisse. Konnte Julian Gedanken lesen? Er hob die Hand wie zur Abwehr und sagte: „Ja ja, ich weiß, was Du sagen willst, ich habe Deine Gedanken erraten. Du wirst es nicht glauben, alte Leinwand aus der damaligen Zeit gibt es erstaunlicherweise ausreichend. Die Farben stellen zwar ein Problem dar, aber mit meinen Kenntnissen und Möglichkeiten werde ich sie aus tierischen Produkten, insbesondere Eiern, herstellen können. Andere mineralische Farben und pflanzliche Produkte stellen wiederum kein Hindernis dar, alles vorhanden. Alles wächst überall.“ Ungläubig brummte ich: „Ja, aber …“ Julian sprach nun recht laut: „Nichts aber, ich habe an alles gedacht.“ Noch lauter schrie ich: „Hast Du nicht! Du kannst machen, was du willst, der Zustand des Bildes ist und bleibt neu und daran kannst auch du nichts ändern.“ „Hä hä hä“, meckerte er lachend, fast wie eine Ziege. Wirklich, so zu lachen bereitete ihm sichtlich Freude. Ja, Julian lachte mich einfach aus. „Kann ich doch! Komm mit, hier ist die Zauberecke!“ Julian trat vor einen großen Wandschrank, öffnet ihn und zeigte mit seinen gepflegten Händen auf einen großen Kasten, der mindestens die Hälfte des Schranks einnahm. „Dieser Kasten, das ist das ganze Geheimnis. Das Geheimnis und den Kasten habe ich von einem Holländer, der auch als Fälscher tätig ist und noch nie erwischt wurde. Das Mysterium der Kiste ist fast simpel, aber man muss halt wissen, wie es geht, und ja, ich weiß es. Alles, was wirklich genial ist, ist auch einfach. Das gefälschte und zu alternde Bild kommt in diesen Kasten, der in Wirklichkeit ein Ofen ist, bei einer bestimmten Temperatur. Hier kommt es auf die Farben und das Jahr an, in dem das Bild angeblich entstanden ist. Selbstverständlich ist auch die Höhe der Temperatur und die Länge der Temperatureinwirkung ebenso ein entscheidender Faktor. Durch viele Versuche, die der Holländer schon lange vor mir vorgenommen hat, ist er und nun auch ich in der Lage, jedes Bild altersgerecht zu verändern. Bisher ist es noch niemandem gelungen, solch ein Bild als Fälschung zu entlarven. Vielleicht liegt es aber nur daran, dass diese Methode noch völlig unbekannt ist. So habe ich nun die benötigte, aus dem Jahrhundert stammende Leinwand, die entsprechenden Farben und auch die perfekte Methode, das Gemälde zu altern. Stell Dir vor, einem meiner Abnehmer würde es auffallen, was wäre dann? Die Antwort ist eigentlich sehr simpel. Wer glaubt denn schon, dass diese perfekten Fälschungen hier in einer Irrenanstalt ihre Entstehung haben? Dazu noch gemalt von einem perversen Nekrophilen, mal ehrlich, wohl niemand, oder? Im Übrigen müsste man zum einen erst einmal Verdacht schöpfen, zum anderen würden die Untersuchungen Monate bis Jahre dauern und das Endergebnis dürfte fraglich sein. Ich glaube auch kaum, dass man einen Bekloppten, der bereits in der Psychiatrie untergebracht ist, irgendwie belangen kann. Der Arme ist ja nicht zurechnungsfähig, ein Idiot, wie schön für mich, ich armer Irrer. “

Sollte ich mich verhört haben? Was flüsterte Julian da soeben? Wenn vielleicht auch ungewollt, Julian hatte wirklich gesagt: „Ich armer perverser nekrophiler Irrer!“ Sehr sanft und vorsichtig machte ich ihn auf diese Aussage aufmerksam. Wider Erwarten reagierte Julian gelassen und grinste dabei schelmisch. „Gut“ sagte er, „ich vertraue Dir, und wenn Du mir schwörst, erst nach einigen Jahrzehnten mein Geheimnis weiterzugeben, dann will ich Dir gerne auch mein arg versautes Geheimnis verraten. Da ich weiß, dass Du nur noch wenige Tage, mit etwas Glück auch noch Wochen, hier bist, so will ich dir meine Lebensgeschichte bis ins kleinste Detail schildern. Du solltest sie dir aufschreiben. Wenn der Holzwurm mich gefressen hat, kannst du daraus ein Buch machen oder einfach die Sache vergessen und mich auch. Vermutlich bekomme ich starke Medikamente und die machen eine üble Wesensveränderung. Wer nicht bekloppt ist, der wird es hier, garantiert! Ich habe die verabreichten Medikamente grundsätzlich durch die Toilette gespült. Bisher konnten sie mir nichts beweisen, aber ich merke es trotzdem, dass man mir auf irgendeine Weise die Medikamente beibringt, vermutlich im Essen untergemischt. Auch könnte es im Tee und im Fruchtsaft sein, aber dass sie es tun, da bin ich mir sicher. Schau dir die vielen Menschen hier an, einige sind wirklich krank und bedürfen der Therapierung. Etliche jedoch wurden von Psychologen, Neurologen und Psychiatern hier eingewiesen, die selbst hinter Schloss und Riegel gehören und nicht diese armen Menschen. Ja, dies ist nun einmal so in Deutschland. Es ist auch keine Ausnahmesituation, dass die eine oder andere Patientin, die durch Medikamente willenlos gemacht wurde, sexuell missbraucht wird. Man kann das Kind beim Namen nennen, es ist die Regel überall. Du kennst ja nun schon unseren ärztlichen Direktor, mal ehrlich, gibt es noch einen, der bekloppter und therapiebedürftiger ist als dieser Mensch? Du wirst keinen weiteren finden. Geprügelt und zum Teil gequält werden die Patienten hier. Die Menschenrechte und deren Würde mit Füßen getreten, es ist ein Elend, es ist ein Jammer und niemand kümmert es.“

Ja, ich habe diesen Direktor kennen gelernt und ich muss schon sagen, Julian hat bis ins Detail Recht. „Ich merke es tatsächlich an meinen kognitiven Fähigkeiten die zwar nur wenig, aber doch stetig spürbar nachgelassen haben“, fuhr Julian fort. „Ich bin mir auch dessen bewusst, dass ich irgendwann in der Dunkelheit meines schwächer werdenden Geistes dahindämmern werde und das mein physisches Ende sein wird. Irgendwann wird sich mein Zustand so verschlechtern, dass ich nur noch im Bett liegen kann. Ich bekomme eine Pneumonie und werde wohl an dieser gnädigen Lungenentzündung sterben. Also warte ein paar Jahrzehnte und dann mache ein Buch aus meiner Geschichte, die ich dir erzählen werde. Schone meine Familie, indem du das eine oder andere Geschehen etwas umgestaltest, vielleicht auch die einzelnen Örtlichkeiten veränderst. Aber wenn ich tot bin, soll mir auch das egal sein, dann ist Dir alles erlaubt. Da es eine lange Geschichte ist, müsstet Du wohl ein paar Wochen täglich herkommen. Bring Papier und Bleistift mit und dann kann es losgehen.“ „Kann ich nicht, geht nicht “, gebe ich zu bedenken, „gelernt habe ich hier zwar nichts, dafür bin ich aber auch nicht hier. Ehrlich, gelernt habe ich hier rein gar nichts. Nein, ich bin eine billige Arbeitskraft, mehr nicht. Aus dem Krankenhaus, aus dem ich komme, kommen noch mehrere solche Auszubeutenden, bei ihnen das gleiche Bild. Viel Arbeit gab's und gar keinen Lohn. Weshalb man eigentlich dort ist, das kommt zu kurz, aber billig ist man und nur darauf kommt es ihnen an!“ „Ach Gott mein Lieber“, bekam ich zur Antwort, „das regle ich in diesem Falle schon. Der Herr Direktor ist auf mich angewiesen, und ich weiß zu viel von ihm und über ihn. Den werde ich ein klein wenig unter Druck setzen und so wird mein Wunsch, selbstverständlich auch deiner, in Erfüllung gehen.“ Und so geschah es …

Unverhofft kommt oft, sollte man wenigstens annehmen, aber meistens kommt nichts. Und dennoch kam etwas … Eine Woche war bereits vergangen, und plötzlich bewegte sich etwas. Zum Dienstbeginn um 7:00 Uhr hieß es, jetzt und sofort zum ärztlichen Direktor, ich tat wie mir befohlen, und das mit einem mulmigen Gefühl.

Der Herr Direktor, der psychisch gestörter war als jeder hier in der Anstalt, gab überwiegend nur Handzeichen, die jemand zuerst verstehen, natürlich erlernen und dann wiederum kennen musste. Eine bestimmte Handbewegung hieß zum Beispiel: mein Mantel! Eine andere, ganz bestimmte Gestik ersetzte ein Wort und hieß nichts anderes als: ein Glas Wasser! Dabei machte er wiederum gewisse, ergänzende Handbewegungen, die zur Bestimmung des Inhaltes des Glases dienten und auch die Flüssigkeit als solche definierten. Zum Beispiel Orangensaft oder sonst etwas Beliebiges – durch diese Gestik wurde das Gewünschte kenntlich gemacht. Bestimmte Handzeichen hatten also eine ganz bestimmte Zuordnung und Bedeutung. Da dieser Irre schon seit Jahren dieses Irrenhaus dirigierte, kannten wenigstens einige, wenn auch die wenigsten, den Sinn und Inhalt seiner Zeichensprache. Wer diesen ärztlichen Direktor akzeptierte und auch mit ihm kooperierte, der hat wahrlich nichts zu fürchten, und so kamen alle recht gut mit ihm zurande. Eigentlich war er gar nicht so unangenehm, wenn man ihn so nahm, wie er halt war. Nein, eher das Gegenteil, angenehm – wenn er auch fürchterlich neben der Spur eierte. Er hatte das Sagen und das letzte Wort, solange man ihn gewähren ließ und ihm nicht allzu sehr widersprach. Manchen Anregungen war er sehr zugänglich, und wenn es um sein Spezialgebiet, die Kunst, ging, war er auch plötzlich völlig normal, nun fast normal, wenn auch mit einer liebenswürdigen kleinen Macke – oder waren es doch mehrere?

Nun stand ich hier vor der Tür des Herrn Direktor, des ärztlichen Direktors. Natürlich war ich verunsichert. Wie geht man mit so einem irren Irren um, der auch noch der Chef aller Irren ist, also, er ist ja der Oberirre hier? Dass ich diese merkwürdige Zeichensprache so gar nicht verstand, das beunruhigte mich doch etwas. Doch, ein paar von seinen merkwürdigen Verrenkungen wusste ich schon zu deuten und hoffte, damit zurechtzukommen. Ich klopfte an, ein Herein hörte ich nicht, auch nach wenigen Minuten keine Reaktion. Soll ich? Unhöflich, wie ich nun einmal bin, die Tür aufreißen und sehen, was auf mich zukommt? Nein, ich tat es zunächst nicht, sondern klopfte erneut an die Tür von Herrn Direktor. Nach einer schier endlosen Weile des Wartens – nichts! Immer noch kein „Herein“ zu hören. Schon wollte ich an meinen eigentlichen Arbeitsplatz zurückkehren, als es „Klatsch, klatsch“ hinter der Tür machte. Ich muss wohl instinktiv dieses Zeichen richtig gedeutet haben und öffnete die Tür. Ich grüßte höflich, so bildete ich es mir wenigstens ein, und trat nun ungefragt ein. Herr Direktor hatte mich erwartet und machte eine merkwürdige verschlungene Geste, die ich als Aufforderung zum Sitzen interpretierte. Richtig interpretiert! Vorsichtig setzte ich mich auf den mir zugewiesenen Stuhl und harrte der Dinge, die da kommen sollten, ja, mussten, es kam aber nichts. Nach zwanzig Minuten des Schweigens und des Nichtstuns hielt ich es für an der Zeit, wieder zu gehen. Ohne ein Wort erhob ich mich und schlich zur Tür. Fast dort angekommen, hörte ich die Stimme des allseits bekannten exzentrischen Herrn Direktors. „Halt, hierbleiben, dies ist ein Befehl!“, klang es aus der Ecke. Also eine Kehrtwendung um 180° und wieder Platz nehmen auf dem Stuhl. Dann sagte er, der Herr der vielen Irren hier und Direktor der Anstalt: „Sie müssen auf den Herrn Julian M., den Leichenficker, einen starken und prägenden Eindruck gemacht haben. Der Leichenficker besteht darauf, dass Sie ihn ab sofort und das täglich für ein bis zwei Monate besuchen. Den Grund dafür hat er mir nicht genannt, aber den möchte ich gerne von ihnen wissen und zwar augenblicklich, verstanden? Ich bin der Herr dein Gott hier in diesem Hause, haben Sie das verstanden?“, sagte er zu mir und schaute mich dabei ganz genau an. „Aber ja Herr Direktor, selbstverständlich, Herr Direktor, wie Sie wünschen, Herr Doktor“, salutierte ich nahezu. Gott sei Dank, Gedanken lesen konnte er wohl noch nicht! Wenn doch, so hätte er mir mit Sicherheit ein blaues Auge geschlagen. Ich bin mir nicht sicher, wahrscheinlich hätte er mir sogar zwei derselben Sorte verpasst. „Was will der Leichenficker von Ihnen?“, fragte er mich ziemlich grob und auch unangemessen laut. „Wäs eisch neet“, sagte ich, bewusst in einem breiten saarländischen Dialekt. Herr Direktor erhob die Stimme und war doch sehr erbost. „Wie sprechen Sie mit mir?“, polterte er los. „Ich bin, ich bin, ich bin“, sagte er, sich dreimal wiederholend. „Der liebe Gott, der liebe Gott, der liebe Gott“, wiederholte ich nun ebenfalls dreimal.

Der liebe Gott mit dem Sprung in der Schüssel war beleidigt und gekränkt, und das sagte er mir auch. Der Klügere gibt nach, so heißt es zwar in einem bekannten Sprichwort, aber der angeblich Klügere ist dann auch der Dumme. Ich machte dem komischen Gott im weißen Kittel nun plausibel, dass ich an einer unbedingt behandlungsbedürftigen Wortfindungsstörung litt, „sehr leide, sehr leide, sehr leide, sogar, sogar, sogar, sogar“. Herr Direktor hat es geschluckt und entschuldigte sich seinerseits. Erstaunlich, wie simpel doch manches zu regeln ist!

Mein Gesprächspartner, Herr Doktor mit dem weichen Denkorgan, war trotzdem unnachsichtig und wollte mich regelrecht ausquetschen. Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts, und dabei blieb ich. Er versuchte es mit allen möglichen psychologischen Tricks, aber wenn man stur seine Linie fährt und von nichts weiß, so ist auch der beste Psychologe mit seinem Latein am Ende. Der Neurologe und Gehirnverbieger kam nicht weiter mit seinem pseudowissenschaftlichen Versuchen, mich zum Reden zu bringen, ich weiß von nichts und Ende. Er war verzweifelt und begann nun auch noch mit merkwürdigen Zuckungen und Verrenkungen, die die Psychologen als Übersprungsverhalten deklarieren. Nach meinem bescheidenen Dafürhalten und geringem Kenntnisstand der Neurologie, der Psychiatrie, und der Nervenheilkunde überhaupt glaubte ich, dass es eher eine zusätzliche Marotte von diesem Herrn Doktor der Medizin gewesen ist. Er hampelte hinter seinem Bürotisch herum, schnitt Grimassen und fletschte dabei fürchterlich die Zähne. Irgendwann glaubte ich allen Ernstes, er beginnt damit, seinen eigenen Schreibtisch aufzufressen. Gott sei Dank – er hat es nicht getan.

Da ich vorgab, von allem nichts zu wissen, gab er irgendwann seinen Versuch auf, von mir irgendetwas zu erfahren. Aber der Chefdoktor und Herr von allen Irren brachte nun seine große Besorgnis zum Ausdruck. Nach seinem Eindruck und wissenschaftlichen Explorationen sei Julian, der Leichenficker, gefährlich, und auch mich müsse er somit als stark gefährdet betrachten. Julian habe doch so viele lebende Frauen geschändet und dasselbe mit unzähligen Leichen getan. So viel Schlimmes, so viel Böses und das konzentrierte sich alles auf einen einzigen Menschen. Unfassbar, was es doch alles in der Psychiatrie gibt, in einer Wissenschaft, die gar keine ist. Der Doktor mit dem kranken Gehirn hielt mir noch eine Stunde lang Vorträge über Nekrophilie und andere Sexualpräferenzen. Nun konnte man zu diesem, vielleicht verworrenen Geist stehen, wie man wollte, trotz allem hatte er ein erstaunlich breit gestreutes und fundamentiertes Fachwissen. Die Nekrophilie schien, meinem Eindruck nach, ein besonderes Steckenpferd von ihm zu sein. Darüber referierte er nun eine ganze Stunde lang, ausgiebig und erschöpfend, ungemein spannend, dieser Fachvortrag. Eine kostenlose Fachvorlesung für mich ganz alleine! Langweilig war die Vortragsstunde nicht, erstaunlich, was ich in einer einzigen Stunde über dieses Thema nun gelernt hatte. Ich war überzeugt, solch einen umfassenden und wissenschaftlich fundamentierten Vortrag über Nekrophilie im Besonderen und über all die sexuellen Irrungen und Verwirrungen würde ich nie wieder hören. Ich sollte mit meiner Vermutung Recht behalten. Einen ähnlich guten, ja hervorragenden Vortrag habe ich nie wieder gehört, der Mann war einsame Spitze.

Zu meinem Erstaunen sagte der Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und sonstigem Irrsinn zu mir: „Ach wissen Sie, ich persönlich sehe die Sache mit der Nekrophilie etwas anders als meine Fachkollegen. Denn gerade sexuelle Handlungen an Toten sind tatsächlich keine Marotte der Neuzeit, zu allen Zeiten gab es das, wenn diese denn überhaupt einen pathologischen Wert haben. Den Ägyptern wurde bereits nachgesagt, dass sie die Einbalsamierung von Leichen möglichst lange herausgezögert haben – warum wohl? Damit die großen und die kleinen Schweinchen sich noch möglichst lange mit den Leichen sexuell vergnügen konnten. Man stelle sich vor, eine junge und schöne Prinzessin vögeln zu können, welche eine Gelegenheit! Und die ließ sich der Einbalsamierer nicht nehmen. Damals sicherlich ein lebensgefährliches Unterfangen … Heute steht die Leichenschändung unter strafrechtlicher Verfolgung und wird recht schwer geahndet, wenn sie denn entdeckt wird, was jedoch so gut wie nie geschieht. Ich weiß auch aus ziemlich sicheren Quellen, dass Marylin Monroe, über die der halbe Kennedyclan gerutscht ist, nach ihrem Suizid von einigen anderen auch noch gevögelt wurde. Man stelle sich einmal vor, solch eine Sexgöttin körperlich unversehrt in die Finger zu bekommen! Es ist auch kein Geheimnis unter Fachleuten, dass besonders in den einschlägigen Branchen, zum Beispiel bei und in den Beerdigungsinstituten oder Friedhofsangestellten, sich die Nekrophilen ungewöhnlich häufig tummeln. In den Krankenhäusern sollen Ärzte und Krankenpfleger nicht gerade selten sich mit jungen Leichen vergnügen und ihren morbiden Praktiken und Vorlieben nachgehen. Manch ein Männerarsch heißt dann Maria und die Homosexuellen dieser Branche können ihre krankhaften Neigungen und Praktiken ausleben. Es bleibt selten bei dem Betatschen der Leiche und ihrer Geschlechtsteile. Nein, die Leichen werden dann nach allen Regeln der Kunst geschändet. Tatsächlich, ausschließlich Männern wird diese Nekrophilie-Neigung nachgesagt – welch eine eklatante Fehleinschätzung! In all den Jahren meiner Tätigkeit auf dem sexuellen Spezialgebiet habe ich immer wieder feststellen müssen, dass auch Frauen nekrophilen Handlungen nicht abgeneigt sind, sie vergnügen sich genau so gerne mit Leichen wie das männliche Geschlecht. Wahrlich, sie sind nicht moralisch besser, sondern nur viel vorsichtiger als die Männer, ich glaube, die Damen sind auch noch klüger als die Herren. Durch ihr sehr umsichtiges Handeln werden sie praktisch nie entdeckt. Mir ist nicht ein Fall bekannt, den ich hier behandeln musste oder wo sich irgendein Gericht damit befassen konnte, nichts bekannt, auch nichts in der Fachliteratur. Und trotzdem haben mir viele Patientinnen auf gezielte Nachfrage berichtet, nekrophile Gelüste zu verspüren und diese auch gelegentlich auszuleben. Sobald sich eine Gelegenheit dazu bietet, dann tun sie es. Wie sie im Einzelnen vorgehen, habe ich nicht hinterfragt. Die psychopathologische Bewertung habe ich in den Krankenakten nie erwähnt, weil ich sie nie für so relevant gehalten habe. In gewisser Weise neige ich auch zu der Annahme: Solange niemand Lebendes geschädigt wird und es bei der Schändung einer Leiche bleibt, sollte dies eigentlich toleranter gewertet werden, das hat man ja in früheren Jahrhunderten auch getan. Sicherlich, ich möchte nicht, dass meiner Frau oder Tochter zu perversen sexuellen Spielchen benutzt werden, wenn sie auf irgendeiner Art und Weise zu Tode kommen sollten. Nein, das möchte ich nun wirklich nicht. Sollte mich eine schöne Frau vergewaltigen, es sollte mir recht sein, selbst wenn ich tot bin.

Woher diese Prägung stammt, wird immer wieder kontrovers diskutiert und durch verschiedenste Theorien zu erklären versucht. Erich Fromm und auch Siegmund Freund hatten so ihre Vermutungen und auch einige Ansätze dazu. Um ehrlich zu sein, die Wissenschaft weiß nichts, rein gar nichts. Sie tappt völlig im Dunkeln. Immer wieder wird behauptet, die Nekrophilen seien geistig retardiert, stimmt alles nicht, reiner Unfug. Unter den wenigen Patienten, die mir bisher unter die Finger gekommen sind, war nicht ein Einziger, der unterdurchschnittlich intelligent gewesen war. Meistens lag deren Intelligenzkoeffizient sehr weit über dem Durchschnitt der Gesamtbevölkerung. Dies ist auch der Grund, warum diese Leute so selten entdeckt werden, ausschließlich auf Grund ihrer Intelligenz! Allgemein geht man davon aus, Nekrophilie sei ein sehr seltenes Phänomen, auch hier liegt die Wissenschaft völlig daneben, wie halt so oft. Ich würde sagen, soweit meine eigenen Feststellungen, die Leute sind sehr intelligent. Die Menschen sind so angepasst und leben völlig unauffällig unter uns. Wird einmal ein Herr Direktor oder ein Lehrer bei seiner speziellen Tätigkeit ertappt, wundert sich alle Welt darüber. Unzweifelhaft herrscht große Freude unter der Belegschaft, wenn der ungeliebte Herr Direktor Joseph Müller einmal beim Leichenficken erwischt wird. Da kommt bei der Belegschaft wahre Freude auf. Auch ein freudiger Anlass für die Schüler ist es, wenn ihr verhasster Lehrer beim Leichenbumsen aufgefallen ist, dann ist die Freude übergroß.

Auffallend viele, nicht nur katholische, Priester frönen diesen seltsamen Hobbys. Vermutlich hat das seine Wurzeln darin, dass diese Leute zölibatär leben müssen und es doch nicht tun wollen, nicht können. Es ist kein seltenes Phänomen. Die Täter sind nur sehr schlau und agieren entsprechend klug und umsichtig.“

Hier legte der ärztliche Direktor eine Kunstpause von circa einer Minute ein. Er atmete tief durch und seufzte dann aus tiefster Seele. Dann sagte er zu mir: „Sehen Sie sich den Herrn M., den Leichenficker, an. Unglaublich intelligent. Mehrere akademische Abschlüsse und ein begnadeter, ja genialer Maler, einfach nur ein Phänomen. Der Leichenficker malt alles und jedes. Von den frühen Werken der Renaissance bis hin zu den alten holländischen Meistern, phänomenal, sein Können. Auch Albrecht Dürer sowie Picasso und Dali, alles hat er in seinem Repertoire. Die gegenständliche und moderne Kunst beherrscht er genau so perfekt, es ist schon beängstigend, was dieser Mann so alles kann und genial beherrscht, trotzdem unglaublich faszinierend. Ach Gott, nicht nur die Malerei beherrscht er, er hat auch ein sehr umfassendes Allgemeinwissen, über alles und jedes weiß er Bescheid, fast erschreckend, diese Klugheit. Trotzdem sitzt er hier und nach den Regeln unserer Rechtsprechung und dem Willen derselben Richter, die schon zu Zeiten unseres geliebten Führers ihr Unwesen im Saarland trieben, wird Julian diese Mauern nie wieder verlassen. Welch ein Verlust für die Menschheit, die Wissenschaft und im Besonderen für die Kunst. Eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, eine Katastrophe!“

Verzeihen Sie mir diesen kurzen Schwenk, nun wieder zurück zur Nekrophilie. Schauen wir uns einmal das kleine Saarland an und reduzieren unsere Betrachtungen sogar nur auf den Kreis Merzig-Wadern, so ist bereits dort Erstaunliches festzustellen. Betrachtet man die Geschichte verschiedener Dörfer, die zwischen Beckingen, Losheim und Wadern liegen, zu verschiedenen Jahrhunderten, so kann man sich nicht nur wundern, vielmehr, es kommt einem das kalte Grauen.

Im Wadern kam es vielfach zu Hexenprozessen gegen Frauen und Männer und zu deren anschließenden Verbrennung, dieser armen, unschuldigen, meist jedoch Frauen. Akten und Urkunden zu diesen Geschehnissen sind heute noch einsehbar! In anderen Gegenden wurden fleißig die Dorfbewohner aufgehängt. Da die Lebenserwartung, im Besonderen die der ländlichen Bevölkerung, im krassen Gegensatz zum Adel und den Klerikern und auch den Nonnen, nur wenig höher als 30 Jahre war, war das Leben des niederen Volkes nichts wert. Besonders das einfache Volk baumelte schon beim kleinsten Vergehen am Galgen. Viele junge Frauen wurden nur aus dem Grunde aufgehängt, weil sie den Adeligen und Klerikern sexuell nicht zu Willen waren, dass reichte völlig aus um sie aufknüpfen zu lassen.

Das Leben war damals recht eintönig, nur wenige Höhepunkte im Jahr lösten diese Monotonie ab. Damals wurde grundsätzlich jedes Urteil öffentlich vollstreckt. Vom Pranger bis zum Verbrennen, vom Aufhängen bis zu verschiedenen anderen Hinrichtungsarten vollzog sich alles öffentlich, angeblich zur Abschreckung. So war die Justiz damals, und das, was sich daraus entwickelt hat, kann man heute noch sehen. Liest man sich heute verschiedene Urteile dieser Richterinnen und Richter durch, so glaubt man, die Entwicklung des Rechts steht noch mit beiden Beinen im Mittelalter. Richter und Staatsanwälte wenden heute mehr Zeit auf, um zu begründen, warum etwas nicht geht, als umgekehrt und warum sie Anträge ablehnen. Man könnte auch vermuten, besonders die männlichen Richter und Staatsanwälte reagieren auf Arbeit allergisch, wer weiß das schon als Nicht-Jurist und Laie? Jeder, der mit ihnen zu tun hat, der weiß es!

Abschrecken sollte eine Hinrichtung, aber in Wirklichkeit waren diese jedes Mal ein Volksfest. Hätten wir noch die Todesstrafe und würde diese auch noch öffentlich vollzogen, würden diese Ereignisse jedes Oktoberfest in München bei weitem in den Schatten stellen. Dann würden sich nicht nur die Menschen gegenseitig zu Tode trampeln, und das würde bei jeder öffentlichen Hinrichtung geschehen. Damals waren die Menschen so und heute sind sie kein bisschen besser, von Zivilisation keine Spur. Wurde damals jemand zum Galgen geführt, so johlte die Menge und bewarf den Delinquenten mit allem, was nur halbwegs flog. Beschimpfungen bis hin zu obszönen Gesten und entsprechenden Worten waren selbstverständlich und allgegenwärtig. Frauen wurden zwar etwas weniger häufig hingerichtet, aber auch sie ereilte dies Schicksal.

Gerade in den USA wurden und werden selbst Frauen zahlreich hingerichtet. Damals wie heute sind es aber überwiegend schwarze Frauen, welch grandioser Rechtsstaat! Wir brauchen aber nicht mit dem Finger über den Atlantik zu weisen, auch unsere Geschichte ist in dieser Richtung ungewöhnlich frauenfeindlich und mehr als beschämend. Dies geschah in ganz Europa und nicht nur in Deutschland, da waren wir keine Ausnahme.

Wurden Frauen öffentlich hingerichtet, so war das Interesse besonders groß und der Andrang aus nah und fern riesig. Die armen Opfer der himmelschreienden Ungerechtigkeiten wurden auf dem Weg zur Hinrichtungsstätte bespuckt, beschimpft, geschlagen und, da es ja Frauen waren, an den geschlechtsspezifischen Körperteilen traktiert. So waren unsere Vorfahren? Nur sie? Nein, es wäre ein Irrtum anzunehmen, dass wir heute zivilisierter sind. Nein, keinen Deut besser, wir haben nichts dazugelernt, wir sind so geblieben, wie wir es bereits in der Steinzeit waren, nichts hat sich geändert.

Während die verurteilten Frauen unter dem Galgen standen, wurden die primitivsten und obszönsten Gesten vor ihren Augen vollführt. Einige Männer onanierten unter den Augen der Frau, und dies war oft nur die Spitze an verwerflichen Handlungen und Übergriffen. Wurde die Frau dann endlich gehängt, johlte die Menge wie von Sinnen während des Todeskampfes dieses armen Wesens. War die Frau tot, war die Schau noch lange nicht zu Ende. Diese immer noch geilen Männer, und das ohne Ausnahme, betatschten die weibliche Leiche, und wo wohl?

Nachdem sich die Meute verzogen hatte, blieben in der Regel nur noch die Kinder zurück. Man höre und staune, man kann es auch nachlesen. Kinder trieben ihren Schabernack mit der am Galgen baumelnden toten Frau. In die Ohren und Nasenlöcher stopften sie Hölzer oder sonst irgendwelche Gegenstände. In den Mund, wenn es durch das Hängen noch möglich war, irgendein längliches Gemüse. Im Nachgang wurde von der christlichen, gut erzogenen Dorfjugend der Frau eine dicke Mohrrübe in den After gerammt und, wie sollte es auch anders sein, eine dicke Gurke in die Vagina.

In Bella Italia und im Kirchenstaat sollen die Auswüchse noch viel krasser gewesen sein. Diese Handlungen wurden mit Vorliebe von jungen italienischen Männern, und nicht nur von diesen, vorgenommen. Als diese Auswüchse überhandnahmen, wurden in Italien und auch im Saarland Wachen aufgestellt. Jedoch sobald die Dunkelheit hereinbrach, gingen die Wachen nachhause. War es dunkle Nacht, so kamen die Männer aus den umgebenden Dörfern zu der Richtstätte, allerdings nicht, um zu beten.

War die Gehenkte eine bis dahin treue Ehefrau und hatte sie ihrem Mann nie Hörner aufgesetzt, so wurde dies in dieser Nacht, gegen ihren Willen, ausgiebig nachgeholt und Sperma floss in Strömen. Manche Leichen wurden direkt vom Henker verkauft und dann gegen Entlohnung zu den vorgenannten Zwecken weitergereicht. Nun sollte man annehmen, dass, nachdem die Hinrichtungen nicht mehr öffentlich stattfanden, dieser Spuk ein Ende gefunden hat, doch dem war nicht so. Nachdem die Frauen in speziellen Räumlichkeiten gehängt wurden und der Tod eingetreten war, entfernten sich die obligatorischen Zeugen, wobei die Bezeichnung Gaffer eher richtig gewesen wäre. Der Pfarrer und je nach der Gegend auch der Herr Pastor waren, nachdem die Zeugen gegangen waren, noch die Einzigen, die verblieben. Die Geistlichen, die der zu Richtenden den letzten Trost gespendet hatten, fickten nun in schöner Regelmäßigkeit die toten Frauen – ein gerne gepflegtes Brauchtum, und das über Jahrhunderte im Saarland.“ Der ärztliche Direktor stöhnte erneut aus tiefster Seele und schlug sich mit den Händen auf die Oberschenkel. „Ja“, sagte er, „die Leichenficker sind unter uns, damals wie heute, selten ist die Nekrophilie eben nicht.“ Dann entließ er mich mit einem Handschlag und wünschte mir alles Gute. Das Gespräch war wohl zu Ende, oder? Nein, noch nicht ganz. Ich bedankte mich noch mit einer tiefen Verbeugung und sagte. „Vielen Dank Herr Doktor, Herr Doktor, Herr Doktor, Herr Doktor.“ „Oh Gott“, sagte der Chefarzt, „das müssen wir aber dringend behandeln, dass das mit ihrer Sprache, mit der Sprache, mit der Sprache.“ Eigenartig berührt verließ ich das Büro des obersten Häuptlings dieser kleinen allzu verrückten Welt. Aber – war die da draußen denn wirklich besser?

Die verstörende Lebensgeschichte des Julian M

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