Читать книгу Die letzte Fähre ging um fünf - Günter Wendt - Страница 5
Hotel Der Tag des Unwetters 21:00 Uhr
ОглавлениеWenn es vorher ein chaotisches Durcheinander gegeben hat, wurde es jetzt gefährlich. Tische wurden umgestoßen, panische Menschen riefen durcheinander, Kindergeschrei, scheppernde Gläser. Kolle tat, was das Beste in so einem Fall war: Er blieb sitzen.
Jemand stieß ihn an und er musste sich am Tisch festhalten. Dann zückte er sein Handy, klappe es auf und hielt es in die Höhe. Dieser Lichtschein genügte ihm, um gefahrlos auf einen Tisch zu steigen. Oben angekommen steckte er zwei Finger in den Mund und pfiff derart laut, dass es ganz sicher auch auf Föhr zu hören war. In Bruchteilen von Sekunden war es mucksmäuschenstill. „Jeder bleibt jetzt, wo er ist! Hier ist die Polizei! Kann mich der Chef dieses Hotels hören?“
„Ja ...“, kam es zögerlich aus der Richtung, wo Kollerup die Bar vermutete.
„Was ist mit Taschenlampen?“
„Haben wir!“
„Haben Sie eine dabei?“
„Nein. An der Rezeption liegen welche.“
„Hat jemand ein Smartphone?“
Plötzlich glommen vereinzelt mehrere bleiche Lichter im Raum. Man konnte wieder etwas erkennen. Kolle fand, dass es aber noch heller ging.
„Was ist mit den Tablets? Das Display von den Dingern gibt mehr Licht. Schalten Sie ihre Telefone aus. Schonen Sie Ihre Akkus!“
Kurz wurde es wieder dunkel und dann erhellten Tablets mehrere Personen an der Bar.
„Kommen Sie mit zwei von diesen Dingern hierher“, befahl Kollerup. Die fahlen Lichter der mobilen Geräte wankten zu ihm herüber. „Jemand verletzt?“, fragte er laut in die Runde.
„Ich hab’ mir mein Knie gestoßen“, beschwerte sich jemand kleinlaut.
„Sonst nichts?“ Knie gestoßen! Die Welt geht unter, dachte Kolle.
„Dem Kind geht es gut?“, wollte er jetzt wissen.
Eine Mutter meldete sich: „Nichts passiert. Alles gut.“
„Niemand verlässt den Raum.“ Er fügte ein „bitte“ hinzu, weil er ja durch die sprechende Dusche etwas gelernt hatte. „Sobald wir die Lage geklärt haben, dürfen Sie auf Ihre Zimmer. Aber hier ist es momentan am sichersten.“
Draußen hörte man den Sturm ums Haus pfeifen und die Wassermassen aus den Regenwolken auf das Haus und auf die Fenster prasseln.
„Kolle!“, schallte es von Eingang her. Onne!
„Onne!“ Kolle freute sich, den Knirps zu sehen.
„Den Schafen geht es gut!“, rief der Schafhüter.
„Was ist los, Onne? Weißt du mehr?“
„Ein Blitz muss im Generatorhaus eingeschlagen sein.“
„Wir müssen sehen, ob wir den da draußen noch retten können, Onne“. Kolle deutete in Richtung Veranda.
Zwei Angestellte kamen jetzt mit Taschenlampen. Kolle nahm eine, zwei weitere gab er an Onne und an den Hotelchef weiter.
„Folgendes: Ihre Leute bleiben hier bei den Gästen. Jemand sollte sich um die Verletzten kümmern und kleinere Blessuren versorgen. Kaffee oder Tee wären jetzt nicht schlecht.“ Allgemeines Murmeln erhob sich. Stühle und Tische wurden wieder auf ihre Plätze gestellt. Das Küchenpersonal machte sich in der Küche zu schaffen und irgendwie kam wieder Normalität auf.
Da der Eingang und somit das Foyer im Windschatten lagen, ließ Kolle es darauf ankommen und öffnete vorsichtig die Tür. Er wusste, dass auf der Leeseite eines Hauses im Sturm der Sog nicht zu vernachlässigen war. Die meisten Dachschäden durch sich lösende Dachziegel entstanden auf der windabgewandten Seite. Der Sog war vergleichbar mit dem Effekt, der oberhalb einer Tragfläche dafür sorgte, dass ein Flugzeug Auftrieb bekam. Die Hölle war eine nachtschwarze Regenwand.
„Äh“, Onne zögerte.
„Was?“, Kolle sah ihn an.
„Ich hoffe, dass du nicht wasserscheu bist. Du bist ruckzuck durch bis auf die Haut“, sagte Onne mit unschuldigem Augenaufschlag.
„Bin ich aus Zucker?“, fragte Kollerup.
„Ich meine ja nur.“ Damit war die Sache erledigt.
Nach zwei Minuten wünschte Kolle sich eine Regenjacke. Aber bei dem Sturm war es egal, ob man sich mit einer Regenjacke draußen aufhielt oder nicht, weil der Sturm, der jetzt zum Orkan geworden war, den Regen waagerecht vor sich hertrieb. Breitbeinig wie echte Seemänner auf einem stampfenden und rollenden Schiff, stramm gegen den Orkan, wankten sie zur Veranda. Stockfinster war es, nur die zitternden Lichtbalken der beiden Taschenlampen wiesen ihnen den Weg. Sie hätten genauso in einem schwarzen Windkanal sein können. Kolle ahnte es bereits, bevor sie um die nächste Ecke schlichen. Instinktiv riss er Onne zu Boden. Etwas Großes flog mit flappendem Geräusch über sie hinweg.
„Das war knapp!“, brüllte Onne in Kolles Ohr. Auf Händen und Füßen krabbelten sie zur Veranda. Dort lag der Tote. Oder zumindest ging Kolle davon aus, dass der Mann tot war.
Gesicht nach oben. Augen und Mund offen. Kein Puls, kein Atem. Seitdem der Mann an der Verandatür zusammengebrochen war, waren mindestens 15 Minuten vergangen. Die Farbe der Haut, der fehlende Puls und Kolles Intuition sprachen für seine Vermutung. Er sah zum Verandafenster und deutete den Zusehern im Restaurant mit einem Schulterzucken an, dass da nichts mehr zu machen sei.
„Rein mit ihm!“, nickte er Onne zu, und beide hoben den schweren, schlaffen Körper an.
Ein Blitz zuckte aus dem abziehenden Unwetter, und der Orkan ließ ein wenig nach. Aber immer noch blies er so heftig, dass sie beide sich lieber vorsichtig bewegten, als von fliegenden Gegenständen erschlagen zu wurden. Es war egal, sie waren jetzt eh so nass, als ob sie mit Kleidung geduscht hätten. Langsam wurde es Kolle auch zu kühl. Der Temperatursturz musste mindestens zehn Grad betragen, so kam es ihm jedenfalls vor. Als sie zur windabgewandten Seite kamen, wurde es schlagartig still. Ein Hurrikan, fragte sich Kolle. Er sah zum Himmel. Aus einem riesigen Loch im Himmel blinkten Sterne. Triefend nass patschten Kolle und Onne ins Haus und trugen den Toten durch das Restaurant.
„Wir haben nicht viel Zeit!“, rief er in die Runde. „Wo ist der Kühlraum?“
„Da lang! Hinter der Küche.“ Das Gesicht des Chefs wurde jetzt bleich wie Schnee. „Das ist ja der Wolters!“, rief er.
„Wer ist Wolters?“ Kollerup sah ihn scharf an.
„Unser Wattführer!“
„Ex-Wattführer, meinen Sie.“
„Ja. Er sollte heute eine Wattwanderung machen. Fiel ja aus.“
„Was hat er dann hier noch zu suchen gehabt?“
„Er hatte sich bei meiner Frau beschwert, und dann war es zu spät, um gefahrlos zurück durch das Watt zu laufen. Für solche Fälle haben wir ein Zimmer im Angestelltenhaus. Dort kann man dann übernachten.“
„Egal. Ab in den Kühlraum mit ihm!“
Zu dritt trugen sie die Leiche in den Kühlraum und legten sie auf einen Tisch.
„Machen wir, dass wir hier rauskommen!“ Kollerup war total durchgefroren. Onne hatte in der Zeit die Fragen der Anwesenden beantwortet. Ein Hurrikan! Kannte man eigentlich nur aus dem Fernsehen. Aber hier? An der Nordsee? Wasserhosen, ja, die kannte man, oder die in der letzten Zeit auftretenden Tornados, die auf dem Meer riesige Wassermassen in große Höhen sogen. Aber vielleicht war es ja nur ein Orkan. So genau kann man das bei den heutigen Wetterkapriolen ja nie sagen.
„Haben wir ein Netz, Onne?“
„Kolle, du willst jetzt Fische fangen?“
„Nein. Kein Netz“, kam ihm der Hotelchef zuvor.
„Scheiße.“ Kolle dachte nach.
Kollerup wandte sich an den Hotelchef. „Gibt es in diesem Haus Satellitenverbindung?“
„Das hängt am Stromnetz und ist nicht autonom. Wer rechnet denn auch mit so einem Blitz, der alles lahmlegt?“ Fast schien es, als fühlte sich der Chef verantwortlich für den Blackout. „Das Einzige, was wir noch haben, ist das Gas für die Küche.“
„Ich brauche eine Liste der Gäste.“ Kolle betete im Stillen, dass es eine solche Liste gab. Aber als er das Gesicht des Chefs sah, sank seine Zuversicht.
„Aber Nele kann Ihnen sagen, wer eingecheckt hat. Warten Sie.“ Er wandte sich zum Restaurant und rief: „Nele! Komm mal bitte.“ Die schlanke nordische Schönheit mit dem blonden Pagenschnitt kam.
„Ja?“ Große braune Augen sahen ihren Chef an.
„Sag mal bitte dem Herrn Kommissar, wer alles eingecheckt hat.“
Und sie begann ohne Zögern, alle Gäste aufzuzählen.
„Moment, Moment!“, lachte Kolle und bat Onne, die Namen zu notieren. Der bekam ein Tablet und einen Stift, mit dem man auf dem Display schreiben konnte. Dauerte eine Sekunde, bis Onne die App aufgerufen hatte und bereit war.
„So“, Kolle sah Nele an. Als sie fertig war, bekam sie bewundernde Blicke.
„Eidetisches Gedächtnis“, hauchte der Chef des Hotels ergriffen. „Nele ist Gold wert.“
„Das ist sicher hilfreich in Ihrem Beruf“, sagte Kolle trocken. Die Angesprochene schien das kaltzulassen.
„Ist aber auch manchmal ein Fluch. Man vergisst so schnell nichts“, sagte sie und etwas schien sie plötzlich traurig zu stimmen.
Insgesamt gab es zehn Zimmer im Hotel. Oben sechs und unten vier. Im Obergeschoss waren vier belegt, unten zwei. Dann bedankte er sich bei Nele und dem Chef.
„Ach ja, ...“, ihm fiel etwas ein. „Wer kümmert sich eigentlich um die Haustechnik?“
„Jan-Ole“, antwortete der Hotelchef. „Soll ich ihm sagen, dass er sich den Schaden mal ansehen soll?“
„Ja. Gute Idee!“ Kolle nickte zufrieden. „Wie ist es mit der Verbindung zum Festland?“, wollte er wissen.
„Das müssen wir sehen, wenn wir Strom haben. Das Festnetz ist jedenfalls tot. Und wann wir Strom vom Festland bekommen, wissen wir, wenn die Smartphones wieder über Satellit funktionieren.“ Der Hotelchef sah hinaus und meinte trocken: „Aber bei diesen dichten und hohen Wolken sieht es schlecht aus.“
„Hoffen und beten“, murmelte Kolle. „Schicken Sie jemand nach oben, der sich die oberen Stockwerke ansehen soll. Ich müsste mal duschen und etwas Trockenes anziehen. Und der da auch.“ Er deutete auf Onne, der jetzt in eine Decke gehüllt auf einem Stuhl saß und etwas Heißes trank. Der Chef gab einen Wink, und ein junger Bursche trabte los. Nach 15 Minuten kam er zurück.
„Alles klar oben. Fenster haben gehalten und das Dach scheint unbeschädigt zu sein. Das grenzt an ein Wunder, Chef.“ Der erwiderte nur: „Ist ja alles für viel Geld sturmsicher gemacht worden.“ Damit schien für ihn der Fall erledigt zu sein.
Kolle war es egal. Während draußen der Orkan wieder zunahm, freute er sich unter der Dusche, dass er noch warmes Wasser hatte. Allerdings ohne Kommentare der sprechenden Dusche Betty.
Als er nach seiner Kleidung im Schein der Taschenlampe suchte, gingen die Lichter wieder an. Nach einem Flackern erloschen sie wieder. Dann gab es wieder Strom. Kolle wartete etwas ab, bevor er seine Lampe ausschaltete. Als er nach zwei Minuten immer noch Licht hatte, atmete er auf.
Auf dem Flur traf er Onne, der gerade eines der nicht belegten Zimmer verließ. Die Hose, die man ihm gegeben hatte, war an den Beinen mehrmals umgeschlagen und das viel zu große Sweatshirt schlabberte an seinem Körper.
„Sag nichts!“, wies dieser Kolle mit einem Finger drohend zurecht.
„Ich sag ja nichts. Ich stelle mir vor, wie deine geliehene Unterhose aussehen mag.“
„Welche Unterhose?“, erwiderte Onne trocken.
Jetzt mussten beide lauthals lachen. An der Bar orderte er als Erstes zwei dreifache Whiskeys. Irischen wollte er jetzt haben. Ohne Eis und ohne Wasser.
Zum Hotelchef, der in der Küche stand, um mit dem Koch die Lebensmittellisten durchzugehen, sagte er: „Sie können die Gäste in ihre Zimmer schicken. Wir versuchen, eine Runde zu schlafen. Bei dem Wetter flüchtet niemand. Schließen Sie aber alle Türen sorgfältig ab. Und ihre Angestellten bleiben bitte auch im Haus. Niemand verlässt das schwankende Schiff.“
Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Gibt es was Neues vom Techniker?“
Der Hotelchef schien erleichtert zu sein, als er sagte: „Ja. Er hat sich eben über sein Funkgerät gemeldet. Sieht übel aus, aber er meint, er könne es provisorisch richten.“
Als Kollerup und Onne in den tiefen Clubsesseln hingen, zündete Kolle sich zwei Zigaretten an. Mit Spezialtabak. Das hatte er sich verdient, fand Kolle, und bot Onne auch einen Joint an. Der zuckte nur einmal mit einer Augenbraue und nahm das Angebot an. Irgendwann saßen sie kichernd und trinkend – der Barkeeper war so nett gewesen, die Flasche auf die Theke zu stellen – in den bequemen Loungesesseln und lauschten leiser Fahrstuhlmusik. Es blieb nicht bei einem Joint. Stunden später dämmerten sie zu den Klängen von ACDCs Whole lotta Rosie, natürlich in einer kitschigen Piano-Lounge-Version, in einen leichten Schlaf.
„Gottlob hat Angus damals nicht Klavier gelernt, sondern Gitarre“, hauchte Onne noch.