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Hotel Erster Tag nach dem Unwetter 08:00 Uhr

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Der nächste Morgen erwachte genauso wie unsere beiden Helden in der Bar: grau und vernebelt. Jemand hatte die Musik gewechselt.

„Soll wohl aufmunternd sein“, stöhnte Kollerup. Bei diesem Musiksirup kam er nicht auf Touren! Er schleppte sich zur Rezeption.

Per Klimmzug zog er sich am Tresen hoch und lallte mit schwerer Zunge: „’allo! Jeman’ da?“ Maik kam aus dem Büro.

„Moin, Herr Kommissar!“, begrüßte er Kollerup.

„Pschscht!“ Kolle zischte mit Zeigefinger am Mund: „Nich’ so laut!“

Entschuldigend hob Maik beide Hände und etwas leiser: „Was kann ich für Sie tun?“

„Sie könn’ mir sagen, wie ich normale Musik hören kann.“

„Normal?“

„Ja, normale Musik. Rockmusik, handgemacht. Normale, wie sie jeder normale Mensch hört.“

„Rock?“

„Ja.“

„Moment.“ Er ging ins Büro. „ACDC und so?“, rief er.

„Nicht heute Morgen! Irgendwas 60er-Jahre oder 70er-Jahre.“

„Pink Floyd?“

Kolle stöhnte erleichtert. „Ja!“

Sekunden später erklangen die ersten Noten von Shine on you crazy diamond.

„Sie haben mir das Leben gerettet, Maik!“

„Aus meiner Privatsammlung. Pink-Floyd-CD-Box.“

Zurück im Restaurant roch es nach Kaffee. Vorsichtigen Schrittes schlich Kollerup zur Anrichte, wo das Frühstück vorbereitet wurde, und schnüffelte an der Kaffeekanne. Hab’ ich es gewusst, triumphierte er innerlich. Letzte Dröhnung der schwärzesten Röstung. Onne schlürfte an einer Tasse und sog dieses Teerzeugs in sich hinein.

„Wenn ich auch so erschossen aussehe wie du, können wir locker in einem Zombiefilm mitspielen!“, begrüßte ihn sein neuer Freund.

„Ja, sicher, und das schwarze Zeugs schmieren wir uns ins Gesicht, das wird hammergruselig.“

Kolle wollte einen normalen Filterkaffee, den er bei Nele bestellte, die heute aussah, als ob sie auf einer Schönheitsfarm übernachtet hatte. Er setze sich. Kaum hatte er seinen Kaffee, kam Budnik, der Hotelchef.

„Guten Morgen, Herr Kommissar. Schlechte Nachrichten. Die Stromzufuhr vom Festland, das Festnetz und Satellitenverbindung sind unterbrochen.“

„Waren Sie schon draußen?“

„Ja. Der Anleger ist total zerstört. Da kann in den nächsten Tagen kein Schiff anlegen.“

„Das ist gut. Dann kann auch niemand flüchten“, freute sich Kolle.

„Ist eh gerade Hochwasser“, meinte Budnik. Kolle nickte und trank dankbar seinen normalen Kaffee.

„Aber“, der Hotelchef hob einen Finger, „wir haben Radioempfang!“

„Super!“

„Aber es sieht auf dem Festland nicht gut aus. Mehrere kleinere Schiffe, die an Land geworfen worden sein sollen, abgedeckte Häuser, entwurzelte Bäume. Gottlob keine Toten, allerdings mehrere hundert Menschen verletzt. THW und Bundeswehr räumen gerade auf. Vor morgen früh ist nicht mit einer Fähre zu rechnen. Die Inseln sind glimpflich davongekommen. Wie es auf den anderen Halligen aussieht, ist nicht bekannt.“

Kolle dachte nach. „Hubschrauber!“, rief er einem Einfall folgend.

„Alle im Einsatz, wie es heißt. In den Nachrichten und Sondersendungen wird berichtet, dass alle verfügbaren Helikopter in der Luft seien. An die Halligen und Inseln wird appelliert, noch einen Tag durchzuhalten.“

„So, heißt es das? Gut.“ Er sah auf seine Uhr. „Ich möchte gerne den Toten untersuchen. Meine dürftigen Kenntnisse müssen dieses Mal ausreichen. Ab elf Uhr werde ich erste Befragungen durchführen. Stellen Sie bitte sicher, dass sich Ihre Gäste dann zur Verfügung halten. Aber jetzt muss ich etwas essen.“

Nach dem Frühstück ging er mit Onne vor die Tür. Kühle Luft schlug ihm entgegen. Vom Wattenmeer war nicht viel zu sehen. Dichter Nebel begrenzte die Sicht auf höchstens 20 Meter.

„18 Grad“, sagte Onne mit einem Blick auf das Außenthermometer. Das, was sie sehen konnten, sah auf den ersten Blick nicht anders aus als sonst. Dann schlenderten sie den Rundweg entlang und mussten mehreren Baumresten ausweichen.

„Bäume!“, rief Kolle erstaunt.

„Ja. Vermutlich vom Festland oder von Hooge drüben. Weiß der Geier“, erwiderte Onne.

Vom Anleger war nichts übrig. Bestes Tropenholz und Eichenstämme, einfach weg. Dann wandten sie sich zur Kapelle. Onne war schon sehr nervös.

Als sie dort ankamen, drängelten schon die ersten Schafe ins Freie. Onne zählte schnell durch. Es waren genauso viele wie vorher. Exakt 200 Schafböcke. Der malende Schäfer atmete auf. Nur seine Hütte war nicht schadlos davongekommen. Das Dach fehlte. Außerdem waren sämtliche Fensterscheiben zerstört.

„Kann man wieder reparieren!“, rief Onne munter.

In der Hütte sah es aus wie nach einem Erdbeben. Nicht ein einziges Bild hing an den Wänden. Kolle war entsetzt! Das Werk eines Künstlers, weggewischt. Aber Onne schien guter Dinge zu sein. Ein Lied pfeifend, sah er sein ehemaliges Heim an. Er hob das eine oder andere hoch und sagte dabei: „Kann man alles reparieren.“ Dann ging er in die Ecke, in der die Nasszelle war. Sie gab es noch. Die Tür der Dusche war verschlossen. Mit einem theatralischen „Aha!“ riss Onne sie auf. Da lagen sie! Seine Bilder. Mit einer Plane sorgfältig festgezurrt. „Muss nachher alles ins Haus gebracht werden. Aber momentan liegen sie hier ganz gut.“ Onne verschloss die Tür der Dusche wieder sorgfältig und dann stolperten sie weiter.

„Sag mal, was denkst du über die letzte Nacht?“, fragte Kollerup.

Onne suchte im Schutt nach dem Kühlschrank. Er bemerkte, dass der Maler seine Frage nicht gehört hatte.

„Was machst du da!“

„Bier. Ich suche mein Bier.“

„Scheiß auf dein Bier! Da ist nichts mehr.“

„Doch. Muss.“

„Ist doch ganz normales Bier! Im Hotel gibt es die gleiche Sorte.“

„Nö.“

„Wie. Nö.“

„Im Hotel gibt es das nicht. Würde mich sehr wundern.“

„Da ist er! Hilf mal.“ Kolle stöhnte und half.

„Ha!“ Onne hielt triumphierend zwei braune Flaschen hoch. Sahen unscheinbar aus, fand Kolle. Gar nicht wie Bierflaschen, sondern eher wie alte Weinflaschen. Der Hals mit rotem Wachs versiegelt.

„Weißt du, was DAS ist?“ Onne fuchtelte damit vor Kolles Nase herum.

„Bier?“

„Ja, sicher! Aber welches?“

„Flens?“

„Ich bezweifele, dass die damit zu tun haben.“

„Du willst doch wohl nicht sagen, dass du das Bier unserer verfeindeten Nachbarn trinkst! Dithmarscher!“

„Ah! Nein!“ Onne freute sich wie Rumpelstilzchen.

„Also gut, ich gebe auf.“ Jetzt wollte Kolle es endlich wissen.

„Es ist das älteste Bier, das man hier in dieser Gegend haben kann.“ Onne liebte Rätsel. Jetzt stöberte er wieder herum und fand unter einem Holzstapel einigermaßen trockenes Zeitungspapier. Er wickelte die Flaschen sorgfältig ein und übergab eine davon Kollerup.

„Nicht fallenlassen“, ermahnte er ihn.

„Nicht trinken, wäre angebrachter jetzt“, grinste Kollerup.

Wortlos gingen sie zum Hotel. Kolle konnte warten. Wenn Onne so weit war, dann würde er ihm schon reinen Wein – oder passenderweise reines Bier – einschenken. Soweit sie es überblicken konnten, schienen die Wohnhäuser und das Hotel den Hurrikan fast schadlos überstanden zu haben.

Die Salzwiesen selber sahen natürlich nicht mehr so idyllisch aus wie vorher. Treibgut jeder Größe und Art lag herum. Sogar einige Wellblechdächer, vermutlich von einem Schuppen der Nachbarhallig. Ein großes Stück steckte wie ein abgestürztes Raumschiff schräg im Gras. Ansonsten alles das, was man nach einer Sturmflut üblicherweise immer vorfindet: Plastikflaschen, Kisten, Balken und Kanister. Und auch ein Kinderwagen, was Kolle zu denken gab. Er hoffte, dass die Mutter hoffentlich so schlau gewesen war, das Kind vorher in Sicherheit zu bringen.

„Sag mal. Hörst du das?“ Er blieb stehen und lauschte.

„Nö. Ich höre nichts.“

„Das meine ich doch!“

„Diese Ruhe?“

„Ja!“

Kein Wind, keine Möwen, selbst das Wasser lag irgendwo im Nebel völlig lautlos da. Keine Signalhörner der Schiffe. Sogar das bei einer solchen ruhigen Wetterlage kaum wahrnehmbare Wummern der Schiffsmotoren fehlte. Es war totenstill.

Die letzte Fähre ging um fünf

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