Читать книгу Die verstörende Lebensgeschichte des Julian M - Günter Scholtes - Страница 8
ОглавлениеJulian und seine Geschichte.
Julian hatte mich schon erwartet, er kannte seine Macht und Sonderstellung in diesem Hause, aber auch die Geldgier des Direktors. Julian war sich dessen bewusst, er saß am längeren Hebel, er wurde gebraucht, nicht umgekehrt.
Er wusste, warum ich hier war, ich wusste es erst recht. Es war Julians Wunsch, sein Leben zu Papier zu bringen und trotzdem fiel es ihm nicht leicht, damit zu beginnen. Ja, wo fängt man an bei solch einer Geschichte, bei solch einer Biografie? Belanglosigkeiten bis hin zu Banalitäten wechselten sich ab in unserem Gespräch, bis Julian klipp und klar sagte: „Schluss, die Zeit wird knapp, in der Du noch hier sein wirst, lasset uns beginnen mit dem Werk!“ Und Julian begann.
Wann sein Erinnerungsvermögen eigentlich einsetzte, daran konnte sich Julian, wie alle Kinder dieser Welt, nicht mehr erinnern. Jedoch von Anfang an war ihm bewusst, dass die anderen Kinder ihn nicht leiden mochten. Er hat es nicht verstanden, da ihm noch die prägenden, einschlägigen Erfahrungen fehlten. Er wollte jedem Freund sein, nur die andern wollten es nicht, nicht mit ihm. Sein Urvertrauen war noch völlig intakt, leider war dies nur von kurzer Dauer, man muss sogar sagen, von sehr kurzer Dauer.
Eines Tages, das hat sich in sein Gehirn eingebrannt, da sagte ein kleines Mädchen zu ihm: „Mein Papa hat gesagt, dich hat der Hitler vergessen zu vergasen, du bist nur gut für in die Seife, so hässlich bist du.“ Das war eine klare Wertschätzung aus berufenem Munde, oder? Kindermund tut Wahrheit kund, und Julian hatte sofort verstanden. Auch wenn er nur wenig von dem Gesagten verstand – der Sinn war ihm sofort sonnenklar.
Sicherlich, Julian war aufgefallen, dass er irgendwie anders aussah als die anderen Kinder. Auch, dass es mit dem Sprechen so gar nicht bei ihm funktionieren wollte. Die Kinder wussten erst nicht, wie sie sich ihm gegenüber verhalten sollten, dann plötzlich doch: Die Erwachsenen hatten es ihnen beigebracht! Kinder lernen schnell, besonders wie man einen anderen erfolgreich verletzen kann. Und das macht auch noch sehr viel Spaß. Julian war ein lohnendes Übungsobjekt, an dem man seine Boshaftigkeit für das spätere Leben trainieren konnte, und sie taten es, alle und ausnahmslos. Dies war nur der Kindergarten zum Vor-Üben, die Schule kam ja erst.
Nun, die Schulzeit kam und mit ihr das eigentliche Martyrium. Julian war wirklich hässlich. Der Oberkiefer stach circa drei Zentimeter und der Unterkiefer circa sieben Zentimeter über das normale Maß aus seinem Gesicht heraus, was ihm bereits das normale Essen stark erschwerte. Damals in den Nachkriegsjahren gab es durchaus bereits Therapiemöglichkeiten. Diese waren jedoch unbezahlbar und somit unerreichbar für ein Arbeiterkind. Abstehende Ohren hätte man damals problemlos korrigieren können. Die Krankenkasse hätte es bezahlt, aber, warum auch immer, bei Julian nicht. Vielleicht lag es nur an seinen Eltern, die sich nicht gekümmert hatten. Da Julians Augen immer nach rechts und links auswanderten, schielte er nach außen und nicht, wie das bei Kindern für gewöhnlich üblich ist, nach innen. Hier war angeblich keine Korrektur möglich. Und erst dieser deformierte Mund … da wollte kein Arzt einen Versuch wagen. Mit diesem Kiefer und diesen Zähnen gab sich erst recht niemand ab. Für Julian eine Katastrophe.
Wer doof aussieht, musste auch doof sein, so jedenfalls die allgemeine Meinung des Lehrpersonals in der Schule, die Julian besuchte. Es gab noch ein zweites Problem, das ein Kind seiner Herkunft oft hat. Kinder mit reichen Eltern waren von Geburt aus intelligent, auch wenn sie dumm waren wie Stroh. Beinahe hätte ich gesagt, wie ein Schwein, aber Schweine sind hoch intelligent und hoch sensibel. Entschuldigung ihr Schweine … Ein Arbeiterkind kann gar nicht intelligent sein, und wenn doch, so haben die Lehrer dies schon zu korrigieren gewusst in diesem kleinen Ort. Was heißt Lehrer, zur damaligen Zeit waren es, von wenigen Ausnahmen einmal abgesehen, allesamt Lehrerinnen, und die waren gnadenlos, da konnte kein Lehrer mithalten. Da die Lehrerinnen zur damaligen Zeit durchweg unverheiratet waren, reagierten sie ihren Frust und ihre sexuelle Unterversorgung und daraus resultierende Unzufriedenheit grundsätzlich an solchen dafür prädestinierten Kindern ab. Künstliche Penisse gab es damals sehr wohl, und Vibratoren gehörten bereits in den USA zu den normalen und alltäglichen Haushaltsgeräten der Frauen, nur nicht in diesem verdammten Dorf, Stammsitz einer weltweit agierenden Fabrik. Es kann auch sein, dass die allwissenden Lehrerinnen eben dies doch nicht wussten.
Besonders eine Lehrerin hatte es auf Julian abgesehen. Ihm war aufgefallen, dass einer seiner Klassenkameraden, klein Emil, der nicht gerade durch Intelligenz glänzte, immer gute Noten bekam. Des Rätsels Lösung: Die Eltern besaßen eine Metzgerei, und das führte zum Tauschhandel, gute Noten gegen ein Wurst- und Fleischpaket, so war das mit der Lehrerin Fräulein Lotte. Mit einem Fresspaket erreichte man nach dem Kriege im hungernden Deutschland alles. Klein Emil war tatsächlich keine Leuchte. Mit dem Lesen haperte und hakte es an allen Ecken und Enden. Selbst drei vernünftige Worte hintereinander zu sprechen war bei ihm ohne Stottern nicht möglich, aber besagtes Fresspaket wirkte wahre Wunder. Die kleine Inge und ihre Schwester Margot wurden mit guten Noten gesegnet, da ihr Vater bei der Post, die damals noch dem Staate gehörte, einen hohen Posten bekleidete. Auch war die Lehrerin eine glühende Anhängerin ihres geliebten Führers Adolf Hitler gewesen, auch wenn der sich schon vor ein paar Jahren selbst am Kopf gelocht und dann gegrillt hatte. Diese braune Zuneigung jedoch war noch vielfältig in der Dorfbevölkerung verbreitet. Erst in der nationalsozialistischen Arbeiterpartei, dann in der CDU, ja, so war das damals. Nun sollten genau diese Lehrkräfte mit dem braunen Hintergrund und der schwarzen Seele den heranwachsenden Kindern das beibringen, was sie für das Leben benötigten. Ja gute Demokraten sollten sie auch noch werden, nein eigentlich nicht. Sie sollten alle in den beiden Fabriken arbeiten, in diesen Fabriken dieser weltberühmten Firma mit den drei Buchstaben.
Natürlich war im Sinne der nationalsozialistischen Rassenlehre und deren Schönheitsideal ein so hässliches Kind wie Julian nicht akzeptabel, selbst Jahre nach dem großen Krieg nicht. Im Klartext: Scheiße, also alles was braun ist, schwimmt immer oben. So auch in diesem Dorf. Julian wurde nicht nur von den Kindern schikaniert, nein – auch die Lehrerinnen taten ihr Bestes und ihr ganzes pädagogisches Können dazu. Man kann mit Fug und Recht behaupten, diese Frauen waren im wahrsten Sinne des Wortes gnadenlos. Erst recht und vor allem Lotte. Diese Lotte litt allzu häufig unter sexuellem Entzug. Aber nein, der Herr Pastor durfte zweimal in der Woche die streng katholische Fräulein Lehrerin, von hinten im Lehrerzimmer bumsen. Etwa 104-mal im Jahr, und das war nach Martin Luthers Lehre für alle Beteiligten schadlos zu ertragen. Einem Mitschüler von Julian, der allen anderen Mitschülern auf dem Gebiet der Sexualität um mindestens fünf Jahre voraus war, ist dies sofort aufgefallen. Warum? Nun, der Lehrerin Lotte ist nach dem Besuch des Pastors meist eine transparente Flüssigkeit die Innenseite der Beine heruntergelaufen, der Beweis für Julian und seinen Mitschüler. Im Winter lief zwar kein Sperma an den besagten Stellen herab, aber im Sommer, da trug Frau Lehrerin keine Unterhose, die den Rückfluss aus der Vagina aufgefangen hätte. Natürlich, der junge, gut aussehende Kaplan, durfte den Herrn Pastor hin und wieder bei Lotte vertreten, er sollte ja in seine Fußstapfen treten, in jeder Beziehung. Eben – Moral ist halt die Dummheit der anderen! Auf diesem Gebiet war diese Frau Lehrerin wirklich nicht dumm und die sexuelle Versorgung ausreichend gewährleistet, eben weil doppelt genäht besser hält.
Frau Lotte und deren Freundin im Lehrerkollegium, die sogar den gleichen berühmten Namen wie der Chef der nationalsozialistischen Spionageabwehr trug, sorgten schon frühzeitig für die nötige Selektion der zukünftigen Arbeitssklaven. Das heißt, Arbeiterkinder bleiben in der Volksschule, ungeachtet ihrer Intelligenz, diese wurden ja die zukünftigen Fabriksklaven und wurden dort gebraucht. Der mit dem Wurstpaket und die Kinder mit den entsprechenden Eltern, bis hin zu der Tochter des Apothekers, waren selbstverständlich für das Gymnasium geeignet, egal, wie doof sie waren. So ganz hat das post-nationalsozialistische Ausleseverfahren dann doch nicht weit über den Tod von Adolf hinaus gewirkt. Der dumme Emil mit dem Fresspaket war nach kurzer Zeit wieder vom Gymnasium zurück, direkt an seinem früheren Platz. Pech für den Emil, aber er war unbeirrbar in dem Glauben, dass er der Größte sei und zu Höherem geboren. War er nicht, und doof bleibt doof, dabei blieb es.
Ein Sprichwort sagt auch: „Einen Einstein kann man nicht verhindern.“ Julian war kein Einstein, könnte aber vielleicht mit der entsprechenden Förderung noch einer werden! Julian konnte bei der Einschulung bereits lesen und schreiben, was natürlich den Unmut der Lehrerschaft erregte. Er las schon Bücher, und das, bevor er in die Schule ging, wieder zum großen Ärger der Lehrerin, Fräulein Lotte, wo er doch nur ein Arbeiterkind war und noch dazu so hässlich. Multiplizieren oder addieren oder sonst eigentlich Unmögliches konnte er ebenfalls schon. Das mit der Mathematik, mit diesem hässlichen Julian war ein immerwährendes Ärgernis für alle Lehrkräfte. Wer so aussah wie er, der konnte nicht intelligent sein, er durfte es einfach nicht sein. Wie ärgerlich, kaum stand eine Aufgabe an der Tafel, hatte sie Julian schon im Kopf gelöst, einfach so. Völlig unmöglich für einen Erstklässler, der bereits sechsstellige Zahlenkolonnen bewältigte. Vielleicht hätte man Julian in der Toilette ersäufen und entsorgen können. Oder in dem großen Kohleofen, der in der Mitte des großen Klassenraumes stand, in dem alle acht Klassen gleichzeitig unterrichtet wurden. Bei allen Bemühungen und Schikanen, Julian war mit Abstand der Intelligenteste an der ganzen Schule und allen voraus. Daher langweilte er sich fürchterlich während des Unterrichts. Was die Lehrerin wusste, wusste dieser „Drecksack“ auch. Julian las keine Märchenbücher, sondern Mathematik, und zwar das ganze Repertoire dieser Wissenschaft. Seltsam beängstigend für so einen kleinen Jungen. Kunst und Geschichte und im Besonderen die Malerei interessierten ihn überproportional, ja, sie zogen ihn fast magisch an. Geographie und Physik und alles andere waren hoch spannend, nur in der Schule war es stinklangweilig. Die deutsche Sprache langweilte ihn schon deshalb, weil er sie ja längst beherrschte, wobei die Rechtschreibung ausnahmsweise nicht ganz zu seinen Stärken zählte. Ein Diktat geriet immer zum Schlachtfeld, wenn die Lehrerin blutrot die Fehler markierte, dies war seine einzige Schwachstelle. Ja, solch ein Diktat war dann ein Hochgenuss für Lotte und Frau Lehrerin Canaris, die Freundin von Lotte. Alle Klassen und alle Schülerinnen und Schüler durften das rote Schlachtfeld im Schulheft von Julian betrachten, was zu ungestraftem Gelächter und Spott führte.
Durch die Nähe der englischen Sprache zur deutschen bereitete ihm auch Englisch keine Schwierigkeiten, er erlernte es auch ohne jegliche Hilfe eines Lehrers. Seltsamerweise lagen ihm alle Fremdsprachen, wobei er sich besonders zu den romanischen Sprachen hingezogen fühlte. Oft typisch ist für solche Menschen, dass sie mit der deutschen Rechtschreibung nicht zurande kommen. Tatsächlich, auch Latein hat er sich selber beigebracht! Eine Kiste mit einem Sprachkurs in Latein und Französisch hatte er in einem zerbombten Haus gefunden, in dem vorher eine begüterte jüdische Familie gewohnt hatte. In der Kiste befanden sich 20 Schallplatten von 1928 nebst dazugehörigen Büchern. Ein altes mechanisches Grammophon zum Aufziehen mit einer großen Kurbel hatte ihm ein älterer Herr geschenkt, dessen Ziege Julian ab und zu hütete. Somit stand dem Lernen dieser Sprachen nichts im Wege. Den alten Phonographen, wie das Ding auch genannt wurde, mit der lustigen Kurbel aufgezogen, und schon konnte der autodidaktische Fremdsprachenkurs beginnen.
Zur damaligen Zeit wurde die Messe in der Kirche nur in Latein gelesen, wobei der Pastor mit dem Rücken zur Gemeinde stand. Lästermäuler in dem Dorf haben immer behauptet: „Das macht der extra, damit man nicht sieht, was er frisst und säuft.“ Die Ministranten mussten die Kirchengebete in dieser alten, toten Sprache lernen. Trotz seiner guten Lateinkenntnisse wollte der „Herr“, so wurde der Pastor im Saarland, bevorzugt in ländlichen Gegenden, genannt, Julian nicht sehen. Der Herr Pastor, der auch Fräulein Lotte vaginal versorgte, wollte Julian absolut nicht in seiner Kirche haben und schon gar nicht vorne am Altar. „Mit deiner Fresse kommst du Sau mir nicht in die Nähe“, so die einleuchtende Begründung dieses besonderen Menschenfreundes.
„Die Sau mit der schlimmen Fresse“ hatte schon längst bemerkt, dass das Latein des Herrn Pastor nicht das Beste war, sondern eher grauenhaft. Julian sann auf Rache und die kam gleich mehrfach. Ab und an kam der Weihbischof von Trier in dieses abscheuliche Dorf, eben dann, wenn der Dorfheilige verehrt und in seiner goldenen Blechdose durch das Dorf geschleppt wurde, oder das, was noch übrig war von ihm. Da der Bischof und der Pastor ja gebildete Leute waren, so unterhielten sich die beiden hoch eingebildeten Kleriker, natürlich, vielleicht auch unnatürlich, in dieser uralten Sprache, die bereits die Römer verwendeten. Besonders dann, wenn viel Publikum um sie herum waren und ihnen voller Ehrfurcht lauschte. Der nun schon etwas ältere Julian hat dann die beiden Herren, die nie feine Herren waren, in aller Öffentlichkeit korrigiert, was allgemeines Entsetzen hervorrief. Unvorstellbar, Julian hat unserem „Häär“ (Herrn) und dem Bischof aus Trier ihr Katastrophen-Latein und dazu noch in aller Öffentlichkeit bei einer großen Festlichkeit mit viel Prominenz unter die Nase gerieben. Eine Todsünde, die normalerweise mit dem Scheiterhaufen bestraft werden musste! Julian hat es getan und das jedes Jahr hintereinander. Viermal an der Zahl, dann ist der Bischof nie wieder bekommen. Jeder wusste warum, Julian war wieder einmal schuld. Nun hatte Julian viele, viele Feinde Wirklich? Eindeutig ja, aber auch viele Bewunderer, sehr viele!
Was die Alten den Kindern vorlebten, äfften diese besonders gerne nach. Seine Klassenkameraden, die im Allgemeinen keine Spur von Kameradschaft aufwiesen, schnitten ihn gerne, aber wenn sie wieder einmal zu blöde waren, um das Einfachste zu begreifen, dann musste Julian herhalten. Die Rechenaufgaben korrigieren, bei den Hausaufgaben helfen, ja, dann war er gefragt, aber nur dann. Trotz seiner unübersehbaren Intelligenz hielt man ihn tunlichst von einem Gymnasium oder weiterführenden Schulen fern. Arbeiterkinder? Dieser Proll? Nein, die gehören nicht auf ein Gymnasium, Punkt, Schluss, aus! Auch die so genannte Oberschicht blockierte damals grundsätzlich solche aufstrebenden Talente, man wollte, damals wie heute, unter sich bleiben. Julian wurde schnell klar, dass sein Gesicht die hauptsächliche Ursache und Barriere für all dies war.
Zwischen dem 13. und 14. Lebensjahr begann sich Julian, wie alle seine Klassenkameraden, für das andere Geschlecht zu interessieren. Nun. nicht unbedingt alle, auch ein paar warme Brüder waren unter seinen Kameraden, die Julian nicht zu seinen Kameraden zählen konnte. Damals war die Homosexualität strafbar und wurden nach dem Paragraphen 175 StGB mit Freiheitsentzug geahndet, eine wahrhaft heikle Geschichte für die Betroffenen. Als Julian das 15. Lebensjahr erreicht hatte, war er der Einzige, der noch keine Freundin hatte. Der bereits erwähnte Klassenkamerad, der in sexuellen Dingen den anderen um Jahre voraus war, hatte schon die eine oder andere Klassenkameradin vernascht. Eine davon hatte er sogar geschwängert und das in seinem jugendlichen Alter. Seine christlichen Eltern sorgten dann für den kriminellen Abort und der Pastor für die Absolution. Es zeigte sich bei diesem Typen eine ausgesprochen unangenehme, kriminelle Veranlagung und die dazugehörige kriminelle Energie. Trotzdem wurde gerade er von der zuvor genannten Lehrerin gehätschelt und gefördert. Nach seinem kriminellen Start in das Berufsleben legte dieses „Wunderkind“ eine tolle Karriere hin, er wurde Fabrikarbeiter und das bis zur Rente. Lange konnte er diese allerdings nicht genießen, dann hat ihn der Teufel geholt. Trauer um den Klassenkameraden? Mitnichten, schon gar nicht von Julian. So kann man sich irren, liebes Fräulein Lotte. Ach ja, auch die liebe Lotte rostet schon seit etlichen Jahren auf dem Friedhof dieses Ortes. Obwohl sie mit dem Herrn Pastor und dem Herrn Kaplan über Jahre hinweg gevögelt hatte: Heilig ist sie nicht gesprochen worden.
Nun, wie gesagt, Julian war der Einzige, der noch solo umherlief. So vergingen die Jahre. Aus Julian war ein introvertierter Mensch geworden. Beim Betrachten seines Ebenbildes sagte ihm der Spiegel sehr deutlich: „Mit dieser Visage wirst du nie etwas, du musst etwas für dich tun.“ Daraus resultierend kam er zu dem Entschluss, das Gesicht muss geändert werden, koste es, was es wolle, oder wie auch immer der Weg dorthin ist, es muss! Sehr früh war er bereits zu der Erkenntnis gelangt, Geld ist der Schlüssel zur gehobenen Welt, eigentlich zu allem. Informationen, die sich Julian über die plastische Chirurgie besorgte, zeigten ihm bereits damals, dass es durchaus gute Möglichkeiten gab, sein Aussehen ins Positive zu verändern. An verschiedenen Universitäten gab es wahre Kapazitäten, die ihr Handwerk meisterlich beherrschten. Sie hatten bei den Nazis reichlich Gelegenheit gehabt, ihre Kunst an KZ-Insassen zu erlernen und zu vervollkommnen. Einige dieser Könner waren begehrte Kapazitäten, als sich herauskristallisierte, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen war. Manche der Herren Nazis ließen sich ihr Gesicht umbauen und eine neue Identität verpassen, schon waren sie unauffindbar, und dass erst recht in Südamerika.
Allerdings war der Preis, den diese Herren für ihr Können verlangten, gigantisch, unvorstellbar für ein Arbeiterkind. Julian machte sich die Erkenntnis sehr schnell zu Eigen: Was du dir in der Jugend erarbeitest, kannst du im Alter ernten. Ihm dämmerte auch, was man in der Jugend versäumt, kann man im Alter nie mehr aufholen und folgerichtig auch nicht mehr ernten. Julian verlangte vom Leben nichts Besonderes, nur ein normales Aussehen und ein bisschen Glück. Auch wusste er, Glück muss man sich erarbeiten, es fällt einem nicht in den Schoß. Julian dachte, jeder ist seines Glückes Schmied und nach diesem Prinzip handelte er konsequent. Da ihm in seiner Kindheit der Besuch eines Gymnasiums und damit das Abitur verwehrt wurde, gab es nun in seinem 17. Lebensjahr eine Möglichkeit, das Versäumte nachzuholen. Abendgymnasium hieß das Zauberwort und diese neue Möglichkeit. Vier Jahre Abendgymnasium, eine lange Zeit, aber nicht für Julian. Trotz seines abstoßenden Gesichtes war sein jetziger Lehrer sein begeisterter Förderer und Freund dieses ungewöhnlich intelligenten Jungen. Wozu ein normaler Mensch in solch einer Einrichtung vier Jahre braucht, schaffte Julian in einem Jahr. Das Abiturzeugnis glänzte mit der Bestnote.
Trotz dieses hervorragenden Abiturs verwehrte man ihm immer wieder den Zugang zu einer Hochschulausbildung. Erst mithilfe eines Rechtsanwaltes und Rechtstreites konnte dieses Problem beseitigt werden, so war das damals, und nicht gerade selten heute auch noch. Seit seinem Studium, und das gleich in mehreren Fachrichtungen, wohnte er längst nicht mehr in seinem alten Heimatort, aber noch im Saarland.
Natürlich, Julian hatte sexuelle Bedürfnisse, aber kein Sexualleben. Unzählige zaghafte Versuche scheiterten bereits nach der Volksschule und in den folgenden Jahren erst recht. Bereits im Ansatz blockierte jedes weibliche Wesen seine Annäherungsversuche. Da gerade Frauen in dieser Hinsicht nicht zu dem sanften Geschlecht gehören, wurden seine Annäherungsversuche in einer Weise und Wortwahl abgewehrt, dass es sich verbietet, sie hier, oder überhaupt, zu Papier zu bringen. Selbst die Frauen, die man beim besten Willen nicht zum schönen Geschlecht zählen konnte, waren nicht minder zurückweisend, wobei ordinär den Nagel eher auf den Kopf treffen würde. Trotz seines abstoßenden Äußeren stellte er analytisch korrekt fest. Frauen, das schöne Geschlecht? Nur auf eine verschwindend kleine Minderheit trifft dies zu, auf den Rest unzweifelhaft nicht. Bei korrekter Betrachtung gehört der Mann auch nicht zum starken Geschlecht, und auch von Schönheit kann nur bei den wenigsten gesprochen werden. Im Gegensatz zu den Frauen behaupten aber Männer nie, sie würden zu dem besagten Geschlecht gehören, schon gar nicht zu dem schönen!
In Saarbrücken, bei den Prostituierten auf dem Sankt Johanner Markt, da hat Julian mehr Glück, aber auch nur bei der untersten Klasse, den Paria dieser Branche. Bei alten und abgetakelten Damen, da kam er zum Zug, auch hier wiederum nur mit immerwährenden Einschränkungen. Nur von hinten, damit die Nutten ihm nicht ins Gesicht sehen mussten. Eine wahrlich deprimierende Erfahrung. Mit dem Gesicht war er ein Nichts, nur ein Monster – und kein Mensch.
Ein alter Penner hat ihn getröstet mit den Worten: „Junger Mann, von hinten ist die beste Nummer, es ist eine heilige Nummer. Man hat ja das Kreuz vor sich, dazu braucht man nicht freundlich zu sein und kann noch Fratzen schneiden. Ist diese Nummer nicht herrlich?