Читать книгу Die letzte Fähre ging um fünf - Günter Wendt - Страница 4

Hotel Der Tag des Unwetters 10:00 Uhr

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Der erste Morgen im Deichvogt begrüßte Kollerup mit einem sonnigen und Hitze versprechenden Tag. Sein Zimmer lag Richtung Westen und er war froh, dass er nicht das Zimmer gegenüber genommen hatte. Da knallt jetzt voll die Sonne rein, dachte er und wünschte dem dortigen Bewohner alles Gute. Andere hatten es noch schlechter getroffen. Die südlich gelegenen Zimmer waren sicher unerträglich. Aber dank der Klimaanlage ließ es sich vielleicht dennoch aushalten. Mit einem Seufzer stand er auf und hätte sich beinahe seinen Kopf an einem der Dachbalken gestoßen. Rustikales Zimmer. Modern und luftig gebaut, aber rustikal. Er öffnete das Fenster in der Gaube und sog die frische Nordseeluft ein. Er machte eine angedeutete Kniebeuge und steckte sich die erste Zigarette des Tages zwischen die Lippen. Ließ es aber dabei bewenden. Wer weiß, was die sich alles hier ausgedacht hatten. Vermutlich gibt es hier versteckte Sprinkleranlagen mit eingebauter Kamera und die Tür wird vom Chef persönlich mit der Axt eingeschlagen, um das vermeintliche Brandopfer zu retten. Er beugte sich aus dem Fenster und rauchte hastig.

Es schien ein schöner Sommertag zu werden. Sein Zimmer lag in Richtung Westen und er hatte nur den stahlblauen Himmel und das spiegelglatte Wasser vor sich. Eine leichte Brise, kaum zu spüren, trieb träge den Geruch von Salz, Sommerblumen und Gras zu ihm. Fast schämte er sich, diese Luft mit Tabakrauch zu entweihen. Es war so still, dass er das Wummern der Maschine eines Küstenmotorschiffs spüren konnte, das zu einem Ziel irgendwo an der Nordseeküste unterwegs war.

Mit der Kippe in der Hand hoffte er, dass das Reetdach schwer entflammbar war. An der Dachrinne unter dem Fenster drückte er die Glut aus und schnippte den Rest fort. Wo sie landete, konnte er nicht sehen, weil die Flugbahn unterhalb der Dachkante endete. Vermutlich in einem der Blumenbeete, die rund um den Haubarg angelegt waren. Ihm war es egal.

Nach zehn Minuten in der exklusiven Schnick-Schnack-Dusche hatte er endlich herausgefunden, wie er nass werden konnte. Aha, hier drücken, da ziehen und dann ... nein. Also dort ziehen und dort drehen ... eiskaltes Wasser ließ ihn nach Luft schnappen. Aber nicht von oben, sondern aus der Wand! Hey! Die Dusche ist kaputt! Er schlug auf einen roten Knopf und seine Beine wurden von einem knallharten heißen Strahl massiert.

Völlig erschöpft, mit Restseife in den Haaren, hatte er sich nach einer halben Stunde notdürftig duschtechnisch gereinigt. Während an der Decke ein Ventilator sich Mühe gab, die feuchte Luft abzusaugen, tastete er im Nebel nach seinem Handtuch. Er erwischte erst einen Waschlappen, dann ein kleines Handtuch. Der Spiegel war sehr groß, aber so stark beschlagen, dass man nichts in ihm erkennen konnte. Vergeblich versuchte er, ihn mit einem Handtuch soweit trocken zu reiben, dass er sich halbwegs sehen konnte.

Exakt nach 90 Minuten stand ein frischer Kollerup vor dem Frühstücksbuffet.

Es tummelten sich nur wenige Gäste in dem nach außen offenen Restaurantbereich. Draußen auf der Veranda standen mehrere Tische, an denen bereits Gäste saßen. Er hasste diesen „Used Look“, der sich in vielen Hotels an der Westküste wie ein Virus verbreitete. Hellgrau-weiße Möbel, mehrmals abgeschliffen und mehrmals halbherzig gestrichen. Sah aus wie das Ergebnis einer scheinbaren jahrzehntelangen Benutzung. Oder war es eher „Country House Style“? „Shabby“ war es sicher, entschied er. Wie diese abgerissenen Jeans, die man für viel Geld kaufen konnte. Er sah sich an, was dieser Kasten zu bieten hatte. Alles, was man nicht braucht. Sogar die unsäglichen Sausages gab es, und natürlich Bacon! Wer isst morgens verbrannten Schinken? Er schüttelte sich innerlich, als er sah, wie ein Gast sich Rührei auf den Teller schaufelte. Einen Berg Rührei. Morgen geht die Welt unter oder Schlimmeres. Darum heute noch mal richtig reingehauen!

So saß Kollerup dann mit vier anständigen Brötchen und Marmelade an einem Tisch. Genau abgemessene Butter, die für acht Hälften ausreichend war, und eine Kanne Kaffee waren strategisch vor ihm verteilt. Zur Feier des Morgens hatte er zwei Scheiben Käse noch dazugelegt. Mit Marmelade ein Gedicht! Genüsslich schlürfte er den Kaffee.

Scheiße! Darauf hätte man ihn vorbereiten können! Der übliche „Einen-Aufs-Maul-Guten-Morgen-Kaffee“. Härteste Dröhnung, nachträglich mit dem Schweißbrenner geröstet. Er hob eine Hand und orderte „anständigen Filterkaffee und nicht dieses Teerzeugs“.

Nach dem Frühstück schlenderte er durch das Hotel. An der Bar des Hotels vorbei, die sinnigerweise Hafenbar hieß, zum Fitnessraum, den er links liegenließ. Ein klitzekleiner Andenkenladen, eher ein Verschlag, vollgepackt mit „Souvenirs der Nordsee“. Angebliche „Nordseesteine“ lagen dort, die er schon in der Schweiz als „Original Bachsteine“ gesehen hatte. Ansichtskarten und anderer Tinnef, den die gutbetuchten Gäste mit nach Hause nehmen konnten, vervollständigten das zu erwartende Angebot. Daran schloss sich ein Fahrradverleih an. Fand er übertrieben. E-Bikes auf einer Hallig! Aber es fanden sich immer Deppen, die für zehn Minuten Radfahren zehn Euro bezahlen. Das war es auch schon im Erdgeschoss, wenn man von der Küche und den Gebäudeteilen absah, die man zum Betrieb eines Hotels benötigte. Auf dem Flur, der das kleine Foyer mit dem Hinterausgang verband, schlenderte Kollerup zum südlichen Ausgang hinaus. Hinter einem aufwändig aufgespülten Strand: das Wattenmeer.

Etwas verloren standen hier zehn Strandkörbe herum. Es war erst kurz vor Mittag, aber schon ziemlich heiß. Die noch nicht aufgeklappten Sonnenschirme, stilisierte Palmen mit Plastikblättern, hingen schlapp herunter. Er hatte Ähnliches schon auf Postkarten gesehen. Austauschbares Ambiente. Mallorca, Ägäis, Mittelmeer oder Pazifik. Der Eingang zum Strand säumte ein mit krakeliger Schrift beschriebenes Schild. „Chill-Kröten-Zone“, stand lustigerweise darauf. Eine Bartheke, die ebenfalls aus einem der Südseeserien zu stammen schien, stand verwaist ohne Barkeeper neben dem Eingang. Aus versteckten Lautsprechern tröpfelte lässige Fahrstuhlmusik oder „Lounge“, wie es heute hieß. Stairway to heaven ... grauenhaft mit einem Piano verkitscht. Nicht seine Welt, entschied Kollerup.

So schlenderte er eine Stunde auf der Hallig herum. Am Anleger vorbei, der jetzt bei Niedrigwasser öde aussah, an einer Schafweide entlang. Er hätte Wasser mitnehmen sollen, ächzte er innerlich. Nicht auszuhalten, diese Hitze! In der Zeitung, die im Foyer auslag, sagte der Wetterbericht für heute nur eine laue Brise voraus und Temperaturen von maximal 30 Grad. Zu heiß für diese Gegend. Draußen auf dem Fahrwasser zwischen den anderen Halligen und Inseln sah man weiße Punkte, die in der Hitze wie eine Fata Morgana waberten. Die Fähren zum Festland und zu den Inseln. Man hatte den Eindruck, auf einer vergessenen Pazifikinsel zu stehen. Unbeachtet und unentdeckt von der Restwelt. Mit der Lederjacke über dem Arm erklomm er einen kleinen Hügel und sah sich um.

Das Hotel, ein Wohnhaus für die Angestellten sowie eine kleine Hütte, auch auf einer kleinen Warft gelegen, die er für den Schafstall hielt. Abseits befand sich eine alte Kirche, von der anscheinend der Turm abgebrochen war, daneben ein Minigolfplatz mit Häuschen. Das war die kleine, grüne Halligwelt.

Der Name passt, dachte er. Grienoog.

Vor der Hütte stand eine Staffelei mit einem Bild darauf. Halbfertig. Eine Industrielandschaft. Er sah sich um. Wer kommt auf die Idee, in dieser Landschaft ein ödes, durch qualmende Schornsteine verschandeltes Land zu sehen? Er beugte sich vor und betrachtete ein Detail. Ein totes Schaf, darüber ein Geier. Oder eine Krähe. Das lag vermutlich in der Interpretation des Betrachters. Schwalbe, entschied Kollerup, der wenigstens einen Hauch von schöner Welt haben wollte.

„Onne!“

Kollerup fuhr herum. „Hä?“

Ein bärtiger, etwas zu klein geratener Mann stand in der Tür der Hütte. Er grinste über beide Ohren. Kurze Hose, kurze Beine und ein schmuddeliges Unterhemd. In der Hand eine Flasche Bier.

„Onne, mein Name. Und wie wirst du gerufen?“ Der bärtige Zwerg streckte ihm eine farbverschmierte Hand entgegen.

„Äh. Kolle.“ Kollerup schüttelte die ihm angebotene Pranke.

„Wie der Sexpapst der 70er-Jahre?“

„Eigentlich Kollerup. Aber man ruft mich Kolle.“

„Moin, Kolle. Ich bin Onne.“ Onne deutete mit der Flasche zum Hotel. „Gast?“

„Jo.“

„Geld?“

„Nö. Gewinn.“

„Preisausschreiben?“

„Jo.“

„Bier?“

„Kalt?“

„Jo.“

„Jo.“

Der Mann rödelte klirrend in der Hütte herum und kam mit einer eiskalten Flasche zurück.

„Prost!“

„Prost!“

Die dann folgende Stille wurde nur von gluckernden Schlucken und einem blökenden Schaf unterbrochen.

„Kalle macht wieder Stress.“ Kolle sah ihn fragend an. Onne deutete mit der Flasche auf die Schafe. „Der Dicke da.“ Ein deutlich übergewichtiges Schaf mit dunkelbraunem, fast schwarzem Fell. Angriffslustig stand es vor einem Artgenossen und schnaubte. Dann trabte es los und knallte seinen Schädel auf den des Kontrahenten. Wie bei kollidierenden Kokosnusshälften gab es einen hohlen Knall.

„Kalle!“, rief Onne.

Der Gerufene sah kurz herüber, schüttelte seinen Kopf und schien zu sagen: „Der Typ hat mich aggressiv angesehen!“

„Hau ab, sonst ziehe ich dir deine Hammelbeine lang!“

„Möööhö!“, antwortete Kalle. Dann trottet er empört wiederkäuend zum Wassertrog und ertränkte seine Sorgen schlürfend im Trinkwasser.

„Deine Schafe?“, fragte Kolle.

„Nö. Ich pass bloß auf, dass die sich nicht gegenseitig die Köppe einhauen. Dafür darf ich hier wohnen.“

„Machst’n da?“

„Malen.“

„Das da?“

„Ja. Auch. Willste was sehen?“

„Och, ...“

„Warte.“

Er kam mit mehreren Bildern, jedes so groß wie er selbst, aus seiner Hütte gewankt. Er warf sie ins Gras und Kolle war erschüttert. Braun und Schwarz war die dominierende Farbe. Ein bisschen Grün und ein bisschen Orange. Düstere Bilder, die scheinbar alle diese Hallig als Motiv hatten. Thema schien „Zerstörung durch Industrie“ zu sein. Schwarze Windräder, von denen Blut tropfte, tote Schafe. Krähen, Geier oder Schwalben rissen an den Kadavern herum. Ein Werk hatte ein Bohrgerüst als zentrales Thema, aus dem eine braune Soße in den Himmel schoss. Direkt in das Gesicht einer fahlweißen Sonne.

„Nett“, sagte Kolle knapp.

„Jo, nett, nä?“ Traurig sah sich Onne seine Kunstwerke an. „Diese ganze Scheiße steht uns bald bevor. Neues Bier?“

„Nee, lass mal. Noch zu früh.“

„Komm mal rein“, forderte ihn Onne auf.

Die Hütte war innen ziemlich groß und ziemlich unordentlich. Aber modern eingerichtet. Erstaunlich sauber. Während draußen die ehemals rote Farbe abblätterte und das Dach aus Teerpappe schon bemoost war, war es hier sauber und frisch gestrichen. Das Laminat auf dem Boden wie nagelneu. Eine Kochecke, ein Bett, ein Tisch, auf dem Besteck und Geschirr des Hotels lagen, daneben ein Stuhl. An einer Wand gab es einen Flachbildschirm. In einer Ecke rauschte eine Klimaanlage und arbeitete gegen die aufkommende Hitze an. „Ist sonst nachts nicht auszuhalten“, gab Onne grinsend von sich, als er Kollerups erstauntes Gesicht sah.

Die Wände waren mit den Bildern tapeziert, die Onne vermutlich in den letzten Wochen gemalt hatte. Aber anders als die, die er draußen gesehen hatte. Sonnenuntergänge in einer nordfriesischen Landschaft. Wattige Wölkchen schwebten schwerelos über Salzwiesen, auf denen der Strandflieder blühte. Nette Häuser an Sandklippenrändern, unter denen fröhliche Menschen am Strand Ball spielten. Sofort wurde es ein wenig heller in dem etwa 30 Quadratmeter großen Innenraum. Man roch förmlich das Meer, mit dem Duft der Salzwiese im Sommer vermischt.

Onne, der sich wegen seiner Kleinwüchsigkeit sehr aufrecht bewegen konnte, während Kolle etwas gebückt dastand, machte sich am Kühlschrank zu schaffen und genehmigte sich das zweite Bier des Tages. Er rülpste verhalten und entschuldigte sich für die Unordnung. „Mein Zimmermädchen war noch nicht da“, meinte er lakonisch und meinte es auch scheinbar genauso. Unaufgefordert erklärte er, dass er hier kostenlos wohnen dürfe, weil er auf die Schafe aufpasse, die Staffage des Hotels waren. „Das wollen die Leute.“ Verächtlich spuckte er das Wort „Leute“ aus. „Schafe, Wind und Meer.“ Dabei schielte er auf Kollerup.

„Och, ich kann darauf verzichten.“

„Kommste denn her?“

„Husum.“

„Aha. Ich bin aus Schobüll.“

„Ist doch auch Husum.“

„Schobüll bleibt Schobüll.“ Onne spielte dabei auf die vor einigen Jahren erfolgte Zusammenlegung der Gemeinde Schobüll mit der Stadt Husum an. War nicht sehr beliebt bei einigen Ureinwohnern aus Schobüll. Jetzt wühlte er in einem Schrank herum und zeigte Kollerup ein Foto. Großes Haus, schöner Garten und weites Land. Schobüll an der Wasserkante. Kein Deich.

„Das war mal meines.“

„Jetzt nicht mehr?“

„Zwangsenteignet.“

„Warum?“

„Oberirdische Stromtrasse von Nordstrand und Pellworm. Irgendwie muss der Strom ja ans Festland.“

„Dann haste ja aber Geld dafür bekommen.“

„Nur einen Bruchteil, was es wert ist. Aber ich will nicht klagen. Bleibt immer noch genug übrig.“

„Frau und Kinder?“

„Ja, in Hamburg wohnen die Herrschaften jetzt.“

„Geschieden?“

„So schnell, wie du nur furzen kannst“, bestätigte Onne. „Kaum war das Geld auf dem Konto, waren die weg.“

„Wo wohnst du außerhalb der Saison?“

„Bist du bei der Polizei oder warum fragst du so viel?“

„Ja, bin ich. Aber das geht mich ja nichts an.“ Kollerup deutete auf die Bilder an den Wänden und sagte: „Nette Bilder.“

„Polizist. So ...“

„Ja, äh. Ich muss dann auch mal wieder.“ Kolle war es peinlich, in das alte Muster gefallen zu sein. Er hatte Urlaub, verdammt noch mal.

„Was genau machst du da bei der Polizei?“

„Mord und Totschlag. Aber nun muss ich wirklich.“ Er wollte sich zur Tür wenden.

„Warte mal!“ Onnes Freundlichkeit war verschwunden. Seine Gesichtszüge verhärteten sich.

„Ja?“ Kolle sah ihn an und wusste schon, was nun kam. Unsicher blickte Onne zur Tür und lugte kurz durch die Fenster. „Du musst mir helfen.“ Weiter kam er nicht.

Eine Stimme rief seinen Namen. „Onne? Sind Sie da?“ Scheinbar das Zimmermädchen. Der verdrehte die Augen und rief eine Antwort. „Wir reden morgen darüber“, flüsterte er. „Es ist dringend!“

„Ah! Svenja! Moin!“, begrüßte er überschwänglich die junge Frau. Herein kam eine kleine, rothaarige, junge Frau, die sich ebenfalls beim Betreten der Hütte kaum bücken musste. Adrett mit weißer Hose und einem Shirt des Hotels bekleidet. Sie lächelte breit und rief ein lautes „Moin zusammen!“. Während sie das gebrauchte Geschirr abräumte und in das Elektrofahrzeug verfrachtete, steckte sich Kollerup eine Zigarette hinter der Hütte im Schatten an und hörte durch ein geöffnetes Fenster, wie Onne mit ihr scherzte. Dann wurde das Bett gemacht und die kleine Nasszelle mit Toilette gereinigt. Als sie fertig war, surrte sie mit ihrem Elektrofahrzeug von dannen.

„Hey, Onne!“, rief Kollerup. Onne kam um die Ecke, mit Pinsel und Farbpalette bewaffnet. „Muss jetzt malen“, gab der kurz angebunden zum Besten. Gemeinsam ging Kolle mit ihm zur Staffelei. Wieder ein braun-schwarzes Untergangsbild. Dieses Mal lag ein Toter an einem Haus, das verdammt viel Ähnlichkeit mit dem Hotel hatte.

„Was wolltest du mir eigentlich sagen?“

„Nicht so wichtig.“

„Das klang aber eben anders.“

„Morgen.“

„Na gut. Musst du wissen. Ich bin dann mal drüben, mir die Kirche ansehen.“

„Gibt nich’ viel zu sehen. Is’n Schafstall jetzt.“

„Ach ja? Na denn ...“

„Gibt ja nich’ viel hier.“

„Schon mal deine Bilder irgendwo ausgestellt?“

„Ja.“

„Wo?“

„Och, New York und so.“

„Echt?“ Kolle konnte nicht glauben, dass solche Bilder reißenden Absatz fanden. Aber Kunst ist eben Kunst, dachte er sich.

„Ja. Mit denen hier aber nicht.“

„Welche denn?“

„War früher mal.“

„Was haste denn früher gemalt“?

„Abstrakte Bilder. Gefühle in Formen und Farben.“

„Aha.“

Da er den Eindruck hatte, dass er jetzt stören würde, verabschiedete er sich von Onne. Der stand völlig vertieft mit krauser Stirn vor der Leinwand und wirbelte wie irre mit einem Pinsel herum.

Da es inzwischen schon nach zwölf Uhr war – Kolle hatte nicht bemerkt, wie schnell die Zeit verflog –, ging er zum Hotel zurück. Mal sehen, ob es außer Muscheln und Fisch auch was Essbares gibt, grübelte er. Auf dem Asphaltweg rauschte ihm ein E-Bike fast in die Hacken.

„Ey! Kampfradler!“, rief er hinterher. Aber der Fahrer war schon um die Hotelwarft herum. Das darf ja wohl nicht wahr sein! Aber was ärgerte er sich eigentlich? Er hatte Urlaub.

Im Restaurantbereich gab es nur drei Gäste. Er achtete nicht weiter darauf und setzte sich an einen Tisch am Eingang zur Terrasse. Nee. Lieber draußen. Er stand auf und setzte sich unter einen Sonnenschirm. Ein leises Lüftchen regte sich und verstärkte noch das Gefühl, im Strahl eines Föhns zu sitzen. Drinnen war es kühler, weil die Klimaanlage auf Hochtouren lief, aber da er Raucher war, musste er sich der Hitze im Schatten aussetzen. So saß er und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Der Onne war schon seltsam. Während er über das bizarre Treffen mit dem malenden Freizeitschafhirten sinnierte, dudelte im Hintergrund irgendein privater Radiosender. „Die ältesten und seltensten gespielten Titel der 70er-Jahre“, säuselte der Sprecher. Love is like oxygen von Sweet lief gerade. Selten? Kolle schüttelte den Kopf. Leider nur die Singleversion. Er blickte sich um. Jemand schien auf dem Tisch, an dem er saß, seinen Tablet-PC vergessen zu haben. Auf den anderen Tischen lag auch jeweils einer. Komisch. Er nahm sich das flache, an eine alte Kreidetafel erinnernde Teil der modernen Gesellschaft. Kaum hatte er ihn vor sich, erwachte das Display zum Leben.

„GUTEN TAG!“, brüllte ihn der Text an. Darunter dann: „Wenn Sie bestellen möchten, drücken Sie jetzt BESTELLEN“, wurde er aufgefordert. Er drückte auf BESTELLEN. Sofort erschien ein neuer Text: „Möchten Sie etwas essen oder trinken? Oder essen UND trinken? Oder dürfen wir Ihnen das Menü für heute Abend empfehlen? Dann drücken Sie den entsprechenden Button.“ Darunter gab es mehrere Möglichkeiten. Er drückte auf ESSEN UND TRINKEN. Eine kurze Liste der zur Mittagszeit angebotenen Speisen erschien. LUNCH stand darüber. Und daneben eine Liste mit Erfrischungen. Lunch? Er seufzte. Gute alte Zeiten! Mittags gab es was Anständiges! Aber er wollte nicht auffallen. Er hatte ja Urlaub! Alles inklusive. Er entschied sich für eine „Sandhexe vom Thunfisch“ und Salat „Schafskälte mit Grünzeugs“. Dazu eine Apfelschorle. Das kalte Bier von Onne lag ihm im schwer im Magen. Dann musste er seine Zimmernummer eingeben und den zehnstelligen Code seiner elektronischen Zimmerkarte eingeben. Zum Abschluss kam die Meldung, dass seine Bestellung bearbeitet werden würde. Er spielte noch ein wenig mit dem Gerät herum und sah sich das Menü für den Abend an. Überwiegend Fisch, Rotbarsch und Kabeljau in zehn verschiedenen Variationen. Als Fleisch gab es nur Rind. Angeblich „Salzwiesenrind“. Kolle lachte über diesen Scherz. Allerdings in acht Variationen. Gut, dann ist der Abend gerettet, freute er sich. Als Dessert gab es Fruchteis oder Panna Cotta. Auch in verschiedenen Varianten. Getränke, wie üblich in jedem Hotel, in großer Auswahl. Die Biersorte war ihm unbekannt, aber na ja, verdursten würde er nicht. Als er genug herumgespielt hatte, kamen sein Essen und das Getränk. Scheinbar hatte der Besitzer sämtliche Schönheitsköniginnen der Westküste Schleswig-Holsteins unter Vertrag. Seine Bestellung wurde von einer echten nordischen Schönheit serviert. Blonder Pagenschnitt, Sommersprossen und eine Figur, nicht zu sexy und nicht zu dürr. Dazu noch braune Augen. Leider war sie zu schnell wieder verschwunden. Kommt Zeit, kommt Rat, grinste Kolle und widmete sich seinem „Lunch“. Zu seiner Zeit sagte man „Imbiss“ oder, wenn es unbedingt ein Anglizismus sein musste, auch schon mal „Snack“. Aber wann war „seine Zeit“? Eher so 70er-Jahre, als das Leben aufregend war. Gut, heute war es auch noch aufregend. Aber es fehlte diese zitternde, innere Unruhe. Er mampfte am Sandwich herum, das zu seiner Zeit „belegtes Brot“ hieß. Das gerade aus den versteckten Lautsprechern wispernde Sweet Home Alabama wurde von einer Durchsage unterbrochen:

„Wir unterbrechen unser Programm für eine aktuelle Unwetterwarnung. An der Westküste kommt es heute Abend und in der Nacht zu Starkregen, heftigen Gewittern mit Orkanböen. Auch Tornados und gefährliche Windhosen sind möglich. Erwartet werden die ersten Ausläufer eines Sturmtiefs gegen 20 Uhr. Das Unwetter hat bereits auf der britischen Insel große Schäden angerichtet. Ein unerwarteter Tornado an der Ostküste hat mehrere Kraftwerke lahmgelegt. Mindestens zehn Ortschaften waren stundenlang von der Stromversorgung abgeschnitten. Wir melden uns wieder, wenn es Neues über das zu erwartende Unwetter gibt.“

Kolle sah zur Nordsee hinaus. Er fand, dass zu viel Panik gemacht wurde, wenn ein Gewitter im Anzug war. Einige Tagesgäste kamen vom Strand. Scheinbar wollten sie wieder zum Festland. Quengelnde Kinder mit genervten Müttern.

„Nein! Du hast gehört, was der Mann im Radio gesagt hat. Und wenn es losgeht, will ich zu Hause sein!“

„Aber Mama, ...!“

Kolle verdrehte die Augen. War er eigentlich auch so gewesen? Aber Mama! Ein Protest, der nichts bringt. Die Bedienung kam und räumte ab. Anschließend brachte sie ein Schild an der Verandatür an. „Heute Abend bleibt die Veranda geschlossen. Danke für Ihr Verständnis.“ Kolle war es egal. Er sah auf seine Uhr. Siestazeit. Als er an der Bar vorbeikam, lief dort der Fernseher. Katastrophenmeldungen aus dem Vereinigten Königreich. Er fand, dass das nun ziemlich übertrieben war. Aufgeregte Reporter standen vor rauchenden Resten einer Umspannstation und berichteten mit gespielt pathetischen Floskeln über die Schäden und die mögliche Zahl der eventuell verletzten Menschen. Ob es Tote gäbe, wurde der Korrespondent vor Ort vom Moderator gefragt, und man sah es dem Journalisten im Studio an, dass er gar nicht froh war, dass diese Frage mit einem Schulterzucken beantwortet wurde. Scheinbar waren nur Orte an der Ostküste betroffen. Da das Umspannwerk einen Teil des Stroms der Offshore-Windräder aufnahm, um ihn ins Land zu transportieren, war die Stromversorgung für drei Stunden abgebrochen. Die Anlagen in der Nordsee mussten vom Netz genommen werden, um nicht durch Überspannung den Schaden zu vergrößern. Dann wurde umgeschaltet auf überschwemmte Gebiete der Marschgebiete, die hier ohne Deiche offen der Nordsee gegenüberlagen. Kollerup schauderte bei dem Gedanken, so ganz ohne Deich zu leben. Gut, die Leute im Husumer Stadtteil Schobüll kannten das. Aber irgendwie fühlte er sich ohne Deich völlig schutzlos.

Kollerup legte sich angezogen auf das frisch gemachte Bett. Trotz der jetzt sengenden Sonne war es angenehm temperiert im Raum. Ob der Haubarg sturmsicher war? Ja sicher, beruhigte er sich selbst. Schließlich stand der mehrere Jahrhunderte, ohne Schaden zu nehmen. Auch die Warft war mit ihrer Höhe von knapp zehn Metern außerhalb jeglichen Wasserstandes der höchsten Sturmfluten. Mit den Gedanken an einen Haubarg, der auf dem Wasser treibend in der Ferne entschwebte, während die Welt unterging, dämmerte er langsam in den Schlaf.

Jemand hämmerte an seine Tür. Was zur Hölle sollte das! Es war der Chef des Hotels. Sah aus, wie gerade vom Golfplatz gekommen. Cremefarbene Kleidung.

„Moin. Wollte nur nachfragen, ob alles zu Ihrer Zufriedenheit ist.“

„Ja. Ist es.“

„Mit dem Zimmer zufrieden?“

„Ja, bin ich.“

„Ich wollte Sie auch fragen, ob Sie heute Abend im Restaurant essen möchten.“

„Ja, wie ... ja klar.“

„Na ja, es ist so, dass einige Gäste ihr Zimmer storniert haben, und da wollte ich fragen, ob der Koch sich auf spezielle Sachen vorbereiten muss.“

„Ja, wie ... spezielle Sachen ...?“

„Wissen Sie, bei fünf bis sechs Gästen rechnet sich ein reduziertes Angebot eher als bei einem voll belegten Haus.“

„Ach, Sie meinen wegen der Unwetterwarnung? Ach was! Ich bin Husumer und so ein Lüftchen erschüttert mich nicht. Da seien Sie mal beruhigt. Ich bleibe. Und was das Essen angeht, bin ich mit Bratkartoffeln und Fleisch vollauf zufrieden.“

Der Mann schien sichtlich erleichtert zu sein. Er entschuldigte sich und klopfte auch schon an der Zimmertür eines anderen Zimmers.

Storniert haben einige Gäste. Interessant. Er stand am Fenster und bemerkte, dass es schon später Nachmittag war. Vier Uhr durch. Er bediente sich jetzt aus der Minibar. Ein Bier nach Vier. Was Onne und seine Schafe bei dem Wetter wohl machen würden? Ach ja. Die alte Kapelle. Er stellte die leere Bierflasche auf die Minibar, schlüpfte in seine Sneakers und ging hinunter.

An der Rezeption gab es ein Durcheinander, weil mehrere Gäste auschecken wollten, andere wollten unbedingt wissen, wie das Wetter morgen werden würde und ob die Hallig auch sturmflutsicher sei. Die junge Frau hinter der Theke behielt den Überblick und versicherte den Gästen, dass das Unwetter keine Sturmflut auf der Hallig verursachen würde. Eher an der Küste, wo sich das Wasser stauen könne. Auch die Windrichtung mache es sehr unwahrscheinlich, dass es zu Landunter kommen würde. Einige Wellen würden sicher die Salzwiesen erreichen, aber das wäre nun wirklich alles völlig normal und harmlos. Außerdem würde zur Zeit des prognostizierten Sturmes Niedrigwasser herrschen.

Hinter der Rezeption gab es eine Tür zu einem Büro, die jetzt offenstand, und er sah eine Dame mittleren Alters aufgeregt telefonieren. Einiges konnte er verstehen, weil das Telefonat sehr laut geführt wurde. Scheinbar ging es um eine geplante Wattwanderung, die morgen stattfinden sollte. Mehrmals versuchte die Frau ihren Gesprächspartner zu beruhigen. „Ja nun, dafür kann ich ja nichts, wenn einige Gäste abreisen! Das Wetter habe ich nicht zu verantworten!“

Kolle verließ dieses Irrenhaus und war erstaunt, wie heiß es draußen war. Vom drohenden Unwetter war nichts zu bemerken. Strahlend blauer Himmel. Mit einer brennenden Zigarette schlurfte er zum Rundweg, der um die Hallig führte. Wegen des ablaufenden Wassers, das nach seiner Meinung heute besonders ausgeprägt war, roch das Watt in der brütenden Sonne extrem nach Schlick und Salz. Links sah er in der Ferne die Schafe grasen, dahinter die alte Kapelle. Ein kleiner Punkt wieselte herum und begann die Schafe auf die Warft der Kapelle zu treiben. Kein leichtes Unterfangen. Er musste grinsen, als er Onne zwischen den Schafen sah.

Am Anleger machte gerade die Strandkrabbe fest. Eine Gruppe Touristen konnte es kaum erwarten, die letzte Fähre des Tages zum Festland zu nehmen. Es sah aus wie eine Flucht vor einer ganz schlimmen Katastrophe, fand Kolle. Tiere besitzen einen sechsten Sinn für nahende Unwetter, sinnierte er. Vielleicht haben einige Menschen diesen Fluchtinstinkt behalten und andere eben nicht. Just in dem Moment zog ein Schwarm Möwen vorbei und verschwand in Richtung Festland.

Kaum hatte die Fähre um Punkt 17 Uhr abgelegt, kam ein kleines Boot mit Außenbordmotor angetuckert. Ein Mann, ungewöhnlich für das Wetter in Cordhose und gesteppter Weste gekleidet, fand Kolle, stieg aus. Sorgfältig vertäute der Mann seine Nussschale. Dann bemerkte er Kollerup auf der Hotelhallig. Eine Sekunde lang stand der Typ nur so da und sah herüber. Kolle winkte nur mal so zum Spaß. Keine Reaktion. Der Mann nahm seinen Rucksack und kam zum Hotel. Kollerup nahm an, dass das vermutlich der Wattführer war und sich nun persönlich beschweren wollte. Er war der Meinung, dass das nicht sein Problem sei und wendete sich zum Strand.

Auf den Liegen räkelten sich einige Gäste herum und schlürften aus Gläsern bunte Getränke, während Reggae leise dahinplätscherte. Er erkannte den Titel Whole Lotta Love von Led Zeppelin. Nein! Als Reggae! Er setzte sich an die Südseebar-Imitation und schnippte nach dem Kellner.

„Sagen Sie mal ... wer sucht eigentlich die Musik aus?“

„Ich verstehe nicht?“, grinste der Keeper.

„Diesen Musiksirup da im Hintergrund, meine ich.“

„Ach, Sie meinen die Loungemusik!“

„Ja, genau. Diese trübe Suppe, Musik genannt.“

„Das macht irgend so ein Typ im Internet.“

„Wie Internet?“

„Das kommt aus dem Internet.“

„Die Musik?“

„Ja, Internetradio.“

Internet! Hat den niemand mehr eigene CDs? An LPs wagte er erst gar nicht zu denken. Oder wenigstens einen MP3-Player? Kolle sah die Musikbranche den Bach runtergehen. Aus Trotz bestellte er einen „Swimmingpool“. Eigentlich wollte er fragen, was der Barkeeper denn heute empfehlen könne, aber wenn die Musik aus dem Internet kam und von irgendeinem anonymen Menschen ausgesucht wurde, wollte er erst gar nicht daran denken, welche Getränke das Internet bei dem Wetter empfehlen würde.

Er schlürfte lange an dem Cocktail, der eigentlich ein Longdrink war. Anschließend verwickelte er den Mann hinter der Theke in ein Gespräch über Swimmingpools und die Farbe der Bikinis der Frauen, die in einem Swimmingpool schwimmen. Und dann kamen sie zum Thema Klimawandel und heiße Sommer. Der Typ hinter der Theke, er hieß Maik, war der Meinung, dass das nur gut für den Tourismus sei. Kolle war da anderer Meinung. Denn globaler Klimawandel würde nicht bedeuten, dass es hier schlagartig dauerhaft wärmer werden würde. Er verwies auf die Unwetterwarnung, dass heute Abend ein Unwetter auf die Westküste treffen solle.

„Ach. Unwetter! Was die als Unwetter bezeichnen, ist doch nicht zu vergleichen mit einem Herbststurm Stärke 12. Und selbst das“, der Barkeeper wies auf den Haubarg, „macht diesem alten Kasten nichts aus. Alte, gute Wertarbeit. Absolut sturmsicher und sturmflutsicher. Allerdings“, er sah zum Hotel hoch, „müssen wir den Strand vermutlich nach dem Sturm neu aufspülen lassen.“

Kolle fand, dass das das geringere Problem war. Er dachte an die Schafe und Onne. Er fragte Maik danach.

„Och, der kommt dann heute Abend zu uns, wenn es zu dolle wird“, winkte er ab. „Aber ansonsten ist seine Hütte auch sicher und hoch genug für ein Sommerhochwasser. Genauso sicher wie die Schafe in der alten Kapelle.“

Hinter ihm wurde es nun laut. Jemand beschwerte sich über irgendwas, und er hörte: „Scheißegal, was passieren würde! Ich lasse mich nicht so abschieben! Das haben SIE zu verantworten!“

Dann eine weibliche Stimme: „Was kann ICH dafür, wenn es ein Unwetter gibt!“

„Ach, es geht doch nicht um das Wetter! Es geht darum, dass SIE dem Frerk Carstens MEINE Tour gegeben hatten! MEINE!“ Die Stimme des Mannes kippte ins Hysterische. „DAS wird ein Nachspiel haben! NACHSPIEL!“

Nachspiel? Wird denn hier auch Fußball gespielt? Kolle amüsierte sich. Es gibt einen Minigolfplatz, aber einen Fußballplatz habe ich hier auf der Hallig noch nicht gesehen. Vielleicht ein juristisches Nachspiel, wer weiß das schon?

Maik verdrehte die Augen und flüsterte vertraulich über die Theke: „Das ist Kai, der Wattführer. Der ist sauer, weil die Chefin eine andere Tour mit einem anderen Wattführer gebucht hatte. Aber das fällt ja nun flach.“ Kolle sah auf die Uhr. Sechs Uhr durch. Holla, wie die Zeit vergeht! Er gab Maik seine Zimmernummer und ging hoch zum Duschen.

Für den ersten Tag seines Urlaubes gar nicht mal so schlecht, fand er. Eine interessante Bekanntschaft gemacht und ansonsten hatte er absolut nichts mit Mord und Totschlag zu tun gehabt. Manchmal dachte er, dass die Menschheit verrückt geworden war. Die Fälle, mit denen er zu tun hatte, ließen ihn oft am Verstand der Menschen zweifeln. Nicht weil einige zu leicht zu lösen waren, denn es gab ja auch harte Nüsse, die er zu knacken hatte, sondern weil seit Bestehen der Menschheit die Motive immer dieselben waren. Rache, Habsucht, Eifersucht, Neid und so weiter.

Vorsichtig stieg er in die Duschkabine und ganz sachte zog er an den Hebeln und drehte nur an den Wasserhähnen, die für das Wasser von oben zuständig waren. Irgendwann gibt es sprachgesteuerte Duschen, wie in den Science-Fiction Filmen, dachte er. „Wasser von oben, 23 Grad!“, rief er probeweise. Er fiel fast durch die Glastür der Kabine, als eine weibliche Stimme antwortete: „Wenn Sie jetzt noch freundlich ‚Bitte‘ sagen, kommt das Wasser.“

„Was ist das denn!?“

„Ich bin die automatische Duscheinstellung Betty.“

„Bitte, ich hätte gerne warmes Wasser von oben.“

„Gerne. Wie viel Grad?“

„23.“

„Das Zauberwort?“

„Bitte?“

„Im ganzen Satz.“

„Bitte, ich hätte gerne 23 Grad warmes Wasser von oben.“

„Mit welchem Druck?“

„Welchen kannst du mir anbieten?“

„Hart, Mittel und Weichei.“

„Weichei?“

„Ja, für Warmduscher und Dünnbrettbohrer.“

„Mittel.“ Er bemerkte sofort seinen Fehler und fügte ein „Bitte“ hinzu.

„Gerne. Wenn Sie fertig sind, beenden Sie den Duschvorgang mit ‚Stopp‘. Ich wünsche Ihnen angenehmes Duschen.“

„Danke sehr.“

„Bitte sehr.“

Nach dem Duschen, aufdringliche Düfte der hoteleigenen Hygieneartikel verströmend, bewunderte er die schwarze Wand, die sich von Westen heranschob und die Sonne verschluckte. Schlagartig wurde es deutlich dunkler. Er liebte Unwetter. Da merkt man doch erst, dass man lebt, sagte er immer, wenn sich jemand über schlechtes Wetter beschwert. Stundenlang konnte er am Fenster sitzen und wenn möglich draußen die Atmosphäre genießen, die ein nahendes Gewitter verströmte. Die Luft schien jedes Mal elektrisch geladen zu sein und die Wolkenformationen mit ihren gelb-schwarzen Fetzen, die als Vorhut das Unwetters ankündigten, waren wie das Intro zu einem bombastischen Konzert. Thunderstruck von ACDC war die Musik, die ihm bei diesen Gelegenheiten einfiel. So war es auch dieses Mal, als die Wand sich am Himmel hochschob. Und es war drückend schwül dabei. Er schloss bedauernd das Fenster und ging nach unten in den Restaurantbereich.

Nele, die junge hübsche Dame, die er von der Rezeption kannte, führte ihn zu seinem Tisch. Der Raum war mit Kerzen beleuchtet, und leise Musik plätscherte aus versteckten Lautsprechern. Er schien der Erste zu sein. Während er seine Bestellung aufgab, persönlich und Auge in Auge mit einem Menschen, füllten sich die Tische mit den Gästen. Aber das interessierte ihn nicht, wer wo und warum saß. Durch die Verandatür konnte man das Naturschauspiel im zweiten Akt bewundern. Er schien der Einzige zu sein, der es genoss. Alle anderen schienen sich kopfschüttelnd über die Gefährlichkeit und die möglichen tödlichen Folgen zu grämen. Kolle schnaubte verächtlich. Memmen!

Sein erster Gang, Eisbergsalat mit Fenchel, begann von einem Gewitterblitz begleitet. Der zweite Gang wurde von prasselndem Hagel an den Verandatüren beklatscht. Stimmt, der Applaus ist berechtigt, dachte er. Selbst er als Hobbykoch hätte es nicht besser machen können. Der erste Biss vom Steak wurde mit einem rollenden Donner kommentiert, der so lange dauerte, bis Kollerup das zerkaute Rindfleisch schluckte. Sein Bier wurde gebracht und der erste Schluck hatte eine Sturmböe im Gefolge, die die Bar draußen umwarf. Hach! Herrlich! Kollerup genoss die Vorstellung. Während die Mitarbeiter gelassen durch aufgeregt debattierende Gäste schreitend die Bestellungen aufnahmen oder Menüs servierten, ging es draußen jetzt zur Sache. Im Dämmerlicht über der Nordsee, kurz grell erhellt von Blitzen, sah man dichte Regenschauer hinwegziehen. Er sah auf seine Uhr. Verdammt! Das musste er sich abgewöhnen, immer auf die Uhr zu sehen. Urlaub, Kolle! Es war jetzt 21 Uhr. Die Zeit hatte hier auf der Hallig scheinbar ihre eigenen Gesetze. Er rülpste verhalten und dann gingen das Licht und die Musik aus. Kolle war der Meinung, dass das kleine Bäuerchen ja nun nicht diese Aufregung wert sei.

Eine Dame gab ein quietschendes Geräusch von sich und ein Glas zersprang mit einem Klirren auf dem Boden.

„Ruhe bewahren, meine Damen und Herren! Die Generatoren werden sofort anspringen!“, rief eine männliche Stimme irgendwo aus dem Dunkel. Und schon wurde es wieder hell. Ein weiterer Blitz zuckte vor den Fenstern und eine bleiche männliche Gestalt erschien an der Verandatür, die mit blutigen Händen dicke rote Schlieren hinterlassend, an der Glasfläche langsam zu Boden rutschte. Dann wurde es zum zweiten Mal schwarz im Raum. Ein weiterer Blitz zuckte, der die auf der Veranda liegende Gestalt kurz beleuchtete. Seine Intuition sagte ihm, dass dieser Mensch tot war. Ein doppelter Donner, der die Gläser auf den Tischen klirren ließ, beendete diese Szene.

Die letzte Fähre ging um fünf

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