Читать книгу Der Franzmann - Ludger Koenders, Günter Wilkening - Страница 6

1. Kapitel

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Es war an einem Sonnabendnachmittag Ende März 1941, und es war sonnig und warm. Vögel zwitscherten, und flauschige Kumuluswolken schwebten bei fast windstillem Wetter langsam von Südwesten nach Nordosten, als der Bauer Karl Brammer zufrieden und innerlich gelöst von seinem Hof aus über seine Weide schlenderte, die sich östlich der Hofgebäude in einer Länge von etwa zweihundert Metern und einer Breite von etwa hundert Metern bis zu einem Bach erstreckte, der sich in nördliche Richtung schlängelte und zu dieser Jahreszeit reichlich Wasser führte, das ihm aus zahlreichen Gräben zugeführt wurde, das aber im Wesentlichen aus einem einige Kilometer entfernten, etwa dreihundert Meter hohen Bergzug kam, wo sich die Quelle befand.

Die Weide zeigte bereits ansatzweise frisches Gras, und die naturbelassenen etwa zwei bis drei Meter hohen Büsche, die sie an beiden Seiten begrenzten, aber an einigen Stellen durch große Bäume unterbrochen waren, hatten erste grüne Triebe. Nur die knorrige Eiche, die sich unweit zweier Scheunen über einen Teil der Weide ausbreitete, und der schlanke, fast haushohe Birnbaum, der etwa in der Mitte der Weide in den Himmel ragte, waren noch kahl wie in den vergangenen Wintermonaten. Der Birnbaum hatte im Laufe der Jahre eine solche Höhe erreicht, dass sich schon seit langem niemand mehr von den Hofbewohnern traute, im Herbst die reifen Birnen mit Hilfe einer Leiter zu pflücken. Man ließ sie ins Gras fallen, wo die meisten von den Kühen gefressen wurden. Nur einige wurden aufgesucht, gleich gegessen oder geschält und eingekocht.

Wiederholt blieb der Bauer stehen und genoss das sich ihm bietende idyllische Bild. Es kam nicht oft vor, dass er die Zeit fand, einen Nachmittag für sich allein zu verbringen und ungestört seinen Gedanken nachzugehen, ohne von notwendigen Arbeiten getrieben zu werden.

Kurz vor dem Bach verließ er die Weide durch ein links befindliches etwa vier Meter breites, halb geöffnetes Gatter und trat auf einen Feldweg, der jenseits der Buschreihe parallel zur Weide verlief und in westlicher Richtung zu den Hofgebäuden führte und in östlicher Richtung zu einem etwa zweihundertfünfzig Meter entfernten quer verlaufenden Weg.

An sich hatte er vor, eine Sprosse der Leiter seines Hochsitzes zu reparieren, der etwa in Höhe des Gatters unmittelbar neben dem Feldweg auf seinem Acker stand, der sich bis zum quer verlaufenden Weg erstreckte. Aber er entschloss sich in dem Moment, als er den Weg betrat, zunächst einen kontrollierenden Blick auf seine Jagdhütte zu werfen, die sich in einem Wäldchen jenseits des Baches unmittelbar vor dem quer verlaufenden Weg befand.

Auf der Brücke, die über den Bach führte, blieb er stehen und schaute einen Augenblick dem schnell fließenden Wasser nach. Dann schlenderte er weiter am rechts liegenden Wäldchen entlang, in dem zwei kleine Teiche angelegt waren, und erreichte nach wenigen Minuten die Jagdhütte, die in einer leichten Senke stand und von Büschen und Bäumen umgeben war, so dass sie nicht leicht ausgemacht werden konnte, wenn man sich ihr auf dem Weg, der zu den Hofgebäuden führte, oder dem quer verlaufenden Weg näherte. Jenseits dieses Feldweges lagen weitere Ackerflächen und eingezäunte Weiden, die ebenfalls Karl Brammer gehörten, der den Hof und die Ländereien vor zehn Jahren von seinem verstorbenen Vater geerbt hatte.

Südlich des Wäldchens und der Weide, die er soeben überquert hatte, verlief die Bahnstrecke Berlin, Hannover, Köln. Und wenn Züge auf der Trasse vorbeifuhren, waren die Geräusche sogar in der Wohnung des Bauern selbst bei geschlossenen Fenstern zu hören. Aber in diesen Augenblicken, als Karl Brammer zu seiner Hütte hinüberblickte, näherte sich kein Zug.

Die Jagdhütte, die auf einem Sandsteinsockel stand und im Bereich des Eingangs, der vom Waldboden aus über zwei Treppenstufen zu erreichen war, eine hölzerne, überdachte Terrasse hatte, war von Karl Brammers Vater gebaut worden. Elektrisches Licht gab es in ihr nicht. Bei Dunkelheit mussten sich die Benutzer mit dem schwachen Licht einer Petroleumlampe oder mehrerer Kerzen zufrieden geben. Aber sie war gemütlich eingerichtet. An den Wänden hingen Geweihe und Bilder, die Landschaften und Jagdszenen zeigten, in einem Kamin konnte an kalten Tagen für Wärme gesorgt werden, und die vier Fenster waren von bunten Übergardinen eingerahmt. Vor den Fensterscheiben waren allerdings zum Zwecke einer Verdunklung schwarze Rollos angebracht, und auf den zwei Bänken, die an beiden Seiten vor einem langen Tisch standen, lagen Sitzkissen.

Vor der Hütte, die Unterkunft für etwa zwanzig Personen bot, war eine Feuerstelle gemauert, um die herum drei aus dicken Baumstämmen geschnittene Holzscheiben lagen, die eine Höhe von etwa einen halben Meter und einen Durchmesser von etwa einen Meter hatten und die zum Sitzen und zum Abstellen von Sachen benutzt werden konnten.

Einige Schritte links vom Eingangsbereich der Hütte befand sich ein mit einem etwa einen Meter hohen Steinring versehener Brunnen, aus dem mittels einer Saugpumpe durch Heben und Senken eines Schwengels Wasser in einen kleinen steinernen Trog gepumpt werden konnte. Der Steinring war mit Ausnahme des Pumpenbereichs aus Sicherheitsgründen mit einer runden Steinplatte abgedeckt.

Für Karl Brammers Vater, der in der Nähe der Hütte sogar ein kleines, schmales Häuschen als Plumpsklo hatte aufstellen lassen, war sie ein Refugium gewesen, in das er sich insbesondere nach Jagden mit seinen Kumpanen zum Feiern, oft bis tief in die Nacht hinein, zurückgezogen hatte. Und nicht gerade wenige seiner Jagdgenossen hatten die Hütte anschließend schwankend verlassen und nach dem Eindruck des Bauern Schwierigkeiten gehabt, ihren Weg nach Hause zu finden. Karl Brammer hatte solche Jagdabschlussfeiern wiederholt miterlebt, jedoch nicht so intensiv wie sein Vater, der an der Bewirtschaftung seines Hofes nur mäßiges Interesse gezeigt hatte, aber als Bürgermeister seines Dorfes Wöhren kaum eine Gelegenheit ausgelassen hatte, an Festlichkeiten teilzunehmen und zu besonderen privaten Anlässen, wie zum Beispiel Hochzeiten und hohen Geburtstagen, die Grüße und Glückwünsche der Gemeinde zu überbringen.

Er war ein friedfertiger, hilfsbereiter, fast überall gern

gesehener und sehr geselliger Mann gewesen, der es verstanden hatte, die meisten Bewohner seines Dorfes für sich einzunehmen. Das Kommando auf dem Hof hatte im Wesentlichen seine Frau Sophie geführt, worüber Karl Brammers Vater aber im Grunde froh gewesen war. Er hatte gewusst, dass die Leitung des Hofes bei seiner Frau in guten Händen lag, hatte er doch deshalb beruhigt seinen vermeintlichen Pflichten als Bürgermeister nachgehen können.

Dann hatte ihn eine Krankheit befallen, die von seinem Hausarzt nicht hatte erklärt werden können. Er war abgemagert, hatte sich erschöpft gefühlt, hatte unerträgliche Schmerzen in der Magengegend bekommen, die durch Morphium etwas hatten gelindert werden können, und war schließlich nach etwa sechs Monaten Krankheit gestorben. Wahrscheinlich hatte er Krebs gehabt, der aber in dem kleinen Krankenhaus der in der Nähe gelegenen Stadt Grafenhagen nicht als solcher erkannt worden war. Genaues wusste der Bauer jedoch nicht über die Krankheit seines Vaters.

Der inzwischen 48 Jahre alte Karl Brammer, der sich in den Augenblicken, als er über eine kurze Treppe langsam zu seiner Hütte hinabstieg und sie von außen in Augenschein nahm, an all diese Begebenheiten erinnerte, hatte von seinem Vater das friedfertige und ausgeglichene Wesen geerbt, von seiner Mutter aber ihre Gründlichkeit, ihr Durchsetzungsvermögen und ihre Begeisterungsfähigkeit für etwas Neues und für das Moderne. Sie mischte sich trotz ihrer 75 Jahre jetzt noch gelegentlich energisch in die Belange des Hofes ein, wenn sie es für erforderlich hielt. Die Tatsache, dass ihr Sohn längst Eigentümer des Hofes war, störte sie dabei nicht. Allerdings war sie wegen ihres Alters und ihres offenen linken Beins, das sie deshalb etwas nachzog, nicht mehr in der Lage, auf dem Feld mitzuarbeiten oder schwere Arbeiten im Stall zu verrichten. Sie tat sich aber in der Küche nützlich, indem sie für den großen Haushalt Kartoffeln schälte, gelegentlich kochte und backte und - was sie für wichtig hielt - Papier, insbesondere Tüten und den wöchentlich erscheinenden "Generalanzeiger", für die Benutzer des im Stall gelegenen Plumpsklos in kleine Stücke schnitt.

Im Haus hatte sie neben der großen Diele ein schlicht eingerichtetes Wohn-Schlafzimmer, hielt sich aber tagsüber fast nur in der großräumigen Gemeinschaftsküche des Hauses auf und zu besonderen Anlässen, wie an den hohen Feiertragen und bei Verwandtenbesuchen im Wohnzimmer ihres Sohnes und seiner Familie. Nur an solchen Tagen wurde das Wohnzimmer bei Kälte mittels eines Ofens beheizt. Es dauerte jedoch jeweils Stunden, bis es einigermaßen warm und gemütlich war. In der Küche dagegen brannte im großen Herd wegen des häufigen Kochens bis zum späten Abend ein Feuer, das oft selbst am nächsten Morgen noch glühte. Dieser große Raum war deshalb an kühlen und kalten Tagen am gemütlichsten. Hier fühlte sie sich wohl.

Wenn sie allerdings von Bewohnern des Dorfes oder der Nachbardörfer aufgesucht wurde, die gegen irgendwelche Schmerzen oder Verspannungen im Rücken von ihr geschröpft werden wollten, ging sie mit ihren Patienten in ihr eigenes Zimmer und setzte hier die Schröpfköpfe, die einer kleinen metallenen Glocke ohne Schlägel ähnelten und in die ein kleines brennendes Stück Papier gelegt und sodann auf die Haut der Patienten gedrückt wurden, wo sich der Kopf, der durch das brennende Stück Papier darin luftleer gemacht wurde, festsaugte. Nach einigen Minuten wurden die Schröpfköpfe entfernt und wurde die angesaugte, blutunterlaufende Haut mit einem mehrschneidigen kleinen Gerät eingeschnitten, so dass dunkelrotes, dickes Blut aus den Schnittstellen quoll. Sophie Brammer hatte im Dorf einen guten Ruf als Schröpferin, und ihre Patienten, von denen einige sogar aus Grafenhagen kamen, spürten anschließend angeblich Erleichterung. Über mangelnde Besuche brauchte sie sich deshalb nicht zu beklagen. An manchen Tagen führte sie bis zu fünf Behandlungen durch.

Ihr mit einem Holzfußboden versehenes Zimmer, das mit einem fast zwei Meter hohen gusseisernen Ofen, einem Sofa, einem Tisch, zwei Stühlen, einem Korbsessel, einem Kleiderschrank und einem Bett ausgestattet war, suchte sie auch dann auf, wenn sie die offene Stelle ihres linken Beins mit Wundsalbe einreiben und mit frischen Lappen aus Leinen belegen wollte, die sie täglich in der Küche auskochte und dann draußen oder in der großen Diele trocknete. Von ihrem langjährigen Hausarzt, der inzwischen ebenso alt geworden war wie sie, hatte sie erfahren, dass es keine Möglichkeit gäbe, das Bein zu heilen. Sie müsse mit der großflächigen offenen Stelle an ihrem linken Unterschenkel wohl bis zu ihrem Tode leben.

Wenn sie die Leinenlappen auf der offenen Stelle des Beins wechselte, war ihr Wimmern vor Schmerzen selbst bei geschlossener Zimmertür bis auf die große Diele zu hören. Schmerzen im offenen Bein verspürte sie aber auch bei Wetterumschwüngen. Dann klagte sie bei ihrer Arbeit in der Küche wiederholt: "Es gibt anderes Wetter, es gibt anderes Wetter. Mein linkes Bein reißt wieder so."

Sophie Brammer war eine fromme Frau, die fast jeden Sonntag mit ihrem klapprigen Fahrrad zur Kirche fuhr und am Gottesdienst teilnahm. Radfahren fiel ihr leichter als gehen. Sie kannte viele Gebete aus der Bibel auswendig, insbesondere aus den Psalmen, und nicht selten hörte Karl Brammer, wenn er zufällig auf der Diele war, seine Mutter vor dem Einschlafen laut beten. Sophie Brammer hatte sich bemüht, ihren Sohn und ihre jetzt 46 Jahre alte Tochter Caroline Neuwinger, die mit einem Oberförster verheiratet war, im christlichen Sinne zu erziehen.

Karl Brammer, der inzwischen den Hüttenbereich wieder verlassen hatte und auf dem Weg zu seinem Hochsitz war, ging das alles in diesen Augenblicken durch den Kopf. Er genoß solche geruhsamen Gänge über seine Weiden und Wege. Er verspürte dann keinen Zeitdruck, konnte bewusst die Natur in sich aufnehmen und seinen Gedanken nachgehen.

Er blieb einige Male stehen und blickte zufrieden in die Runde. In der rechten Tasche seiner grauen Leinenjacke hatte er einige Nägel und einen Hammer, mit denen er eine locker gewordene Sprosse der Leiter zum Hochsitz wieder trittfest machen wollte. Unter der Jacke trug er ein weißes Leinenhemd, das am Hals aufgeknöpft war. Ein breitrandiger, keck leicht nach rechts geneigter und etwas nach vorn geschobener dunkler Hut warf einen Schatten auf die glatte, gebräunte Gesichtshaut des Bauern, und seine warme, braune Cordhose bedeckte seine grünen Gummistiefel bis in den Bereich seiner Fußknöchel.

Karl Brammer, etwa 1,80 Meter groß und stattlich aussehend, war an diesem Nachmittag mit sich und der Welt zufrieden. Er fühlte sich gesund, war Eigentümer von etwa hundert Morgen Ackerland, etwa vierzig Morgen Weide und Wald, und in den Stallungen seines Hofes warteten zweiundsechzig Schweine und Ferkel auf ihre Verwertung. Zehn Kühe sorgten für Milch und ebenso viele Rinder wuchsen heran. Vier kräftige Pferde halfen bei der Bestellung der Felder, und zahlreiche Hühner und Gänse bevölkerten den Platz vor dem Hofgebäude. Dazu besaß er ein Fahrrad, das er häufig benutzte, und eine Kutsche, die aber nur gelegentlich, vornehmlich an Sonntagen im Sommer, zum Einsatz kam. Von den drei Pferdewagen, die zum Hof gehörten, war einer ständig als Kastenwagen hergerichtet, der vorn eine Sitzbank hatte, meistens nur von einem Pferd gezogen wurde und besonders zum Transport von gefüllten Säcken, gemähtem Gras, von Ferkeln und ausgewachsenen Schweinen und von anderen Sachen eingesetzt wurde. Nicht selten fuhr Karl Brammer oder sein Knecht mit diesem Wagen aber auch zum Einkaufen nach Grafenhagen. Die zwei anderen Wagen wurden für das Einfahren von Heu und Korngarben verwandt. Sie konnten sowohl zum Leiterwagen für den Transport von Heu und Korn als auch zum Transport vom Mist hergerichtet werden. Das geschah in der Weise, dass auf die beiden Bretter, die ständig auf den zwei Achsen der Wagen lagen, rechts und links je eine Leiter mit etwa einen Meter langen Sprossen gelegt und gegen die etwas schräg nach außen ragenden Holmen auf den Achsen gelehnt wurde oder - zum Transport von Mist - statt der Leitern je ein etwa fünfzig Zentimeter breites Brett.

Darüber hinaus besaß Karl Brammer selbstverständlich Pflüge, Eggen, Walzen, einen Grasmäher, ein Gerät zum Wenden von Heu, eine Mähmaschine als Selbstbinder, die das Korn nicht nur schnitt, sondern gleich in Bunde band, sowie ungezählte Handwerksgeräte, die für den Betrieb einer Landwirtschaft unerlässlich waren.

Der Bauer war sich bewusst, dass er seinen Hof ohne die tatkräftige Mithilfe seiner zwei Jahre jüngeren Frau Lina, seiner 24 Jahre alten Tochter Anna Zurheide und seines Knechts und seiner Magd, der Eheleute Fritz und Marie Tegtmeier, nicht bewirtschaften könnte. Und er war dankbar dafür, dass die Zusammenarbeit mit ihnen bisher weitgehend reibungslos verlaufen war. Als selbstverständlich sah er das nicht an. Besonders an Tagen wie dem heutigen, wenn er allein war und ihm so manches durch den Kopf ging, wurde ihm das bewusst.

Ein leichtes Lächeln huschte über sein Gesicht, als er an seine Frau dachte, auf die er stolz war. Sie mochte zupacken und war in seinen Augen gutherzig, lebensklug und praktisch veranlagt. Ihre Freude an Geselligkeiten und ihre natürliche Fröhlichkeit, aber auch ihre zurückhaltende Hartnäckigkeit, mit der sie nicht selten ihre Vorstellungen und Wünsche bei ihm durchsetzte, begeisterten ihn immer wieder, wenngleich er Hemmungen hatte, ihr gegenüber seine Anerkennung und Empfindungen zum Ausdruck zu bringen.

Lina Brammer war ein optimistischer Mensch, der oft und gern lachte. Sie äußerte gelegentlich, dass ein Tag, an dem nicht gelacht werde, ein trauriger Tag sei. Sie verstand es, Freude zu verbreiten und ihren Angehörigen, ihren Mitarbeitern auf dem Hof und den Tagelöhnerinnen, die insbesondere zur Erntezeit für einige Tage zur Mithilfe eingesetzt wurden, die oft schwere Arbeit zu erleichtern. Karl Brammer amüsierte sich selbst nach vielen Jahren seiner Ehe noch darüber, wenn er daran dachte, dass seine Eltern zunächst gegen eine Verbindung mit Lina gewesen waren, weil sie nicht von einem Bauernhof stammte. Ihre inzwischen verstorbenen Eltern hatten nur eine bescheiden Kuhbauernstelle gehabt und hatten Zeit ihres Lebens zu den wenig Begüterten im Nachbardorf gehört. Aber es waren rechtschaffende Leute gewesen, die ihre drei Kinder zu tüchtigen Menschen erzogen hatten. Eine Schwester von Lina, die mit einem Arbeiter verheiratet war, wohnte mit ihrer Familie in Grafenhagen, und ihr Bruder lebte mit seiner Familie in Hannover, wo er als Angestellter in einer großen Firma beschäftigt war. Gegenüber Lina selbst hatten Karl Brammers Eltern jedoch nie zum Ausdruck gebracht, dass sie ihnen als Schwiegertochter nicht genehm war. Lina hatte aber gespürt, dass sie ihr gegenüber Vorbehalte gehabt hatten, jedenfalls vor der Hochzeit. Karl Brammer hatte sich jedoch bei seinen Eltern durchgesetzt und Lina geheiratet. Seine Eltern hatten dann schon recht bald nach der Hochzeit erkannt, dass Lina auf den Hof passte und sie die richtige Frau für ihren Sohn war.

Sorgen machte er sich hin und wieder über seine selbstbewusste, hübsche, gut gewachsene Tochter Anna Zurheide, die in seinem Haushalt lebte. Sie hatte nach Ansicht ihrer Eltern zu wenig Abwechslung, weil sie von morgens bis abends in den Betrieb des Hofes eingespannt war und trotz der Nähe ihrer Eltern und der Eheleute Tegtmeier zu viel allein war. Für eine junge Frau musste das auf Dauer deprimierend sein. Aber Karl Brammer konnte ihr zu seinem großen Bedauern nicht helfen. Ihr Mann war beim Militär. Tanzveranstaltungen waren seit Kriegsbeginn untersagt, und im Übrigen hatte sie auch wenig Neigung, etwas allein zu unternehmen, von der Teilnahme an Frauenveranstaltungen in der Kirchengemeinde mal abgesehen. Gottesdienste besuchte sie meistens in Begleitung ihrer Eltern und ihrer Oma, und wenn sie gelegentlich in Grafenhagen ins Kino ging, war in der Regel ihr Vater oder ihre Mutter dabei.

Anna und ihr Mann Helmut hatten im Wohnbereich ihrer Eltern ein eigenes Wohnzimmer und ein Schlafzimmer, die durch eine Verbindungstür voneinander getrennt waren. Annas drei Jahre älterer Mann diente in einem Kavallerieregiment in Ostpreußen. Er war bereits wenige Tage nach Beginn des Krieges am 1. September 1939 eingezogen worden. Zur Kavallerie war er gekommen, weil er als zweiter Sohn eines Bauern aus einem Nachbardorf von Wöhren, wo Karl Brammer wohnte, mit Pferden umgehen konnte und vor dem Krieg an zahlreichen ländlichen Reitturnieren teilgenommen hatte. Anna und Helmut hatten sich bereits zu jener Zeit kennen gelernt und im Sommer 1940 geheiratet. Es war eine große Hochzeit gewesen, die auf der Diele des Hofgebäudes gefeiert worden war. Inzwischen war Helmut Zurheide, der in der Oberschule in Grafenhagen die Mittlere Reife erworben hatte, Rittmeister, worüber seine Frau, seine Eltern, zwei Geschwister und die Eheleute Brammer mächtig stolz waren. Leider sahen sich Anna und Helmut nur etwa alle halbe Jahr mal für einige Tage. Das war nach Ansicht der Eheleute Brammer wohl der Grund dafür, dass Anna, die ihre langen, blonden Haare tagsüber am Hinterkopf zu einem Knoten gebunden hatte, zeitweise auffallend ernst war. Im Übrigen hatten Anna und Helmut nur schriftlichen Kontakt miteinander, der lediglich in wöchentlichen mehr oder weniger langen Briefen bestand, wobei schriftliche Liebeserklärungen beiden fremd waren. In ihren Briefen schilderten sie im Wesentlichen nur ihre täglichen Arbeiten und Anna darüber hinaus Neuigkeiten aus ihrer Familie und beider Geburtsorten.

Fritz und Marie Tegtmeier waren schon seit Jahren als Knecht und Magd auf dem Hof beschäftigt, schon zur Zeit von Karl Brammers Vater. Sie wohnten im Erdgeschoss der Leibzucht, die dem Hofgebäude schräg gegenüber lag, und hatten dort eine Wohnküche und ein Schlafzimmer. Beide Räume waren vom Hof aus über zwei Sandsteinstufen, sodann durch die im oberen Bereich verglaste Eingangstür aus Holz und schließlich über einen schmalen Flur zu erreichen. Rechts vom Flur war das Schlafzimmer mit einem Fenster zum Hof und links vom Flur die Wohnküche mit einem Fenster zum Hof und einem weiteren an der Westseite mit Blick auf die etwa von Süd nach Nord verlaufende Landstraße. Die Räume und der Flur waren mit einem Holzfußboden versehen. Links von den Stufen vor der Eingangstür war unter dem Wohnküchenfenster das ganze Jahr über eine Holzbank aufgestellt, die Platz für drei Personen bot.

Am Ende des Flures führte eine Tür in einen ehemaligen Stall, der vor Jahren umgebaut worden war und jetzt als Waschküche diente. Dieser Raum, der einen groben Estrichfußboden hatte und sich über die gesamte Breite der Leibzucht erstreckte, war an der Westseite und an der Nordseite mit je einem Fenster versehen und konnte auch an der Nordseite vom dort verlaufenden Feldweg durch eine einfache Stalltür betreten werden. Unter dem Fenster an der Nordseite, rechts von der nach draußen führenden Tür, stand ein alter, schon etwas wackeliger Tisch mit zwei Holzstühlen davor. Rechts davon war in einem Schrank, in dem sich bereits Holzwürmer eingenistet hatten, allerlei Geschirr zum Säubern der Wohnung und zum Waschen abgestellt. In der Ecke an der Westseite und der Nordseite, also links von der nach draußen führenden Stalltür, war das Plumpsklo, das zum Innern der Waschküche in einer Höhe von etwa eineinhalb Metern ummauert und mit einer einfachen Holztür in gleicher Höhe zum übrigen Bereich der Waschküche abgegrenzt war. Zwischen dem Klo und der Stalltür, also an der nördlichen Außenwand, befand sich eine Saugpumpe mit einem etwa achtzig Zentimeter hohen steinernen Trog davor. Durch Heben und Senken eines Schwengels konnte aus etwa drei Meter Tiefe Grundwasser angesaugt werden, das der allgemeinen Wasserversorgung der Eheleute Tegtmeier diente. Der Wasserabfluß erfolgte durch ein Metallrohr, das vom Trog aus durch die Außenwand nach draußen bis zu einer kleinen Rasenfläche an der Hauswand verlegt war. Hier konnte das Wasser versickern. Gleich neben der Rasenfläche verlief der Feldweg in Richtung Bach.

Etwa gegenüber der Pumpe und dem Trog, und zwar an der Wand, die die Waschküche von der Wohnküche der Eheleute Tegtmeier trennte, stand ein alter Herd, der im Wesentlichen zum Auskochen der Wäsche der Eheleute benutzt wurde.

An der Wand, die die Waschküche vom Schlafzimmer der Eheleute trennte, führte - von der Waschküche aus gesehen - gleich links neben der Tür zum Flur eine steile Holztreppe in das enge Dachgeschoss der Leibzucht. Hier war unter der Schräge des nördlichen Satteldaches ein kleiner Raum vom übrigen Bereich des Dachgeschosses, in dem allerlei Gerümpel lagerte, abgegrenzt. Dieser Raum, der mit einer schlichten Tür versehen war, hatte in der zum Feldweg geneigten Dachfläche ein schmales Fenster, das nur spärliches Tageslicht hereinließ, jedoch im Herbst, Winter und Frühjahr keine Sonne, weil es an der Nordseite des Daches eingebaut war. Nur im Sommer, wenn die Sonne etwa im Nordosten aufging und etwa im Nordwesten unterging, kam an sonnigen Tagen früh morgens und spät abends etwas Sonnenlicht herein.

Ihre gemütlich eingerichtete Wohnküche benutzten die Eheleute Tegtmeier tagsüber nur zwischendurch mal und abends nach Feierabend sowie an Sonn-und Feiertagen. Das tägliche Frühstück, das Mittagessen und das Abendessen nahmen Fritz und Marie Tegtmeier an Werktagen zusammen mit der Familie Brammer in deren Küche im Hofgebäude ein.

Die Eheleute Tegtmeier waren kinderlos und um die fünfzig Jahre alt. Genau wusste Karl Brammer das nicht. Geburtstage konnte er sich schlecht merken. Er verließ sich, was diese Tage anbetraf, ganz auf seine Frau, die alle Geburtstage der Familienangehörigen, zu denen sie auch die Eheleute Tegtmeier zählten, im Kopf hatte, und sie vergaß nicht zu gratulieren und ihren Hausmitbewohnern ein kleines Geschenk zu überreichen. Den entfernt wohnenden Geschwistern, Neffen und Nichten wurde mit einer Geburtstagskarte gratuliert. Ein Telefon gab es im Hause Brammer nicht. Alle notwendigen Benachrichtigungen mussten per Brief oder Postkarte vorgenommen oder mündlich überbracht werden, wobei es nicht selten erforderlich war, dass jemand aus der Familie den Empfänger der Nachricht zeitaufwendig mit einem Fahrrad aufsuchte, manchmal auch bei Dunkelheit, wenn die Arbeiten auf dem Feld und im Stall getan waren.

Fritz Tegtmeier, ein gedrungen wirkender Mann, stotterte stark, was ihn aber nicht hinderte, sich lebhaft an Gesprächen zu beteiligen. Hemmungen hatte er wegen seines Stotterns nicht. Er war etwas schlitzohrig, und gelegentlich wusste man nicht, ob seine Äußerungen ernst gemeint waren oder nicht. Wenn er lachte, und er lachte oft, klang das manchmal wie das Meckern einer Ziege. Aber auf ihn war Verlass. Karl Brammer konnte ihm vertrauen, und die Arbeiten auf dem Hof brauchten ihm nicht zugeteilt zu werden. Er wusste, was zu tun war. Im Sommer saß er an schönen Abenden häufig mit seiner Frau auf der Bank vor der Leibzucht und spielte auf seiner alten Ziehharmonika, die er von seinem Vater geerbt hatte und auf die er sehr stolz war. Manchmal gesellten sich Angehörige der Familie Brammer dazu. Nach Ansicht von Karl Brammer, der sich selbst als musikalisches Wildschwein bezeichnete, spielte er sehr gut.

Marie Tegtmeier, einige Zentimeter größer als ihr Mann, war eine schlichte Frau, die ihren Mann aber gelegentlich zurechtwies, wenn jener nach ihrer Auffassung zu sehr ins Erzählen geriet und dann keiner so recht wusste, ob er das, was er sagte, ernst meinte oder nicht.

In dem kleinen Raum im Dachgeschoss der Leibzucht, der ganz spartanisch mit einem schmucklosen Kleiderschrank, einem Tisch, zwei Holzstühlen und zwei Betten eingerichtet war, sollten ab Montag zwei Kriegsgefangene untergebracht werden, die Karl Brammer noch nicht kannte und die ihm auf seinen Antrag vom Arbeitsamt in Grafenhagen als Hilfsarbeiter zugeteilt waren. Der eine war Pole und der andere Franzose. Für Karl Brammer war der polnische Kriegsgefangene der Polacke und der französische der Franzmann. Beide waren bisher in verschiedenen Lagern untergebracht, die sich in zwei Gaststätten in Grafenhagen befanden.

Sein Antrag beim Arbeitsamt in Grafenhagen auf Zuteilung zweier Hilfskräfte war vom Landrat und vom Kreisbauernführer befürwortet worden. An sich wäre er selbst als Bürgermeister und Ortsbauernführer seines Dorfes für eine Befürwortung oder Ablehnung zuständig gewesen; da er jedoch in eigener Sache hätte entscheiden müssen, hatte er den Landrat und Kreisbauernführer eingeschaltet, die beide - wie Karl Brammer - der NSDAP, der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, angehörten. Seine beiden Parteigenossen hatten den Antrag selbstverständlich befürwortet.

Es war zunächst vorgesehen, die Gefangenen morgens unter Bewachung zum Hof zu bringen und abends wieder abzuholen. Da Karl Brammer die Gefangenen jedoch in dem kleinen Raum im Dachgeschoss seiner Leibzucht unterbringen konnte und da sich der Pole und der Franzose seit ihrer Gefangennahme angepasst verhalten hatten, inzwischen auch gut Deutsch sprachen, hatte der Bauer die Genehmigung bekommen, die beiden bei sich wohnen zu lassen. Für die Entscheidung war insbesondere auch maßgebend gewesen, dass ein Bringen und Abholen der Gefangenen im erheblichen Masse Bewachungspersonal zeitlich gebunden hätte, zumal sie die Wege von und nach Grafenhagen zu Fuß hätten zurücklegen müssen. Nur den Bewachern hätte ein Fahrrad zur Verfügung gestanden.

Beide Gefangenen sollten sich - so war dem Bauern gesagt worden - in der Landwirtschaft auskennen.

Seitens der Landesregierung war bereits einige Zeit zuvor eine vertrauliche Mitteilung an die Landräte, Kreisbauernführer, Bürgermeister, Ortsbauernführer und an die Kreisleitung der NSDAP geschickt worden, wonach die Unterbringung und Ernährung der Kriegsgefangenen so zu erfolgen habe, dass die Gefahr einer Annäherung an deutsche Staatsangehörige möglichst vermieden werde. Eine Annäherung über das unumgängliche Maß hinaus sei unerwünscht. Es sei Aufgabe der angeschriebenen Stellen, auf die Bevölkerung dahin einzuwirken, dass eine größtmögliche Zurückhaltung gegenüber Gefangenen gezeigt werde. Karl Brammer hatte sich vorgenommen, die Anordnung zu beachten.

Der Bauer hatte inzwischen den Bach überquert und seinen Hochsitz am Rande des Feldweges erreicht. Er kontrollierte die Sprossen der Leiter und erinnerte sich dabei, wie er vor Jahren zusammen mit seinem Vater und Fritz Tegtmeier den Hochsitz gebaut hatte, wozu sie Holz aus dem Wald seines Vaters verwandt hatten.

"Meine Güte", dachte er, "ist das schon lange her. Was hat sich seitdem nicht alles ereignet."

Dann schlug er mit dem Hammer zwei Nägel in eine Sprosse, die sich gelöst hatte, stieg anschließend nach oben, von wo aus er die Weide und seine Felder überblicken konnte, setzte sich auf eine schmale Bank auf der Plattform des Hochsitzes und beobachtete zwei Rehe auf seinem Feld. Für einen Augenblick dachte er auch an seinen Sohn, der gern auf den Hochsitz geklettert war, aber vor fünfzehn Jahren im Alter von zehn Jahren an einem Blinddarmdurchbruch gestorben war. Zunächst hatten er, seine Frau und seine Eltern angenommen, dass sich der Junge, als er unter Schmerzen in der Bauchgegend litt, den Magen verdorben habe. Erst als die Schmerzen für das Kind unerträglich geworden waren, hatte Karl Brammer den Hausarzt seiner Mutter benachrichtigt, der das Kind untersucht und danach sofort in seinem Auto zum Krankenhaus in Grafenhagen gebracht hatte. Eine Operation am nächsten Tag hatte den Jungen aber nicht mehr retten können, weil nach Angaben der Ärzte das Blut des Kindes bereits zu sehr vergiftet gewesen war. Karl Brammer und seine Frau hatten Jahre gebraucht, um den Schmerz über den Verlust ihres Sohnes, der als Hoferbe vorgesehen war, einigermaßen zu überwinden. Selbst heute noch nach fünfzehn Jahren litt er, wenn er an sein verstorbenes Kind dachte.

Aber der Bauer verdrängte die Erinnerung an seinen Sohn und genoss die kurze Zeit des Alleinseins an diesem Sonnabendnachmittag. Er war ein bisschen stolz auf sich, dass er mit Hilfe seiner Familie und seiner Mitarbeiter bisher nicht nur seinen Hof ertragreich bewirtschaftet hatte, sondern dass er es auch im Übrigen zu etwas gebracht hatte. Er war Bürgermeister seines etwa neunhundert Einwohner zählenden Dorfes Wöhren, war Ortsgruppenleiter und Ortsbauernführer. Freilich war ihm bewusst, dass er diese Ämter nur bekommen hatte, weil er bereits seit 1934 Mitglied der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, der NSDAP, war. Er war damals als fünfter Einwohner seines Dorfes dieser Partei beigetreten. Inzwischen waren etwa fünfzehn^Einwohner aus Wöhren Parteimitglieder. Selbst der Pastor der Gemeinde gehörte dazu. Karl Brammer war von der überörtlichen Parteiführung für seine Ämter bestimmt worden. Diskussionen darüber hatte es nicht gegeben. Allerdings hatte sich auch kein anderer gefunden, der bereit gewesem war, diese Ämter zu übernehmen, deren Ausübung viel Zeitaufwand erforderte. Karl Brammer dagegen war von vornherein bereit gewesen, der Partei und seinem Dorf zu dienen. Er war aus Überzeugung Nationalsozialist geworden und gehörte seit 1934 auch der SA, der Sturmabteilung, in Grafenhagen an.

Das Programm der Partei vom 24 Februar 1920, verkündet auf einer Massenveranstaltung im Hofbräuhaus in München, hatte er intensiv gelesen. Es hatte ihn überzeugt, und er hatte es für erforderlich gehalten, um aus den politisch chaotischen Zuständen der Weimarer Zeit herauszukommen. Die 25 Punkte dieses Programms hatte er sich vor Eintritt in die Partei zu eigen gemacht, wenngleich er Schwierigkeiten mit der Formulierung gehabt hatte, dass deutscher Staatsbürger nur sein könne, wer Volksgenosse sei, der das aber wiederum nur sein könne, wer deutschen Blutes sei, ohne Rücksicht auf seine Konfession; allerdings könne kein Jude Volksgenosse sein. Diese Formulierung hatte er nicht so richtig verstanden und verstand sie auch heute noch nicht. Aber die Frage, warum kein Jude Volksgenosse und somit kein deutscher Staatsbürger sein könne, hatte er für sich letztlich jedoch unbeantwortet gelassen, obwohl er damals einen freundlichen Juden in Grafenhagen kannte, der dort ein Textilgeschäft betrieb und bei dem er oft gekauft hatte. Dieser Kaufmann, der im Frühjahr 1939 sein Geschäft verkauft hatte und nach Nordamerika ausgewandert war - die Gründe dafür waren Karl Brammer nicht bekannt - war doch deutscher Staatsbürger und hatte sogar im Krieg 1914/18 für Deutschland gekämpft. Er gehörte nur einer anderen Religion an als die meisten Staatsbürger Deutschlands, die in ihrer Mehrheit evangelische oder katholische Christen waren. Warum sollte jener Kaufmann kein Volksgenosse und damit kein deutscher Staatsbürger sein dürfen? Karl Brammer hatte das nicht verstanden. Aber er vertraute dem Führer Adolf Hitler und ging von der Notwendigkeit und Richtigkeit dieser Formulierung aus.

Den Programmpunkt, dass nur dem Staatsbürger das Recht zustehe, über Führung und Gesetze des Staates zu bestimmen, hielt er für gut, auch die Forderung, dass jedes öffentliche Amt, gleichgültig welcher Art, gleich ob im Reich, Land oder in der Gemeinde, nur durch Staatsbürger bekleidet werden dürfe. Dabei war ihm nicht bewusst geworden, dass nach dem Parteiprogramm kein Jude Volksgenosse, somit kein Staatsbürger sein konnte und damit kein öffentliches Amt bekleiden durfte. Ihm hatte diese Formulierung des Parteiprogramms anfangs zwar etwas Unbehagen bereitet; da er aber außer dem Kaufmann aus Grafenhagen keinen Juden kannte, hatte er sich über die Konsequenzen dieses Programmpunktes keine Gedanken gemacht. Dass er viele Menschen betraf, die Deutsche waren, aber weil sie jüdischen Glaubens waren um ihre Stellung im öffentlichen Dienst und damit um ihre Lebensgrundlage fürchten mussten, kam ihm nicht in den Sinn.

Von Judenverfolgungen, insbesondere in der Nacht zum l0. 11. 1938, hatte er nur im wöchentlich erscheinenden "Generalanzeiger" gelesen. Der Propagandaminister Dr. Josef Goebbels hatte die Ausschreitungen gegen Juden in jener Nacht als Reichskristallnacht bezeichnet. Den Zynismus, der in dieser Formulierung steckte, hatte Karl Brammer nicht erkannt. Er war davon ausgegangen, dass sich der Groll der Bevölkerung in den grossen Städten gegen einzelne jüdische Schieber und Spekulanten gerichtet hatte. Hierfür hatte er ein gewisses Verständnis aufgebracht. Von Tötungen jüdischer Menschen hatte er nichts erfahren. Im Übrigen waren die grossen Städte, in denen die Verfolgungen hauptsächlich stattgefunden haben sollten, weit weg. Das galt besonders für die Reichshauptstadt Berlin, in der er noch nie gewesen war. Selbst nach Hannover, das nur etwa 50 Kilometer von Wöhren entfernt und mit der Bahn gut zu erreichen war, kam er höchstens einmal im Jahr und nur dann, wenn er mit seiner Frau deren Bruder und dessen Familie besuchte. Die Arbeiten auf seinem Hof ließen einen Besuch in Hannover nur selten zu und dann auch nur für einen Tag im Winter. Abgesehen davon fühlte er sich in der Großstadt nicht so recht wohl. Es war ihm dort alles zu eng, die relativ kleine Wohnung seines Schwagers und seiner Schwägerin und die Straßenschluchten.

In Grafenhagen hatte es nach seiner Kenntnis keine Judenverfolgungen gegeben. Allerdings hatte er gehört, dass einige Juden vor etwa drei Wochen von der Polizei abgeführt worden seien. Selbst gesehen hatte er das aber nicht. Was mit ihnen geschehen war, wusste er nicht. Über die Verhaftung hatte er sich jedoch weiter keine Gedanken gemacht. Er war mehr im Unterbewusstsein davon ausgegangen, dass es sich um Kriminelle gehandelt habe.

Auch die weiteren Programmpunkte der NSDAP hatten seine volle Zustimmung gefunden, und er hielt sie auch jetzt noch nach Beginn des Krieges für richtig: So die Forderung nach Gleichberechtigung des deutschen Volkes gegenüber anderen Nationen, die Forderung nach Land und Boden (Kolonien) zur Ernährung des deutschen Volkes und die Verpflichtung des Staates, in erster Linie für die Erwerbs- und Lebensmöglichkeit der Staatsbürger zu sorgen, und wenn das nicht möglich sei, Nichtstaatsbürger aus dem Land zu weisen. Auch der Programmpunkt, die Einwanderung Nichtdeutscher zu verhindern, fand seine Zustimmung, ebenso der, dass der Einzelne nicht gegen die Interessen der Allgemeinheit verstossen dürfe, dass Gemeinnutz vor Eigennutz gehen müsse, die Forderung nach einem großzügigen Ausbau der Altersversorgung und nach der Schaffung eines gesunden Mittelstandes. Den rücksichtslosen Kampf gegen Verbrecher, Wucherer und Schieber sowie gegen diejenigen, die das Gemeininteresse schädigen, stimmte er voll und ganz zu. Die Forderung, besonders veranlagte Kinder armer Eltern ohne Rücksicht auf deren Stand und Beruf auf Staatskosten auszubilden, fand ebenfalls seine Zustimmung, ebenso die zugesicherte Freiheit aller religiösen Bekenntnisse im Staat, sofern sie nicht dessen Bestand gefährdeten oder gegen das Sittlichkeits- und Moralgefühl der germanischen Rasse verstoßen würden.

Der Programmpunkt, dass die Partei den Standpunkt eines positiven Christentums vertrete, ohne sich konfessionell an ein bestimmtes Bekenntnis zu binden, beruhigte seine religiösen Gefühle. Schließlich hatte er bei der Prüfung des Parteiprogramms vor seinen Eintritt in die Partei die Forderung nach einem Verbot der Jugendarbeit, nach einer körperlichen Ertüchtigung der Jugend mittels gesetzlicher Festlegung einer Turn- und Sportpflicht und nach der Bildung eines Volksheeres und der Schaffung einer starken Zentralgewalt des Reiches befürwortet.

Die zahlreichen Fragen, die sich ihm hinsichtlich einzelner Punkte des Parteiprogramms hätten stellen sollen, hatte er bisher nicht erkannt, auch nicht die Gefährlichkeit des Programms für die Freiheit der einzelnen Bürger. Er hatte die Forderungen und die Zusicherungen allgemein für gut und notwendig befunden, und Fragen dazu waren ihm nicht eingefallen.

Seine Frau Lina und seine Tochter Anna hatten bisher wenig Interesse für Politik gezeigt, was ganz in seinem Sinne war. Es genügte, wenn sich in der Familie nur er allein politisch betätigte, wenn auch nur im ganz kleinen dörflichen Rahmen, wenn er gelegentlich die politische Situation im Kreise seiner Familie erklärte und wenn die anderen mehr oder weniger widerspruchslos zuhörten.

Kein politisches Interesse zeigte auch seine Magd Marie Tegtmeier.

Bei Fritz Tegtmeier war sich Karl Brammer hinsichtlich der politischen Einstellung seines Knechtes nicht im Klaren. Hin und wieder hatte jener schon mal ironische Bemerkungen gemacht, die Karl Brammer nicht gepasst hatten, weil sein Knecht mit diesen Äußerungen Zweifel an der Redlichkeit des Parteiprogramms und den Zielen der Regierung zum Ausdruck gebracht hatte. Es hatte ihm aber fern gelegen, daraus irgendwelche Konsequenzen für seinen Knecht zu ziehen.

Da Karl Brammer der SA angehörte, besaß er natürlich eine entsprechende Uniform, die er bisher stolz bei Parteiversammlungen in Grafenhagen und bei besonderen Anlässen, zum Beispiel bei der Beerdigung eines Parteigenossen und am Heldengedenktag im November, getragen hatte, wenn er bei den Trauerfeiern und am Kriegerdenkmal seines Dorfes eine Rede halten musste, was ihm an sich nicht lag, was er aber als seine Pflicht als Ortsgruppenleiter, Ortsbauernführer und Bürgermeister ansah, der er sich nicht entziehen konnte.

Darüber hinaus besaß er einen dunklen und einen grauen Anzug, dessen linke Revers jeweils ein Parteiabzeichen der NSDAP zierte. Beide Anzüge hatte er sich vor Jahren bei einem Schneidermeister in Grafenhagen anfertigen lassen, der ihm von Zeit zu Zeit auch Cordhosen und Arbeitsjacken schneiderte. Die Anzüge passten ihm heute noch, wie er bei jedem Tragen mit Genugtuung feststellte. Einige Parteigenossen von ihm hatten dagegen im Laufe der Zeit zu seiner Schadenfreude einen solchen Umfang angenommen, dass sie gezwungen gewesen waren, ihre Anzüge und ihre SA-Uniform wiederholt ihrem neuen Körperumfang anzupassen.

Als Karl Brammer gerade im Begriffe war, den Hochsitz zu verlassen, hörte er von der Weide aus Richtung seines Hofes laute Rufe eines Mädchens: "Onkel Karl! Onkel Karl!"

Von einer Sprosse der Leiter zum Hochsitz blickte er erschrocken in die Richtung, aus der die Rufe kamen. Er glaubte, es sei etwas Schlimmes passiert. Dann sah er in etwa fünfzig Meter Entfernung seine Nichte Liesel, die sechzehn Jahre alte Tochter seiner Schwester Caroline Neuwinger, und deren gleichaltrige Freundin Hilde Bartels. Beide besuchten die Oberschule in Grafenhagen und näherten sich nun laufend dem Hochsitz.

Karl Brammer stieg die Leiter hinab und erwartete, auf dem Feldweg stehend, die beiden Mädchen, die außer Atem waren, als sie den Hochsitz erreichten.

"Was ist denn passiert?" fragte er immer noch in der Befürchtung, es sei etwas Schlimmes geschehen.

Liesel stammelte erschöpft: "Onkel Karl, Onkel Karl, Claus hat das Ritterkreuz bekommen. Er hat einige Tage Sonderurlaub erhalten und kommt heute Abend mit dem Zug in Grafenhagen an. Papa holt ihn vom Bahnhof ab."

Beide Mädchen strahlten Karl Brammer an, der befreit lachend erwiderte: "Ich freue mich riesig, Kinder. Aber ich habe schon seit einiger Zeit damit gerechnet. Nach 35 Luftsiegen war diese Auszeichnung fällig. Sag deinen Eltern und Claus, dass ich heute Abend zu ihnen komme."

"Ist das nicht toll, Onkel Karl? Wir alle sind stolz auf ihn," rief Liesel begeistert.

"Ja, das stimmt," ergänzte Hilde, "wir alle sind sehr stolz auf ihn." Und etwas verlegen fügte sie hinzu: "Ich bewundere ihn sehr, Herr Brammer."

Karl Brammer bemerkte nicht, dass dem Tonfall zu entnehmen war, dass Claus für Hilde mehr bedeutete als nur der Bruder ihrer Freundin, dass sie für ihn Zuneigung empfand.

"Ist Mama auch stolz auf Claus?" fragte Karl Brammer vorsichtig.

Er stellte diese Frage, weil er wusste, dass seine Schwester Caroline nicht damit einverstanden gewesen war, dass sich ihr Sohn 1938 nach dem Abitur freiwillig zur Luftwaffe gemeldet hatte, und dass sie voller Angst um ihn war. Auch stand sie dem Krieg und der nationalsozialistischen Bewegung kritisch gegenüber, wie Karl Brammer zahlreichen Äußerungen seiner Schwester entnommen hatte.

"Ich glaube ja," erwiderte Liesel etwas zögernd und wunderte sich über die Frage ihres Onkels.

Dann fügte sie hinzu: "Wir müssen gleich wieder weg, weil wir noch zu einer Freundin wollen. Tante Lina und Anna wissen schon Bescheid."

"Na, dann man los. Ich nehme an, dass ihr mit dem Fahrrad gekommen seid," bemerkte Karl Brammer lächelnd.

"Heil Hitler, Onkel Karl. Bis heute Abend."

Die beiden Mädchen hoben den rechten Arm und liefen gleich darauf den Weg zurück, den sie gekommen waren.

"Heil Hitler," rief Karl Brammer ihnen nach.

Beide Mädchen gehörten dem Bund Deutscher Mädel, dem BDM, an und waren nach dem Eindruck des Bauern mit Eifer dabei.

Franz Neuwinger, Liesels Vater, 50 Jahre alt und Oberförster im Dorf Brinke, etwa drei Kilometer von Wöhren entfernt, war Karl Brammers Schwager. Er war auch Parteigenosse, aber ohne besondere Aufgaben in der NSDAP. Er gehörte jedoch nicht der SA an. So richtig begeistert über den Krieg und über die Ziele der Nationalsozialisten war er nach Karl Brammers Eindruck nicht. Jener war wohl nur deshalb der Partei beigetreten, weil ihm ein Beitritt seitens der Parteiführung und seiner Vorgesetzten nahegelegt worden war und weil er als Beamter keine Schwierigkeiten mit der Verwaltung und der Partei haben wollte. Im Übrigen war er, anders als seine temperamentvolle Frau, ein reservierter Mensch, der sich mit kritischen Äußerungen über den Krieg und über die Partei zurückhielt und sich am Wohlsten fühlte, wenn er im Wald und hinter dem Schreibtisch seiner Arbeit nachgehen konnte.

Im Gegensatz zu Karl Brammer, der kein Auto hatte, besaß sein Schwager einen betagten Lieferwagen, der zur Försterei gehörte und den er gelegentlich auch privat benutzen durfte. Maximal vier Personen - außer dem Fahrer - fanden im Führerhaus Platz, hinter dem sich noch eine kleine Ladefläche befand.

Karl Brammer war Pate zu Claus Neuwinger, der wider erwarten, aber seinem Wunsche entsprechend, bei der Luftwaffe angenommen und dann nach seiner Ausbildung für die Jagdfliegerei bestimmt worden war. Wahrscheinlich war er, wie Karl Brammer vermutete, auf Grund seiner überdurchschnittlichen fliegerischen Fähigkeiten zu den Jagdfliegern gekommen. Er flog eine Messerschmitt Me 109, das damals schnellste Jagdflugzeug der Welt. Karl Brammer war auch deshalb stolz auf seinen Neffen, weil jener bescheiden und ruhig auftrat und nicht im Geringsten überheblich wirkte. Bereits während des kurzen Polenfeldzuges hatte er es auf acht Abschüsse gebracht und war gleich danach vom Leutnant zum Oberleutnant befördert worden. Im "Generalanzeiger", der Heimatzeitung aus Grafenhagen, war damals ein Foto von ihm in Uniform erschienen und waren seine Abschüsse und seine Beförderung besonders erwähnt worden. Hinzu kam, dass er gut aussah und auf Grund all dieser Umstände eine gewisse Arroganz anderen gegenüber hätte zeigen können. Nein, Claus war der brave Junge seiner Eltern geblieben, der er schon während seiner Kindheit und seiner Schulzeit gewesen war. Das gefiel Karl Brammer, und deshalb war ihm sein Neffe ans Herz gewachsen.

Nach dem Sieg über Polen war das Jagdgeschwader, dem Claus Neuwinger angehörte, an die deutsche Westgrenze verlegt worden. Von hier aus hatte er fünf französische Flugzeuge abgeschossen und nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Holland, Belgien und Frankreich am 10. 5. 1940 noch einmal sieben. Nach dem Sieg über Frankreich während der so genannten Luftschlacht um England im Sommer 1940 war Claus an der Kanalküste stationiert, und von hier aus hatte er deutschen Bombern, die nach England flogen, Geleitschutz geben müssen. Während dieser Flüge hatte er weitere feindliche Flugzeuge abgeschossen. Schon beim dreißigsten Luftsieg hatte Karl Brammer damit gerechnet, dass sein Neffe das Ritterkreuz erhalten würde. Aber erst nach dem 35, Abschuss war es nun so weit. Der Bauer war über die Luftsiege seines Neffen deshalb so gut informiert, weil ihm jener von Zeit zu Zeit geschrieben und ihn über seine Erfolge informiert hatte. Claus hatte das auf Wunsch seines Onkels getan. Der "Generalanzeiger" hatte über die Auszeichnung seines Neffen noch nichts geschrieben. Aber Karl Brammer war sicher, dass am kommenden Freitag in der neuen Ausgabe der Zeitung ein Bericht mit einem Foto von Claus stehen würde.

Der Bauer ging schnellen Schrittes auf dem Feldweg neben der Weide, die jetzt links von ihm lag, in Richtung seines Hofes. Er wollte noch die am Vortag erschienene Zeitung lesen, dann Abendbrot essen und anschließend mit seinem Fahrrad die Familie seiner Schwester besuchen.

Der Feldweg führte an seinem Ende rechts an der Leibzucht vorbei, in der Fritz und Marie Tegtmeier ihre Wohnung hatten, und mündete dann in einem Linksbogen auf den ungepflasterten Hof, der an der Ostseite von einer Scheune begrenzt wurde, die im rechten Winkel zur Leibzucht stand, und im Süden von einer etwa sechzig Meter langen Gebäudefront, bestehend aus einer weiteren Scheune, einem unmittelbar angrenzenden Stallgebäude und dem Bauernhaus.

Die Leibzucht und die übrigen Gebäude, die alle ein Satteldach hatten und mit rotbraunen Ziegeln gebaut waren, vermittelten den Eindruck eines zur Landstraße hin offenen Quadrats.

In der im rechten Winkel zur Leibzucht stehenden Scheune waren auf dem Lehmfußboden die Pferdewagen und die größeren Arbeitsgeräte des Bauern untergebracht, und auf dem großräumig wirkenden Dachboden, der mit Hilfe einer Leiter durch eine Luke erreichbar war, wurden auf dicken Holzdielen die im Sommer eingefahrenen Korngarben bis zum Dreschen im Herbst gelagert.

In der anderen kleineren Scheune, die ebenfalls nur einen Lehmfußboden hatte, stand die Kutsche und waren verschiedene Kleingeräte und die Fahrräder der Familie Brammer und der Eheleute Tegtmeier abgestellt, und in einer Ecke hatte sich Karl Brammer eine Werkstatt eingerichtet, in der notwendige Reparaturarbeiten an den landwirtschaftlichen Geräten und den Fahrrädern durchgeführt wurden. Auf dem mit dicken Brettern ausgelegten Dachboden, auf den man über eine Leiter durch eine Luke gelangen konnte, waren Heu, Stroh und Korn gelagert.

Die mit Sandsteinen eingefassten, zweiflügeligen und nach außen zu öffnenden Holztore beider Scheunen waren so breit und hoch, dass ein mit Heu oder Stroh voll beladener Leiterwagen hindurch passte.

Die baulich mit dem Stallgebäude und dem Bauernhaus verbundene Scheune wurde von der Familie Brammer und den Eheleuten Tegtmeier zur Unterscheidung von der anderen als kleine Scheune bezeichnet, während die quer zum Hof stehende die große Scheune war.

Zwischen der großen und der kleinen Scheune führte ein knapp drei Meter breiter Durchgang auf die Weide, die sich parallel zum Feldweg bis zum Bach hin erstreckte. Für ein Pferdefuhrwerk war dieser Durchgang jedoch zu schmal.

Karl Brammer suchte die kleine Scheune auf, legte den Hammer und die nicht verbrauchten Nägel in seiner Werkstatt ab, prüfte die Luft in den Reifen seines Fahrrades und ging anschließend auf einem etwa zwei Meter breiten, betonierten, unmittelbar an der Außenmauer des Stallgebäudes und einer Mistkuhle entlang führenden Weg zum vierflügeligen, nach innen zu öffnenden Holztor seines Wohnhauses. Auch dieses Tor, das ebenfalls mit Sandsteinen eingefasst war, in dessen oberen waagerecht liegenden Stein die Jahreszahl 1849 eingemeißelt war, war so breit und hoch, dass ein voll beladener Leiterwaren hindurch fahren konnte.

Die beiden oberen Flügel des Eingangstores waren in der Regel verriegelt. Nur wenn ein mit Stroh oder Heu beladenes Pferdefuhrwerk auf die Diele gefahren werden sollte, wurden sie geöffnet. Auch der untere, vom Hof aus gesehen linke Flügel war meistens geschlossen. Der untere rechte Flügel dagegen stand, wenn nicht gerade Regenwetter oder Frost herrschte, tagsüber offen, um ein ungehindertes Betreten und Verlassen der Diele zu ermöglichen.

Der Bauer betrat durch den unteren rechten Torflügel die etwa zwanzig Meter lange und etwa sechs Meter breite, mit Bruchsteinen gepflasterte Diele seines Hauses, die rechts und links mit verputzten Steinen ausgefülltes Fachwerk versehen war, dessen wuchtige Balken schwarz gestrichen waren, ebenso die Deckenbalken, die die dicken Bretter des Dachbodens zu tragen hatten, der von der Diele aus durch eine Luke zu erreichen war.

Als Karl Brammer in der Diele war, warf er durch eine offen stehende Tür einen kurzen Blick nach rechts auf die Stallgasse, an der sich zu beiden Seiten je zwei Boxen befanden, in denen seine Pferde untergebracht waren. Da er niemand auf der Stallgasse sah, schloss er die Tür und ging weiter in Richtung seiner Wohnung, vorbei an der Tür, die, an den Pferdestall grenzend, in das Wohn-Schlafzimmer seiner Mutter führte. Etwa gegenüber konnte man durch eine Tür in das Stallgebäude gelangen, in dem sich die Schweine und Kühe des Bauern befanden. Auch die tagsüber frei laufenden Hühner und Gänse hatten hier ihren Stall. Von den beiden Gängen zwischen den Stallungen führte je eine Tür zu dem betonierten Weg, der von der kleinen Scheune entlang dem Stallgebäude und der Mistkuhle verlief. Eine weitere Tür an der Hinterseite des Stallgebäudes, und zwar eine große, hölzerne Schiebetür, ermöglichte es, die Kühe von ihrem Standort aus gleich auf die Weide zu treiben, die sich bis zum Bach hin erstreckte.

In der Ecke der Außenwand zum Hof und der Wand, die das Stallgebäude von der kleinen Scheune trennte, befand sich das Plumpsklo der Familie Brammer, das nach vorn zu einem Gang hin offen, im Übrigen aber durch eine nur etwa einen Meter hohe Mauer zu den Stallungen abgegrenzt war, so dass Benutzer des Klos beim Sitzen fast den gesamten Stallraum überblicken konnten. Das Aufsuchen des Klos während der Nacht war jedoch so umständlich, dass niemand bereit war, sich vom Schlafzimmer aus im Nachthemd dort hinzubegeben, zumal der Stallbereich nur schwach beleuchtet war und hin und wieder eine Maus oder sogar eine Ratte auf den Gängen herum huschte. Die zum Hof gehörenden zwei Katzen konnten das nicht verhindern, obwohl sie gelegentlich eine Maus oder eine Ratte fingen und tot bissen. In den Schlafzimmern im Wohnbereich des Bauern und seiner Tochter stand deshalb unter jedem Bett ein Nachttopf, der im Bedarfsfall benutzt werden konnte. Auch Sophie Brammer hatte unter ihrem Bett einen solchen Topf

Der Boden über den Stallungen konnte von einem Gang aus über eine Leiter durch eine Luke erreicht werden. Hier wurden Heu, Stroh und Korn gelagert, das ohne Schwierigkeiten durch die Lukenöffnung auf den Stallgang herabgelassen und sodann zu den Tieren gebracht werden konnte. Die beiden Böden über der kleinen Scheune und den Stallungen waren durch eine Tür miteinander verbunden.

Karl Brammer betrat durch eine Tür, die sich einige Schritte rechts vom Eingang zum Stall befand, die große Waschküche und wusch sich dort unter einer Schwengelpumpe die Hände. Das aus etwa drei Meter Tiefe angesaugte Wasser aus dieser Pumpe, unter der ein steinerner Trog aufgestellt war, diente hauptsächlich der Versorgung der Tiere, wurde aber auch von den Bewohnern des Hauses zur Körperreinigung, zum Säubern der benutzten Gerätschaften, zum Wäschewaschen, Einkochen und beim Schlachten und Wursten im Winter verwandt. In der Waschküche, die auch durch je eine Tür vom Stall aus und von der Weide aus betreten werden konnte, standen zwei Schränke, ein Tisch, mehrere Stühle, waren Milchkannen und größere Haushaltsgeräte abgestellt und befand sich ein breiter Herd mit einem Kupferkessel. Ein großes Fenster sorgte tagsüber für ausreichendes Licht und ließ einen Blick auf die links befindliche Rückwand des Stallgebäudes und der kleinen Scheune sowie über die Weide bis zum Bach hin zu.

Bevor Karl Brammer den Flur in seinem Wohnbereich betrat, der etwa zehn Zentimeter höher als der ebenerdige Fußboden der Diele lag, zog er die Gummistiefel aus und schlüpfte in seine Hausschuhe, die vor einer etwa einen Meter hohen Mauer standen, die den Wohnbereich von der Diele trennte, und zwar zusammen mit zahlreichen in Holz eingerahmten kleinen buntglasigen Fenstern, die übereinander auf die Mauer gesetzt waren und bis zur Decke reichten.

Am Anfang seiner Ehe hatte der Bauer noch den Flur und die anderen Räume seiner Wohnung ohne Bedenken mit Gummistiefeln oder mit Arbeitsschuhen betreten. Aber seine Frau hatte ihn nach der Hochzeit vorsichtig beigebracht, Arbeitsschuhe und Gummistiefel schon auf der Diele, spätestens aber im Flur der Wohnung, auszuziehen und sich nur in Hausschuhen oder in sauberen Ausgehschuhen in den Wohnräumen zu bewegen, um dort unnötige Verunreinigungen zu vermeiden. Diese ursprünglich schlichte Bitte der damals noch jungen Bäuerin hatte sich allmählich zu einer ernsten Anordnung entwickelt, die auch für die Tochter Anna und die Eheleute Tegtmeier galt, die deshalb eigene Hausschuhe auf der Diele vor der Mauer stehen hatten. Einige Schwierigkeiten darüber hatte es anfangs jedoch mit Karl Brammers Vater gegeben, der seine Gewohnheit, den Wohnbereich selbst mit schmutzigen Arbeitsschuhen und Gummistiefeln zu betreten, zunächst nicht hatte aufgeben wollen. Aber mit Hilfe ihrer energischen Schwiegermutter war es Lina Brammer nach einiger Zeit gelungen, auch ihren Schwiegervater von der Zweckmäßigkeit eines solchen Verhaltens zu überzeugen. Jener war dem Wunsch seiner Schwiegertochter und seiner Frau dann sogar peinlich genau nachgekommen.

Karl Brammer betrat durch die etwa in der Mitte der Mauer und der Buntglasfenster befindliche Tür seinen großräumigen Flur, der sich quer zur Diele und auch noch über die Tiefe des Wohn-Schlafzimmers seiner Mutter bis zur Außenwand des Hauses erstreckte. Durch ein hier befindliches Fenster konnte man über eine zwischen dem Gebäude und der Landstraße gelegene kleine Grasfläche einen Teil der Straße überblicken. Einige Schritte vor diesem Fenster befand sich links der Eingang zum Wohnzimmer der Eheleute Brammer und rechts der Eingang zu ihrem Schlafzimmer.

Am gegenüberliegenden Ende des Flures war der Eingang zum Wohnbereich ihrer Tochter und ihres Schwiegersohnes, deren Schlafzimmer vom Wohnzimmer aus jedoch nur durch eine Verbindungstür erreicht werden konnte. Das gemütlich eingerichtete Wohnzimmer der Eheleute Zurheide, das an die Waschküche grenzte, war mit einem Fenster versehen, durch das man etwa den gleichen Blick hatte wie durch das Waschküchenfenster.

Auf dem Flur standen zwei Schränke, die vorn allerlei kunstvolle Drechselarbeiten aufwiesen und in die oberhalb der zweiflügeligen Tür die Jahreszahl 1890 beziehungsweise 1893 und der Name Sophie Brammer eingeschnitzt waren. Den einen Schrank hatte Sophie Brammer zu ihrer Hochzeit und den anderen zur Geburt ihres Sohnes Karl erhalten.

Vom Flur führte eine Holztreppe in das Obergeschoss des Hauses, in dem sich eine große Räucherkammer befand, ferner ein Abstellraum mit zahlreichen zur Zeit nicht benötigten Gegenständen und zwei einfachen Schränken, die zur Aufbewahrung von selten benutzter Kleidung der Eheleute Brammer und Zurheide dienten, und ein weiterer Raum, in dem im Herbst Obst gelagert wurde und im Winter nach dem Schlachten Würste und Schinken aufgehängt wurden. Schließlich war im Obergeschoss ein nicht beheizbares kleines Zimmer, das nur mit einem Bett, einem Tisch und einem Stuhl ausgestattet war. In diesem Raum übernachtete Karl Brammer gelegentlich, wenn er nach Versammlungen oder nach Jagden zu einer Zeit nach Hause kam, zu der seine Frau schon schlief und er sie nicht stören wollte.

Karl Brammer hängte seinen Hut und seine Jacke an einen zwischen den beiden Schränken stehenden Kleiderständer und betrat anschließend durch eine Tür, die sich etwa gegenüber der Tür zur Diele befand, die große Küche, nahm den "Generalanzeiger" vom Vortag vom Küchenschrank, setzte sich an den etwa in der Mitte des Raumes stehenden, mit einem Wachstuch belegten langen Tisch, breitete die Zeitung darauf aus und begann zu lesen. Um den Tisch herum standen sechs einfache Holzstühle, und etwa einen Meter über der Tischplatte hing eine Lampe an einer Kette, die unter der Zimmerdecke befestigt war. Die Glühbirne hatte - wie alle Glühbirnen im Haus und im Stallgebäude - nur eine geringe Leuchtkraft, so dass die Küche bei Dunkelheit nur schwach ausgeleuchtet wurde. Aber Karl Brammer brauchte an diesem späten Nachmittag noch kein künstliches Licht.

Seine Frau, seine Tochter und die Eheleute Tegtmeier waren zu dieser Zeit noch im Stall beim Füttern und Melken. Nach einigen Minuten jedoch erschien Lina Brammer in der Küche, um das Abendessen vorzubereiten. Sie füllte einen Kessel mit Wasser aus einer Schwengelpumpe, um Muckefuck, einen Ersatzkaffee, für das Abendessen zu kochen, und setzte den Kessel auf die heiße Platte des Küchenherdes, der - vom Zimmer aus gesehen - rechts von der Eingangstür stand. Die Pumpe mit einem etwa einen Quadratmeter großen steinernen Becken davor befand sich zwischen zwei Fenstern, durch die es schon bei schwachem Wind und besonders im Winter mächtig zog. Das Wasser konnte aus dem Becken durch ein Metallrohr abfließen, das durch die Hauswand geführt und draußen im Erdboden in einem leichten Gefälle bis zum Graben an der Landstraße verlegt war. Solange kein Frost herrschte, machte der Abfluss keine Probleme. Bei starkem Frost jedoch war das Wasser in den vergangenen Jahren schon wiederholt im Rohr gefroren und nicht abgeflossen. In diesen Fällen wurde das unverbrauchte Wasser aus dem Becken geschöpft und in einem Eimer zur Mistkuhle gebracht. Das Wasser aus der Pumpe, das durch Drücken eines Schwengels aus etwa drei Meter Tiefe angesaugt wurde, diente nicht nur der Versorgung der Familie Brammer für die Mahlzeiten, sondern auch zur Reinigung der Familienmitglieder, wozu es im Becken mittels eines Stöpsels gespeichert werden konnte. Auf dem Rand des Beckens lagen ständig ein Stück Kernseife und drei Waschlappen. Links neben dem Becken hingen drei Handtücher an einem kurzen Brett an der Wand, und über dem Becken war ein kleiner Spiegel angebracht. In einer schmalen, länglichen Schüssel, die auf der Fensterbank links von der Pumpe stand, lagen ständig drei Kämme. Auch war hier ein kleiner Holzbecher mit drei Zahnbürsten und einer Tube Zahnpasta abgestellt. Ein Badezimmer mit einer Dusche oder einer Badewanne gab es im Hause Brammer nicht.

"Setz dich aufs Sofa, Karl," bat Lina Brammer ihren Mann, "ich möchte den Tisch decken."

Karl Brammer kam der Bitte seiner Frau schweigend nach. Er erhob sich etwas schwerfällig von seinem Platz am Küchentisch und setzte sich in die Ecke eines Sofas, das an der einen Stirnwand der Küche stand, und legte die Zeitung auf den runden Tisch davor. Besonders an Winterabenden saß er nach Feierabend gern hier, las, nicht selten zum zweiten Mal, den "Generalanzeiger" oder ein Buch, für das er jedoch meistens den ganzen Winter benötigte, oder hörte Nachrichten oder Musik aus dem kleinen schwarzen Volksempfänger mit dem Hakenkreuz unter dem hellen, runden Tuch vor dem Lautsprecher. Das Radio stand auf einem Regal, das über dem Sofa an der Wand angebracht war. Rechts daneben hing eine Pendeluhr, und links neben dem Sofa zur Fensterseite hin stand eine Stehlampe. Es war Karl Brammers Lieblingsplatz, von dem aus er die Küche überblicken und die Arbeiten der Frauen beobachten konnte. Ihm fiel es jedoch nicht ein, seiner Frau beim Tischdecken zu helfen. Er hielt diese Arbeit für eine Frauensache. Nur ganz selten hatte er in der Vergangenheit vor den Mahlzeiten mal Geschirr und Lebensmittel auf den Tisch gestellt oder nach dem Essen beim Abräumen oder Abwaschen geholfen. Kochen und Backen kamen für ihn sowieso nicht in Frage.

Nach einigen Minuten sagte er: "Ich fahre nach dem Essen nach Brinke, um Claus zum Ritterkreuz zu gratulieren. Kommst du mit?"

Insgeheim hoffte er jedoch, dass seine Frau nein sagen würde.

"Ich möchte schon; aber ich bin zu kaputt. Außerdem habe ich noch einiges in der Küche und im Stall zu tun. Fahr du man allein und gratuliere Claus von mir," erwiderte Lina Brammer.

"Schade," entgegnete der Bauer scheinbar enttäuscht. Im Grunde war er jedoch froh darüber, dass seine Frau zu Hause bleiben wollte. Wenn sie ihn nach Brinke begleiten würde, so befürchtete er, würde sie bereits nach etwa einer Stunde zur Rückfahrt drängen, um nicht zu spät ins Bett zu kommen. Ihm selbst war es jedoch egal, wann er an diesem Abend wieder zu Hause sein würde.

Alsbald nach dem kurzen Gespräch mit seiner Frau erschien die Tochter Anna, die ihrer Mutter ohne Aufforderung beim Tischdecken half.

"Habt ihr im Stall die Fenster verdunkelt?" wollte Karl Brammer wissen, und seine Tochter antwortete darauf, die Rollos vor den Fenstern seien heruntergezogen.

Karl Brammer stellte diese Frage, weil von der Regierung angeordnet worden war, schon bei Beginn der Dämmerung alle Fenster in den Gebäuden zu verdunkeln, um feindlichen Flugzeugen bei Nacht keine Orientierung durch Licht zu geben. Ein Verstoß gegen diese Anordnung konnte bestraft werden. Bisher hatte der Bauer jedoch noch keine feindlichen Flugzeuge gesehen oder gehört. Er war im Übrigen davon überzeugt, dass es im weiteren Verlauf des Krieges auch keinem feindlichen Flugzeug gelingen würde, tief in des Reichsgebiet einzufliegen, allenfalls etwas über die Grenze.

"Steht schon etwas über die Verleihung des Ritterkreuzes an Claus im 'Generalanzeiger'?“ fragte Anna.

"Ich habe noch nichts gelesen. Nächsten Freaitag wird aber wohl darüber berichtet werden," entgegnete ihr Vater.

"Ich freue mich für Claus. Meine Güte, fünfunddreißig Abschüsse. Wie hat er das nur gemacht?" äußerte Anna bewundernd

"Ja, Claus muss ein großartiger Jagdflieger sein, sonst hätte er das nicht geschafft," bemerkte Karl Brammer stolz und faltete die Zeitung zusammen. "Ich hoffe, dass er mir nachher etwas über seine Luftkämpfe erzählt."

In diesem Moment kamen auch Sophie Brammer und die Eheleute Tegtmeier in die Küche. Es war inzwischen achtzehn Uhr geworden. Sophie Brammer setzte sich leise stöhnend auf einen Stuhl an den Küchentisch. Während Marie Tegtmeier mithalf, den Tisch zu decken, nahm ihr Mann auf dem Sofa neben Karl Brammer Platz.

"Wa wa was sa sa sagst du zu Cl Cl Claus, Ka Ka Karl?" stotterte er. "Er ist ei ei ein to to toller Jun Jun Junge, da da dass er in die die diesem AI AI Alter schon da da das ei ei eiserne Kreu Kreu Kreuz beko ko kommen hat."

"Und ist dabei so bescheiden", ergänzte Marie Tegtmeier, während der Bauer seinen Knecht missmutig ansah.

"Ba ba bald wird er da da das ei ei eiserne Kr Kr Kreuz am Ba Ba Bande krie krie kriegen," fügte Fritz hinzu und grinste dabei.

"Rede nicht einen solchen Unsinn, du Töffel," fuhr Karl Brammer ihn-ärgerlich an. "Du weißt doch genau, dass Claus das Ritterkreuz bekommen hat und nicht das eiserne Kreuz."

"Da da das ist do do doch a a aber auch aus Ei Ei Eisen," reagiert Fritz Tegtmeier amüsiert darauf. "Und e e egal, ob ei ei eisernes Kreuz o o oder Ri Ri Ritterkreuz, bei bei beide Kr Kr Kreuze werden am Ba Ba Bande getra tra tragen."

"Du redest schon wieder Quatsch," ärgerte sich Karl Brammer und äffte jetzt seinem Knecht nach: "Da da das eiserne Kr Kr Kreuz wird a a an der Ii 1 i linken Ja ja Jackenseite getragen, du Knallkopf. Das Ritterkreuz vorn am Hals an einem Band."

"U u unter dem He He Hemd oder da da darüber?" fragte Fritz Tegtmeier scheinbar ernst.

"Es hat keinen Zweck, sich mit dir darüber zu unterhalten," knurrte der Bauer verärgert.

Dann fragte er die Frauen: "Seid ihr fertig? Können wir uns setzen?"

Fritz Tegtmeier lachte vor sich hin. Sein Lachen hörte sich wieder mal wie ein Meckern an.

"Halte dich zurück," ermahnte Marie Tegtmeier ihren Mann, "und ziehe nicht alles ins Lächerliche, die Auszeichnung, die Claus erhalten hat, schon gar nicht. Er ist ein Held."

"Ein He He Held?" fragte Fritz Tegtmeier zweifelnd wie im Selbstgespräch. "Ein gut gut guter Flie Flie Flieger ja. Aber ein He He Held?"

"Ihr könnt kommen", rief Lina Brammer mit lauter Stimme zu den beiden Männern hinüber und fügte energisch hinzu: "Aber ich möchte, dass diese albernen Streitereien aufhören."

Die beiden Männer setzten sich schweigend zu den Frauen an den Tisch und begannen, sich Butterbrote zu schmieren.

Karl Brammer war über seinen Knecht so verärgert, dass er ihm am liebsten einen Tritt in den Hintern gegeben hätte. Aber er unterdrückte seinen Ärger. Er wusste, dass jener sich häufiger in ähnlicher Weise an einem Gespräch beteiligte.

Draußen war es noch ausreichend hell, so dass die Küchenlampe nicht eingeschaltet zu werden brauchte.

Nach einer Weile sagte Fritz Tegtmeier todernst: "Heute Mo Mo Morgen ha ha haben sie Sennen Hei Hei Heinrich und sei sei seine Po Po Polin ab ab abgeholt."

"Wer hat die beiden abgeholt?" wollte Karl Brammer wissen und legte sein Butterbrot, das er in der rechten Hand hatte, auf den Tisch. Er dachte jetzt nicht mehr an die vorangegangenen ironischen Äußerungen seines Knechts.

"Die Ge Ge Gestapo, die ge ge geheime Sta Staatspo po polizei, ha ha habe ich ge ge gehört." quälte Fritz Tegtmeier aus seinem Mund.

"Warum denn das? Und von wem weißt du das?" fragte der Bauer erschrocken und war jetzt konzentriert wach. Er verspürte bei den Angaben seines Knechts ein großes Unbehagen. Heinrich Senne kannte er sehr gut. Er bewirtschaftete einen etwas kleineren Hof etwa fünfhundert Meter vom Hof Brammer entfernt. Er war zwar kein Parteigenosse, aber Karl Brammer hielt ihn für einen ehrlichen Deutschen, der allerdings politisch uninteressiert war.

"Mein Gott, warum sind die beiden denn verhaftet worden?" fragte Sophie Brammer besorgt, und alle hielten mit dem Essen inne und blickten irritiert auf den Knecht.

"Da da das ha habe ich von Gu Gu Gustav, seinem Kn Kn Knecht, ge ge gehört, der hier vor vor vorhin mit seinem Fahr Fahr Fahrrad vor vor vorbeige ge gefahren ist. Der war ga ga ganz auf auf aufgeregt."

"Und warum wurden die beiden abgeholt?" wollte Lina Brammer wissen. "Was haben sie denn getan?"

"Sie so so sollen zusam sam sammen ins Bett gega ga gangen sein," presste Fritz Tegtmeier aus sich heraus. "Das ist mei mei meines Wi Wi Wissens nicht er er erlaubt."

Dann fügte er etwas grinsend hinzu, während die anderen betroffen schwiegen und ihn anblickten: "Po Po Polaken dü dü dürfen ja nicht ein ein einmal Omnibu bu busse be be benutzen und Fahr Fahr Fahrrad fahren, es sei denn, sie ha ha haben da da dafür eine be be besondere Ge Ge Genehmigung. Ver Ver Veranstaltungen dü dü dürfen sie auch nicht be be besuchen, kei kei kein Kino, kei kei keine Gast Gast Gaststätte, keine Tanz Tanz Tanzver ver veranstaltung. Dann darf ein rein rein rein ra ra rassiger Arier schon gar nicht ei ei eine Po Po Polin vö vö vögeln. Da da das ist ver ver verboten."

Die anderen schwiegen bestürzt.

Nach kurzer Pause fügte Fritz Tegtmeier hinzu: "Sennen Hei Hei Heinrichs Fremdar ar arbeiterin ist sehr hü hübsch und noch jung. Ich glaube, sie ist erst Mi Mi Mitte drei drei dreißig. In die hätte ich mich auch vergu gu vergucken können."

Der Knecht blickte etwas belustigt in die Runde, als erwartete er eine Reaktion der anderen.

"Meine Güte, was wird die Gestapo mit den beiden machen," erklärte Marie Tegtmeier besorgt. "Sennen Heinrich muss doch gewusst haben, dass er das nicht durfte."

Karl Brammer blickte nachdenklich wie erstarrt auf den Tisch, während die Frauen voller Erwartung auf den Knecht schauten. Ihm war bewusst, dass er gegenüber der Gestapo machtlos war und für seinen Kollegen Senne kaum etwas tun konnte.

"Na na natürlich hat er das ge ge gewusst," fuhr Fritz Tegtmeier wie im Selbstgespräch fort und ergänzte schmunzelnd, wobei er weiter sein Butterbrot aß: "Im Übrigen war ja nicht zu ü ü übersehen, da da dass es sich bei der Fr Fr Frau um eine Po Po Polin ha ha handelt. Sie mu mu musste ja immer ein "P" in einem fünf mal fünf Zentimeter großen Qua Qua Quadrat aus Stoff tra tra tragen, das auf der Sp Sp Spitze steht und an ihrer Kl Kl Kleidung auf der re re rechten Brust Brust Brustseite fest fest festgenäht ist. Das Qua Quadrat ist vi vi violett um um umrandet und ha ha hat einen gelben Grund. Das "P" selbst ist auch vi vi violett. Das "P" für Po Po Polin war auch für Se Se Sennen Hei Hei Heinrich nicht zu über über übersehen."

Danach schwieg er einen Augenblick und fügte dann ernst hinzu: "Aber da da das wisst ihr ja alles. Ihr ke ke kennt ja die Po Po Polin. Bei Bei Beide tun mir sehr Lei Lei Leid."

Fritz Tegtmeier aß weiter und wartete auf eine Reaktion der anderen, die ihn immer noch ungläubig anblickten. Nur Karl Brammer hatte den Kopf gesenkt und starrte weiterhin auf den Tisch. Wenngleich sein Knecht die Bemerkungen in etwas ironischer Weise gemacht hatte, so war ihm doch klar, dass die Situation für Heinrich Senne sehr gefährlich war, für seine Fremdarbeiterin sowieso.

"Karl, kannst du dich nicht für Sennen Heinrich einsetzen, kannst du nichts für ihn tun?" unterbrach Sophie Brammer nach einiger Zeit das betroffene Schweigen. "Er ist doch ein fleißiger, treuer Deutscher. Der darf doch nicht so einfach von seinem Hof genommen werden. Mein Gott, wer soll die ganze Arbeit machen, jetzt, da die Frühjahrsbestellung los geht?"

Sophie Brammer blickte auf ihren Sohn, der weiterhin wie teilnahmslos am Tisch saß.

"Junge," ergänzte sie nach einer Weile, "kannst du ihm nicht helfen? Wie sollen seine Eltern und sein Knecht den Hof bewirtschaften? Beide sind doch schon etwa 70, und der Knecht Gustav ist auch schon um die 60. Du bist in der Partei, Bürgermeister, Ortsgruppenleiter und Ortsbauernführer. Wenn ihm einer helfen kann, dann bist du das."

Karl Brammer hob langsam den Kopf, blickte etwas hilflos in die Runde und antwortete mit leiser Stimme: "Wie soll ich das denn machen? Wir haben nicht einmal ein Telefon im Haus. Keiner in der Nachbarschaft hat Telefon. Ich müsste mit dem Fahrrad zur Polizei nach Grafenhagen fahren. Aber das würde nichts nützen. Sennen Heinrich und die Polin wurden von der Gestapo abgeholt. Sie sind längst nach Hannover gebracht."

Danach schwieg er einen Moment und fuhr dann mit leicht zitternder Stimme fort: "Ich möchte wissen, welches Schwein ihn angezeigt hat. Man hätte die Angelegenheit unter vier Augen regeln und die Polin vom Hof nehmen können."

"Gu Gu Gustav, sein Kn Kn Knecht, war es be be bestimmt nicht," stammelte Fritz Tegtmeier, "für den le le lege ich mei mei meine Ha Ha Hand ins Feu Feu Feuer."

Nach einer Weile erklärte er: "Se Se Sennen Hei Hei Heinrich und die Po Po Polin ha ha hatten schon lä lä länger was mit mit miteinander. Gu Gu Gustav hat bei bei beide schon mal im ver ver vergangenen He He Herbst auf dem Bo Bo Boden im Stroh er er erwischt. Da Da Das hat er mir da da damals er er erzählt. A A Aber an an angezeigt hat er ihn be be bestimmt nicht. Da bin ich si si sicher."

"Meine Güte, meine Güte, was wird daraus," klagte Marie Tegtmeier. "Wenn ich an Heinrich Senne denke, schmeckt mir das Essen nicht mehr. Warum hat er sich nur mit der Polin eingelassen? Er wusste doch, dass das verboten ist."

Nach kurzem Schweigen stieß Karl Brammer erregt hervor: "Heinrich muss mit Konzentrationslager rechnen, und der Polin droht sogar die Todesstrafe. Das ergibt sich aus den Polenerlassen vom 8. März 1940. Die habe ich Ende März 1940 zur Kenntnisnahme und Beachtung erhalten. Außerdem wurden sie im "Generalanzeiger" bekannt gegeben."

"Und wenn du dich an den Bürgermeister von Grafenhagen oder sogar an den Landrat wendest?" fragte seine Frau zögernd.

"Weißt du wie Bürgermeister Fricke und Landrat Wegener über die Polen denken? Die würden keinen Finger für die beiden rühren. Im Gegenteil, wenn ich mich für Heinrich einsetzte oder gar für die Polin, würden sie mich verdächtigen, nicht linientreu zu sein," erklärte Karl Brammer resigniert. "Fricke spricht von der polnischen Gefahr, von polnischen Elementen, er hält die Polen für wild und unbeherrscht, besonders unter Alkoholeinfluss. Die Polen stellten einen Rassenmischmasch dar und seien charakterlich minderwertig, sie seien innerlich zerrissen, wankelmütig und haltlos, sie könnten nur durch eine starke Faust gebändigt werden. So etwa hat er sich vor einigen Wochen auf einer Parteiversammlung geäußert. Der Landrat hat sich ähnlich ausgedrückt, als wieder einmal über die Polenerlasse gesprochen wurde. Beide sind bis auf die Knochen linientreu. Nein, von den beiden ist keine Hilfe zu erwarten. Die Polizisten Heinz und Warnecke aus Grafenhagen würden sagen, sie seien nicht zuständig, und würden mich an die Gestapo in Hannover verweisen. Außerdem denken sie ähnlich wie Fricke und Wegener über die Polen,“

Die am Küchentisch sitzenden Personen aßen schweigend und betroffen weiter ihre Butterbrote, Karl Brammer aber auffallend langsam. Er machte dabei einen etwas geistesabwesenden Eindruck.

Seine Tochter Anna unterbrach nach einiger Zeit das Schweigen und sprach leise wie zu sich selbst: "Ich verstehe das alles nicht. Heinrich Senne ist seit drei Jahren Witwer. Er hat also keinen Ehebruch begangen, als er sich mit der Polin einließ. Vielleicht hat er sie sogar geliebt, vielleicht sie ihn auch. Sie hat sich wie eine Mutter um seinen fünfjährigen Sohn gekümmert. Ich verstehe das alles nicht. Ich weiß, dass sie sehr fleißig ist, unverheiratet, eine freundliche, fröhliche Frau, die sich auf dem Hof wohl fühlte und schon gut Deutsch spricht. Es kann doch nicht sein, dass sich Heinrich nur deshalb nicht mit ihr einlassen durfte, weil sie ein polnische Fremdarbeiterin ist."

"Das ist verboten," unterbrach Karl Brammer seine Tochter erregt. "Verdammt noch mal, das ist verboten. Und Heinrich wusste das."

"Warum ist es denn verboten, Papa? Kannst du mir das mal erklären?" fragte seine Tochter mit leicht zitternder Stimme. "Dabei ist die Polin nicht einmal Kriegsgefangene. Sie hat mir erzählt, sie sei in ihrem Heimatort auf der Straße festgenommen und nach Deutschland gebracht worden. Einfach so."

"Wir sind im Krieg," versuchte Karl Brammer etwas gereizt zu erläutern, "wir sind im Krieg, und so etwas ist verboten. Mehr kann ich dazu nicht sagen."

Danach aßen alle am Tisch schweigend weiter. Karl Brammer spürte, dass er für seine Tochter nicht überzeugend argumentiert hatte. Er ärgerte sich darüber. Dann fiel ihm plötzlich aber noch etwas ein, von dem er meinte, seiner Tochter zusätzlich als Erklärung sagen zu müssen: "Der Chef der deutschen Polizei, der Reichsführer SS, der Schutzstaffel also, will den Geschlechtsverkehr zwischen fremdvölkischen Arbeitskräften und deutschen Volksgenossen deshalb nicht, weil er eine Gefährdung des rassischen Bestandes des deutschen Volkes befürchtet. Das ist doch verständlich. Oder nicht?"

Ein bisschen kam er sich wie ein Parteiredner vor, als er diesen Standpunkt vortrug. Er spürte aber, dass für seine Tochter auch diese Antwort unbefriedigend war. Sie blickte ihren Vater ungläubig an und schwieg.

Fritz Tegtmeier dagegen konnte sich die Bemerkung nicht verkneifen: "Hei Hei Heinrich Hi Hi Himmler, der Chef der deu deu deutschen Po Po Polizei, ist ein klug klug kluger Mann, der wei wei weiß schon, wa wa warum er so etwas ver ver verbietet."

Fritz Tegtmeier sagte das mit einem leicht ironischen Unterton und grinste etwas.

"Woher weißt du denn, dass er ein kluger Mann ist? Du kennst ihn doch gar nicht," hielt Marie Tegtmeier ihrem Mann vor.

"So so sonst wäre er nicht Po Po Polizeichef ge ge geworden," antwortete Fritz Tegtmeier, immer noch leicht grinsend, "für da da das ga ga ganze groß groß großdeutsche Reich so so sogar. O o oder glaubst du, ein du du dummer Kerl wäre in ei ei eine so so solche Ste Ste Stellung geko ko kommen?"

Um Karl Brammer abzulenken, stellte Fritz Tegtmeier nach einigen Augenblicken die Frage: "Ko ko kommen denn nun ü ü übermo mo morgen der Po Po Polake und der Fran Fran Franzmann, Ka Karl?"

"Zwischen sieben und acht werden beide gebracht," antwortete der Bauer etwas unwirsch. "Schlafen werden sie in der Leibzucht oberhalb der Waschküche. Der Raum reicht für sie aus. Aber warum erzähle ich das. Wir haben das ja schon längst besprochen."

"Und wo sollen sie essen?" fragte Lina Brammer vorsichtig. "Darüber haben wir noch nicht gesprochen."

Ihr Mann schwieg und blickte etwas irritiert auf den Tisch.

"Doch wohl nicht in ihrem Zimmer, Karl. Der Raum ist nicht beheizbar und zu weit von der Küche weg," gab Lina Brammer zu bedenken.

"Wir können sie doch auch nicht auf der Diele, im Flur oder gar im Stall essen lassen", unterstützte Sophie Brammer ihre Schwiegertochter, "auch nicht in der Waschküche, die nur hin und wieder beheizt wird."

"Da da dann bleibt ja nur noch eu eu euer Wo Wo Wohnzimmer", amüsierte sich Fritz Tegtmeier, "oder die Kü Kü Küche."

"Das Wohnzimmer kommt nicht in Frage. Auch in meinem Wohnzimmer will ich sie nicht haben", schaltete sich Anna Zurheide in das Gespräch ein.

"Da da dann ko ko kommt nur noch die Kü Kü Küche in Be Be Betracht", ergänzte Fritz Tegtmeier und blickte erwartungsvoll in die Runde. Alle merkten, dass er das Gespräch nicht ernst nahm.

"Du solltest dich da raus halten," riet Marie Tegtmeier ihrem Mann etwas verärgert, "das sind nicht unsere Bohnen."

"Karl, wie soll es denn nun werden?" wiederholte Lina Brammer nach einem Augenblick des Schweigens ihre eingangs gestellte Frage.

Alle blickten Karl Brammer an, der noch immer verunsichert auf den Tisch starrte und dann nach einiger Zeit darauf hinwies, dass es verboten sei, Kriegsgefangene zusammen mit Deutschen am selben Tisch essen zu lassen.

„Es ist verboten," wiederholte er etwas ratlos, "daran kann ich nichts ändern, und an dieses Verbot müssen wir uns halten."

"Aber Karl, denk doch mal an die Mehrarbeit für mich, wenn ich auch noch in einem anderen Raum auftischen muss," gab seine Frau zu bedenken. "Diese dauernden Laufereien. Ich bin sowieso schon von morgens bis abends auf den Beinen. Außerdem wäre es mir ehrlich gesagt unangenehm, wenn die beiden woanders als in der Küche essen müssten. Sie helfen uns doch, und vielleicht sind es anständige Männer, vielleicht haben sie zu Hause sogar eine Familie."

Karl Brammer fühlte sich erneut in die Enge getrieben. Einerseits leuchteten ihm die Argumente seiner Frau ein, andererseits wusste er aber auch, dass für die Regierung eine allzu große Nähe der Kriegsgefangenen zur deutschen Bevölkerung unerwünscht war, dass ein gemeinsames Essen an einem Tisch sogar verboten war. In diesem Augenblick waren das zufriedene Gefühl, das er während seines Weges zum Hochsitz und zur Jagdhütte empfunden hatte, und die Freude über das seinem Neffen verliehene Ritterkreuz dahin. Er fühlte sich unwohl in seiner Haut und blickte verunsichert auf den Tisch. Er wünschte sich, er wäre schon mit seinem Fahrrad unterwegs zur Familie seiner Schwester. Erst die schockierende Nachricht über die Verhaftung seines Kollegen Heinrich Senne, dann die Auseinandersetzung mit den Frauen darüber, wo die beiden Kriegsgefangenen essen sollen. Ihm reichte es für heute. Er schluckte den letzten Bissen seines Butterbrotes hinunter und wollte gerade aufstehen, als seine Mutter mit energischer Stimme erklärte: "Karl, Lina hat Recht. Es ist für sie unzumutbar, in zwei verschiedenen Räumen aufzutischen. Du deckst doch den Tisch nicht. Ihr Männer setzt euch nur hin und esst. Um das Auftischen, Abräumen und Abwaschen kümmert ihr euch nicht, dreimal am Tag muss das erledigt werden, dreimal am Tag. Ihr habt keine Ahnung, wie viel Zeit dafür aufgewendet werden muss. Dann erwartet ihr auch noch, dass wir Frauen kräftig im Stall und auf dem Feld mithelfen und eure schmutzige Wäsche waschen. Ich habe noch nie erlebt, dass einer von euch an Waschtagen mal mit angefasst hat. Nein, Karl, es kommt nicht in Frage, dass in zwei verschiedenen Räumen aufgetischt wird. Wir werden alle in der Küche essen, auch die Kriegsgefangenen."

Karl Brammer schien sich unter den Worten seiner Mutter zu ducken. So bestimmend kannte er sie schon seit Jahrzehnten, wenngleich sie in den vergangenen Monaten auffallend zurückhaltend gewesen war. Bereits sein Vater hatte die energische Art seiner Mutter zu spüren bekommen. Aber jener hatte sie geduldig ertragen, und Karl Brammer hatte nie den Eindruck gehabt, dass sein Vater darunter gelitten hatte. Jener hatte wohl gespürt, dass seine Frau im Grund herzensgut war, und meistens waren ihre Auffassungen ja auch zutreffend gewesen. Karl Brammer fühlte sich unwohl im Blickpunkt seiner Tischnachbarn und schwieg.

Dann ergriff Fritz Tegtmeier amüsiert lächelnd das Wort: "Bra bra bravo, Sophie. Du ha ha hast mir aus der See See Seele gespro spro sprochen. Ich ma ma mache dir einen Vor Vor Vorschlag, Karl. Lass den Po Po Polaken und den Franz Franz Franzmann doch an dem run run runden Tisch vor dem So So Sofa essen. Bis da da dahin sind es nur ein paar Schri Schri Schritte mehr. So so soweit ich weiß, ist es nur ver ver verboten, mit den Ge Ge Gefangenen am sel sel selben Tisch zu essen, aber im sel sel selben Zi Zi Zimmer ist es nicht ver ver verboten."

Fritz blickte in die Runde und wartete auf eine Reaktion der anderen, die alle auf Karl Brammer schauten. Jener aber schwieg weiter.

"Das wäre doch eine Lösung, Karl," versuchte Lina Brammer ihren Mann zu einer Antwort zu bewegen. "Ich bin mit dem Vorschlag einverstanden."

"Karl, sag endlich was," forderte seine Mutter ihren Sohn energisch auf, "wir wollen eine Antwort von dir haben."

"Papa, ich bin auch der Meinung, dass der Vorschlag von Fritz eine Lösung ist," redete Anna auf ihren Vater ein. "Bist du damit einverstanden?"

Karl Brammer richtete sich auf und brummte gerade noch verständlich für die anderen: "Meinetwegen."

Dann erhob er sich vom Stuhl und erklärte kurz: "Ich fahre jetzt nach Brinke zu Claus."

Er war froh, dass für ihn das unbehagliche Gespräch zu Ende war. Innerlich dankte er jedoch seinem Knecht, dass jener den Vorschlag mit dem runden Tisch vor dem Sofa gemacht hatte. Diesen Essplatz glaubte er für die beiden Kriegsgefangenen akzeptieren und auch gegenüber seinen Parteigenossen und der Polizei rechtfertigen zu können. Er war sich darüber im Klaren, dass irgendwann ein Außenstehender mitbekommen würde, wo die Gefangenen aßen. Wenn das am Küchentisch zusammen mit seinen Angehörigen und den Eheleuten Tegtmeier sein würde, hätte er Schwierigkeiten mit der Polizei und der Partei bekommen. Davon war er überzeugt.

Bevor Karl Brammer die Küche verließ, kicherte Fritz Tegtmeier: "Da da dann spei spei speisen der Po Po Polake und der Franz Franz Franzmann ja zwei zwei zweiter Kla Kla Klasse, wir da da dagegen dritter Kla Kla Klasse."

"Speisen, speisen! Was ist denn mit dir los? Willst du plötzlich den feinen Dachs spielen?" reagierte Karl Brammer höhnisch. "Den Ausdruck speisen habe ich von dir ja noch nie gehört. Und was meinst du mit zweiter und dritter Klasse?"

"Na ja, die Ge Ge Gefangenen sitzen da da dann vor vor vornehm auf dem So So Sofa beim E E Essen, wäh wäh während wir auf Holz Holz Holzstühlen am Ti Ti Tisch sitzen müssen. Zwei zwei zweiter Kia Kla Klasse i i isst man nicht, da spei spei speist man."

Karl Brammer erwiderte darauf nichts. Er fühlte sich aber von seinem Knecht auf den Arm genommen. Er öffnete die Küchentür, verließ den Raum und knallte verärgert die Tür hinter sich zu, während seine Frau verhalten lachte und die anderen Frauen schmunzelten. Fritz Tegtmeier blickte triumphierend in die Runde, erhob sich dann und zog die Rollos vor den Fenstern herunter, während seine Frau die Lampe über dem Tisch anschaltete. Draußen war es inzwischen dämmerig geworden.

Karl Brammer zog im Flur seine schwarzen Ausgehschuhe und eine Lodenjacke an, band einen Schal um seinen Hals, setzte seinen Hut auf, ging durch die Diele nach draußen und sodann auf dem betonierten Weg neben der Mistkuhle an den zwei Stalltüren vorbei in die kleine Scheune, in der sein Fahrrad stand. Er schob es auf den Hof, schaltete den Dynamo an und fuhr sodann vom Hof nach rechts auf die Landstraße, die nach links zur etwa zweieinhalb Kilometer entfernten Kleinstadt Grafenhagen führte.

Die Lampe am Fahrrad gab nur spärliches Licht, da ihr Glas bis auf ein kleines längliches Rechteck mit schwarzer Farbe abgedunkelt war. So war es vorgeschrieben, um feindlichen Flugzeugen so wenig Lichtquellen wie möglich zu bieten. Aber es war erst dämmerig, so dass Karl Brammer im Augenblick noch nicht unbedingt Licht am Fahrrad benötigte. Im Übrigen leuchtete der zunehmende Mond am südöstlichen Himmel die Fahrbahn und die Sommerwege rechts und links davon im genügenden Maße aus. Im Grunde konnte er seine Fahrradlampe ausschalten; aber es war Vorschrift, schon bei Dämmerung und erst recht bei Dunkelheit mit Licht zu fahren. Und Karl Brammer wollte diese Vorschrift befolgen.

Die leicht gewölbte Landstraße, auf der er fuhr, war trotz der Teerung uneben und hatte an zahlreichen Stellen Schlaglöcher. Er musste aufpassen, dass er nicht in ein solches Loch geriet und ihm das Lenkrad aus der Hand gerissen wurde.

Rechts und links der Straße waren die Umrisse der Hofgebäude seiner Bauernkollegen in der Dämmerung zu erkennen. Aber nirgendwo war ein Licht zu sehen. Alle hielten sich an die Verdunklungsvorschriften. Um ihn herum war es still. Nur hin und wieder drang das Bellen eines Hundes zu Karl Brammer herüber, der gleichmäßig schnell auf der verlassenen Straße fuhr. Als er an dem Hof seines Berufskollegen Heinrich Senne vorbeikam, hatte er für einen Moment den Gedanken, dessen Eltern aufzusuchen und sich nach den Einzelheiten der Festnahme ihres Sohnes zu erkundigen. Aber er verwarf ihn sofort wieder, weil er befürchtete, dass die Eltern ihn drängen würden, sich für die Freilassung ihres Sohnes einzusetzen. Ihm war jedoch bewusst, dass er nichts für Heinrich tun konnte, so Leid ihm das tat. Und irgendwelche Hoffnungen wollte er in den Eltern nicht wecken, was aber nach seiner Einschätzung der Fall gewesen wäre, wenn er sie schon einige Stunden nach der Verhaftung von sich aus aufsuchen würde. Karl Brammer ging davon aus, dass Heinrichs Eltern ohnehin in den nächsten Tagen bei ihm zu Hause auftauchen und ihn bitten würden, sich für die Freilassung ihres Sohnes einzusetzen. Hinzu kam, dass er so schnell wie möglich zu seinem Neffen Claus wollte. Wenn er die Eltern seines^Kollegen aufsuchte, würde er sie vor mindestens einer halben Stunde nicht wieder verlassen können. Diese Zeit wollte er nicht opfern, zumal er machtlos war und keine Möglichkeit zur Hilfe sah.

"Hoffentlich kommt bald heraus, wer Heinrich angezeigt hat," dachte er. Aber gleichzeitig war ihm seine Hilflosigkeit gegenüber dieser Person bewusst. Was konnte er gegen sie unternehmen, ohne in den Verdacht zu geraten, ein Abweichler von der Parteilinie oder gar ein Polensympathisant zu sein.

Karl Brammer bog von der Landstraße nach links ab und sah vor sich an der rechten Seite der Straße die Umrisse der etwa um 1890 mit Sandsteinen erbauten Dorfkirche. Rechts daneben stand dunkel das ebenfalls mit Sandsteinen erbaute Pfarrhaus mit je einem großen Kastanienbaum davor und an der rechten Seite. Die beiden Bäume, die zu dieser Jahreszeit noch ohne Blätter waren und deren Höhe das Dach des zweigeschossigen Pfarrhauses erreichten, wirkten wie schützende Hüllen. Wenn sie belaubt waren, machten sie das Haus und den Vorgarten zu einem Idyll.

Die Turmuhr schlug gerade sieben Mal, als Karl Brammer an der Kirche vorbei fuhr, in der er getauft, konfirmiert und getraut worden war. Auch sein verstorbener Sohn und seine Tochter waren in ihr getauft worden, seine Tochter auch konfirmiert und getraut.

Karl Brammer war kein regelmäßiger Kirchgänger; aber mindestens einmal im Monat ging er zusammen mit seiner Frau an Sonntagen in den Gottesdienst, in manchen Monaten auch zweimal, insbesondere dann, wenn seine Mutter, die nahezu jeden Sonntag mit ihrem Fahrrad zur Kirche fuhr, ihn drängte, mal wieder etwas für sein Seelenheil zu tun. Dann entsprach er meistens ihrem Wunsch, obwohl ihm bewusst war, dass seine Partei nicht gerade Verständnis für allzu häufige Kirchenbesuche ihrer Mitglieder aufbrachte. Aber Karl Brammer war im christlichen Glauben aufgewachsen, und es würde ihm widerstreben, wenn er den Gottesdiensten völlig fernbleiben müsste. Nein, dazu wäre er trotz seiner Parteizugehörigkeit letztlich auch nicht bereit gewesen. Schwierigkeiten hatte er wegen seiner gelegentlichen Kirchenbesuche bisher jedoch in seiner Partei nicht gehabt. Vielleicht lag das daran, dass der Wöhrener Pastor Kuhlmann selbst Parteigenosse war und jener bei Gottesdiensten auf der linken Seite seines Talars sogar das Parteiabzeichen trug. Auch schloss er in seine Gebete stets den Führer und die Soldaten an der Front und in Feindesland mit ein. Für die strammen Anhänger des Nationalsozialismus war das eine Genugtuung, andere jedoch, das war Karl Brammer bewusst, empfanden bei diesem offenen Bekenntnis ihres Pastors zum Nationalsozialismus ein Unbehagen.

Gleich nach der Kirche ging die bis hier noch geteerte Straße in einen Schotterweg über. Karl Brammer musste jetzt beim Fahren noch vorsichtiger sein, denn die zahlreichen Schlaglöcher waren hier tiefer als auf der Landstraße. Dazu war es inzwischen dunkel geworden.

Nach etwa hundertfünfzig Metern Fahrt erreichte er den von einer Hecke umgebenen Friedhof, der - in seine Fahrtrichtung gesehen - links vom Weg lag. Das hölzerne Tor war geschlossen. Gleich dahinter stand die kleine Kapelle, die jetzt im Dämmerlicht etwas gespenstisch wie aus dem Boden gewachsen wirkte.

Karl Brammer stieg vom Fahrrad und blickte einige Augenblicke auf das nur undeutlich erkennbare Gräberfeld. Irgendwo in der Mitte war sein Sohn begraben und im rechten Bereich sein Vater. Er spürte für einen Moment eine tiefe Traurigkeit über den frühen Tod seines Kindes. Er dachte aber auch an seinen Vater, der mit fünfundsechzig Jahren gestorben war. Einige Jahre hätte er noch leben können, hatte Karl Brammer in der Vergangenheit wiederholt gedacht. Aber im Vergleich zu seinem Sohn war sein Vater uralt geworden.

Karl Brammer schob sein Fahrrad, bis er am Friedhof vorbei war, und stieg dann wieder auf. Nach etwa hundert Metern Fahrt überquerte er auf einer Brücke den Mittellandkanal und radelte dann zunächst an Weiden vorbei, die sich links und rechts vom Weg ausdehnten. Alsbald danach erreichte er ein rechts liegendes kleines Waldstück. Links davon breitete sich eine große mit Draht eingezäunte Weide aus, und nach dem Waldstück tauchte rechts wieder eine Weide auf, bis er schließlich nur noch durch Wald fuhr. Der Bauer mochte diese Strecke, bot sie doch am Tage bis zu den Waldrändern reichlich freie Sicht nach beiden Seiten. Für ihn war es ein schöner Weg, den er tagsüber beim Fahren genoß, sei es mit seinem Fahrrad oder gelegentlich mit einem Pferdewagen. Meistens benutzte er diese Strecke jedoch im Sommer, wenn er, häufig zusammen mit seiner Frau, seine Schwester und ihre Familie in Brinke besuchen wollte.

Nach einer Fahrt von etwa zehn Minuten durch den Wald tauchten die ersten roten Backsteinhäuser von Brinke auf, ein Dorf mit etwa fünfundzwanzig Häusern und gut hundert Einwohnern. Die meisten Männer des Dorfes arbeiteten in der Forstwirtschaft, einige in einer Drahtfabrik und in einer Weberei in Grafenhagen sowie in der Landwirtschaft auf einem Gutshof in der Nähe von Grafenhagen und bei Bauern in Wöhren und Mirbke. Einige Männer waren aber auch schon zum Militär eingezogen. Das Dorf war vor etwa hundert Jahren vom seinerzeit regierenden Fürsten für seine Forstarbeiter gegründet worden. Damals gehörte der Wald dem Fürsten, jetzt war er Staatsforst. Das Dorf war im Laufe der Jahre mehr und mehr gewachsen. Es war völlig von Wald umgeben, der sich rundherum in einer Tiefe von mindestens einen Kilometer erstreckte. Es war ein ruhig gelegenes Dorf, das nur über zwei einigermaßen feste Schotterwege Verbindung zu zwei anderen Dörfern und zu Grafenhagen hatte. Der eine Weg, auf dem Karl Brammer gekommen war, führte nach Wöhren und von hier weiter nach Grafenhagen und der andere in das etwa zweieinhalb Kilometer entfernte Dorf Mirbke und dann ebenfalls nach Grafenhagen. Beide Wege waren also im Grunde nur ein Rundweg, der sich in einer weiten S - Kurve durch Brinke zog und von dem, gegenüberliegend, nach rechts und links ein kurzer Stichweg abzweigte, an denen an beiden Seiten Häuser standen. Am Hauptweg waren an beiden Seiten nur jeweils vier Häuser gebaut. Eine Kirche und eine Schule hatte Brinke nicht. Die Bewohner des Dorfes gehörten zum Kirchkreis Wöhren, wo Karl Brammer wohnte, und die Kinder von Brinke mussten die dortige, etwa zwei Kilometer entfernte Volksschule besuchen. Es war für sie ein langer Weg, den sie zu Fuß zurücklegen mussten. Ein Fahrrad besaßen sie nicht. Jedenfalls hatte Karl Brammer bisher kein Kind aus Brinke mit einem Fahrrad nach Wöhren zur Schule fahren sehen.

Aus dem Dorf Brinke hatte nach Karl Brammers Kenntnis bisher nur sein Neffe Claus die Oberschule in Grafenhagen besucht und dort das Abitur gemacht. Seine Nichte Liesel ging dort jetzt noch zur Oberschule. Beide mussten die etwa fünf Kilometer lange Wegstrecke bis Grafenhagen mit dem Fahrrad zurücklegen. Auch die Arbeiter konnten ihre Arbeitsstelle von Brinke aus nur zu Fuß oder mit einem Fahrrad erreichen. Bahn- oder Busverbindungen gab es nach Grafenhagen nicht.

Karl Brammer bog vom Hauptweg nach rechts auf den Stichweg ab, fuhr an einer rechts liegenden kleinen Wiese vorbei und hielt dann vor dem Forsthaus an, in dem seine Schwester mit ihrer Familie wohnte. Nur wenige Meter hinter dem Haus war der dunkle Wald zu erkennen, ebenso am Ende des Stichweges und hinter den links stehenden Häusern.

Vor dem Forsthaus war das zur Försterei gehörende Auto abgestellt. Karl Brammer schloss daraus, dass sein Neffe Claus inzwischen zu Hause eingetroffen war. Das Forsthaus, das voll unterkellert war, hatte einen etwa einen Meter hohen Sandsteinsockel, auf dem Fachwerk errichtet war, dazwischen ausgefüllte mit roten Backsteinen. Es war im Gegensatz zu den übrigen eineinhalb geschossigen Häusern des Dorfes zweigeschossig und wie die anderen Häuser mit einem Satteldach versehen. Links vom Haus, wo sich auch der Haupteingang befand, stand unter einer mächtigen Linde ein großer Holzschuppen, in dem auf der einen Seite Brennholz gelagert war und auf der anderen Seite zur Familie gehörende Fahrräder abgestellt waren. Hinter dem Haus stand ein massiv gebauter Stall, in dem zwei Schweine, mehrere Hühner, Kaninchen und Gartengeräte untergebracht waren. Dahinter erstreckte sich fast bis zum Wald eine Gartenfläche. Stall und Garten konnten vom Haus aus auch durch eine Kellertür an der Rückseite des Hauses erreicht werden.

Seine Schwester arbeitete gern im Garten und hatte Freude an der Versorgung ihrer Tiere. Für Karl Brammer war das nichts Besonderes. Stammte sie doch von einem Bauernhof und hatte sie bis zu ihrer Heirat ihre Eltern bei der Hofarbeit unterstützt.

Karl Brammer schob sein Fahrrad vom Stichweg auf den grob gepflasterten Hof, der sich vom Weg aus am Haupteingang und dem Schuppen vorbei bis zum Stall erstreckte, lehnte es gegen die Hauswand vor dem Eingang und stieg die vier Treppenstufen bis zur Haustür hinauf. Er klingelte kurz, betrat sodann durch die unverschlossene Tür einen kleinen Flur, klopfte zweimal gegen die Korridortür, öffnete sie und betrat die Wohndiele des Hauses, in der seine Schwester, sein Schwager, sein Neffe Claus, seine Nichte Liesel und deren Freundin Hilde Bartels aus Mirbke saßen. Der Jagdhund seines Schwagers, der es sich in der Nähe des Kamins auf einem Teppich bequem gemacht hatte, sprang auf und begrüßte Karl Brammer freudig bellend. Von der Diele aus führte eine breite Treppe in das Obergeschoss des Hauses, wo sich drei Schlafzimmer befanden. Auf der Ebene der Diele waren die Küche, ein Wohnzimmer, ein Abstellraum mit dem Plumsklo und das Arbeitszimmer seines Schwagers eingerichtet. Die Diele selbst, die ihr Tageslicht durch zwei große Fenster nach Norden und Süden erhielt, war wohnlich mit einem runden Tisch, einem Sofa, drei Stühlen und zwei Sesseln ausgestattet. In ihr war es auf Grund des Kaminfeuers angenehm warm.

Karl Brammers Schwester Caroline Neuwinger, eine schlanke, gut aussehende, inzwischen aber leicht ergraute Frau, saß neben ihrem Sohn auf dem Sofa und hielt dessen linke Hand. Sein Schwager Franz Neuwinger, fünfzig Jahre alt, saß in einem Sessel. Die beiden Mädchen saßen auf einem Stuhl am Tisch, auf dem eine Flasche Wein stand. Die Eheleute Neuwinger und ihr Sohn Claus hatten ein gefülltes Glas vor sich auf dem Tisch stehen.

Als Karl Brammer die Wohndiele betrat, erhob sich Claus, hob den rechten Arm zum sogenannten deutschen Gruß und sagte: "Heil Hitler, Onkel Karl."

Dieser erwiderte den Gruß ebenfalls mit: "Heil Hitler."

Er hatte in diesem Moment nur Augen für seinen Neffen, der ihm entgegen kam und ihm die Hand gab.

Caroline Neuwinger begrüßte ihren Bruder mit: "Guten Abend, Karl." Sie hatte zu ihm noch nie Heil Hitler gesagt. Franz Neuwinger empfing seinen Schwager mit den Worten: "Grüß dich, Karl."

Die Eheleute Neuwinger blieben bei der Begrüßung sitzen, während die beiden Mädchen vom Stuhl aufstanden, ihren rechten Arm erhoben und ebenfalls mit Heil Hitler grüßten.

Karl Brammer nahm schon gar nicht mehr richtig wahr, dass seine Schwester in seiner Gegenwart bisher niemand mit Heil Hitler gegrüßt hatte. Er hatte sich inzwischen daran gewöhnt. Sein Schwager hatte es stets vermieden, ihn, wenn sie unter sich waren, mit Heil Hitler zu begrüßen. Nur in Gegenwart anderer grüßte er mit Heil Hitler zurück, wenn er selbst in dieser Weise begrüßt wurde.

"Wir alle sind stolz auf dich, Claus," sagte Karl Brammer freudestrahlend, schüttelte seinem Neffen die Hand, musterte ihn dabei und ergänzte stolz: "Du siehst schneidig aus in deiner Fliegeruniform, und das Ritterkreuz macht sich gut an deinem Hals."

"Findest du?" versuchte Claus bescheiden zu reagieren.

"Nun sei man nicht so zurückhaltend, Junge," erklärte Karl Brammer bewundernd, "du kannst dir schon etwas darauf einbilden: Mit 23 Jahren bereits Oberleutnant der Jagdflieger und dann das Ritterkreuz. Das soll dir erst einmal einer nachmachen."

"Na ja," versuchte Claus auszuweichen, "wenn du meinst."

"Ja, ja, es ist schon so wie ich sagte. Wir alle sind stolz auf dich, und du selbst darfst es ganz besonders sein. Nächsten Freitag wird ein Bericht über dich im „Generalanzeiger“ stehen. Gestern war noch nichts drin."

"Aber im Rundfunk wurde es gestern Abend gemeldet," warf Hilde Bartels ein und strahlte Claus an, "meine Eltern haben es gehört."

"Hole noch viele feindliche Flieger vom Himmel," fuhr Karl Brammer fort, "dann wird es nicht mehr lange dauern, bis du das Ritterkreuz mit Eichenlaub und dann auch noch mit Schwertern und schließlich das Ritterkreuz mit Eichenlaub, Schwertern und Brillanten erhältst. Mach weiter so, mein Junge."

"Na, na, na, nun man langsam," mischte sich Franz Neuwinger schmunzelnd ein, "noch ist es nicht so weit."

Claus stand etwas verlegen und irritiert vor seinem Onkel, der ihn immer noch bewundernd anblickte.

"Du weißt ja gut Bescheid, Onkel Karl," erwiderte er dann lächelnd.

"Das muss ich auch sagen," bemerkte Franz Neuwinger erstaunt, "diese Reihenfolge der Auszeichnungen war mir bisher nicht bekannt."

"Mir ist es völlig unwichtig, welche Orden er erhält; Hauptsache er kommt gesund aus dem Krieg zurück," sagte Caroline Neuwinger mit leiser Stimme, "ich bete darum."

"Das wird er schon," versuchte Karl Brammer seine Schwester zu beruhigen, "der Krieg ist so gut wie zu Ende. Polen und Frankreich sind besiegt, und die Tommys sitzen auf ihrer Insel fest. Die müssen froh sein, wenn wir sie nicht besetzen."

Dann wandte er sich wieder seinem Neffen zu: "Aber nun erzähle mal ein bisschen, Claus. Wie ist das so mit den Abschüssen?"

"Na ja," versuchte jener zu erklären, "ganz einfach und ungefährlich ist das nicht. Wir müssen sehen, dass wir von hinten so an den Gegner herankommen, dass wir zielsicher abdrücken können."

"So schwierig kann das aber doch nicht sein," meinte Karl Brammer etwas verwundert, "ich bin zwar Laie; aber ich habe gelesen, dass die Messerschmitt 109, die Me 109, das schnellste Jagdflugzeug der Welt ist."

"Das stimmt schon," entgegnete Claus und setzte sich wieder aufs Sofa neben seine Mutter, während sein Onkel im zweiten Sessel Platz nahm. "Aber die englische Spitfire ist nicht zu unterschätzen. Dieser Jäger ist der Me 109 in der Schnelligkeit fast ebenbürtig; aber er ist wendiger, und das macht ihn sehr gefährlich. Das englische Jagdflugzeug Hurricane ist unserer Me 109 dagegen unterlegen."

"So, so, das wusste ich nicht," gab Karl Brammer etwas kleinlaut zu verstehen, "aber dann kommt es doch wohl ganz entscheidend auf die fliegerischen Fähigkeiten der Piloten an, und da sind die deutschen doch Spitze - oder?"

"Ja, ja, wir haben viele gute Jagdflieger, das stimmt schon," erwiderte Claus, "aber die Engländer haben auch gute Piloten. Im Übrigen haben wir es nicht nur mit englischen Jägern zu tun. Wir jagen auch englische Bomber und Aufklärer und fliegen für unsere Bomber Geleitschutz. Weißt du, Onkel Karl, die polnischen und französischen Flugzeuge waren für uns keine echten Gegner; aber die Engländer sollten nicht unterschätzt werden."

Claus hatte die letzten Sätze etwas nachdenklich gesprochen.

"Möchtest du auch ein Glas Wein, Karl?" fragte Caroline Neuwinger ihren Bruder.

"Ja, bitte."

Liesel Neuwinger erhob sich unaufgefordert vom Stuhl, brachte ihrem Onkel ein Weinglas und füllte es.

"Es wird nicht mehr lange dauern, dann werden wir die Tommys besiegt haben," verkündete Karl Brammer überzeugt, "ihr werdet das schon machen."

Claus Neuwinger schwieg dazu, während seine Mutter die Frage stellte: "Was wollen wir denn überhaupt in England? Reichen die bisherigen Siege nicht aus? Unsere Soldaten sind in Polen, Holland, Belgien und Frankreich, sollen sie denn auch noch in England ihr Leben lassen? Mir kommt das alles wie ein Kriegsspiel erwachsener Kinder vor. Und die vielen Toten auf beiden Seiten. Muss das sein? Wozu das alles? Kannst du mir das erklären, Karl?"

Karl Brammer war etwas irritiert über die Äußerungen seiner Schwester. Er wusste, dass sie dem Krieg ablehnend gegenüberstand und dass sie die NSDAP kritisch betrachtete. Mit ihren Fragen und Bemerkungen hatte sie ihn schon öfter in Verlegenheit gebracht. Mehrere Male hatte er sie bereits ermahnt, mit ihren Äußerungen vorsichtiger zu sein, jedenfalls gegenüber Personen außerhalb der Familie.

Claus Neuwinger schwieg zu den Bemerkungen seiner Mutter. Karl Brammer dagegen meinte: "Wir sollten die Kriegseinsätze dem Führer und seinen Generälen überlassen. Ich bin überzeugt davon, dass sie wissen, was zu tun ist, und dass ihre Entscheidungen richtig sind."

Danach schwiegen alle einen Moment, bis Karl Brammer fortfuhr: "Mich würde mal interessieren, Claus, ob du Angst hast beim Fliegen, insbesondere bei den Luftkämpfen."

"Vor den Einsätzen, wenn wir in Alarmbereitschaft sind, und das sind wir fast immer, spüre ich eine Spannung, eine Unruhe in mir. Ich schlafe dann schlecht," versuchte Claus nach einigem Zögern seine Gefühle vor dem Start zu erklären. "Angst ist das nicht, nein, nicht direkt, aber ich denke dann schon an Kameraden, die abgeschossen wurden, und mir ist in diesen Augenblicken bewusst, dass der Tod immer mitfliegt."

Claus hatte die Sätze langsam und nachdenklich gesprochen. Danach schwieg er einen Moment, und sein Onkel war etwas betroffen, als hätte er vorher geglaubt, dass es auf deutscher Seite keine Toten geben würde.

"Ja, Onkel Karl, wir sind nicht nur Helden und Sieger wie es in der Presse, im Rundfunk und in den Wochenschauen oft dargestellt wird. Es gibt auch bei uns Verluste, bei den Jagdfliegern und bei den Bomberpiloten."

"Nur wird darüber nicht berichtet," warf Caroline Neuwinger ein.

"Die Verluste unter unseren Jagdfliegern sind nicht nur auf Abschüsse durch die Flak, die Flugzeugabwehrkanonen, und durch englische Jäger zurückzuführen . Nein, mancher ist abgestürzt und im Ärmelkanal ertrunken oder bei Notlandungen in Frankreich zu Tode gekommen, weil ihm der Treibstoff ausgegangen ist. Wir müssen nämlich sehr aufpassen, rechtzeitig zu unserem Stützpunkt in Frankreich zurückzufliegen. Über England dürfen wir uns maximal zwanzig Minuten aufhalten, sonst wird für den Rückflug das Benzin knapp. Eine sehr kurze Zeit ist das, besonders wenn wir gerade in Luftkämpfe verwickelt sind. Dann achtet mancher nicht auf die bereits verstrichene Zeit."

Nach einem kurzen Schweigen ergänzte Claus: "Um auf deine Frage zurückzukommen, Onkel Karl: Wenn ich in meiner Maschine sitze und den Motor anlasse, ist die innere Unruhe weg. Dann konzentriere ich mich nur noch auf den Start und auf einen bevorstehenden Kampf in der Luft. Das ist dann fast so wie ein spannendes Abenteuer."

"So muss es auch sein," meinte Karl Brammer, "wäre es anders, hättet ihr keine Erfolge."

"Und an manchen Tagen erlebe ich dieses Abenteuer zweimal, manchmal sogar dreimal am Tag," ergänzte Claus. "Das ist ziemlich belastend."

Die Eheleute Neuwinger schwiegen und tranken einen Schluck Wein aus ihrem Glas. Auch Karl Brammer und Claus taten das. Die beiden Mädchen blickten bewundernd auf Claus und beteiligten sich nicht an dem Gespräch der Erwachsenen.

Dann stellte Caroline Neuwinger die Frage: "Wenn du ein feindliches Flugzeug beschießt, denkst du dann auch an die Menschen, die darin sitzen? Vielleicht haben sie eine Familie, Eltern, die sich um sie sorgen, Geschwister. Sie alle wollen doch, dass ihr Ehemann, Vater, ihr Kind und ihr Bruder gesund nach Hause kommt - wie auch ich will, dass du den Krieg heil überlebst."

"Es sind unsere Feinde," warf Karl Brammer ein, "auf Gefühle dürfen unsere Soldaten keine Rücksicht nehmen."

"Unsere Feinde?" argumentierte Caroline Neuwinger etwas erregt. "Wie kann jemand unser Feind sein, den wir gar nicht kennen? Es wird von oben bestimmt, dass sie unsere Feinde sind. Wir selbst dürfen darüber nicht entscheiden. Schlimm ist das. Vielleicht wäre der englische Pilot, der unser Feind sein soll, unser Freund, wenn wir ihn kennen lernten. Du, Karl, kennst keinen einzigen Engländer oder Franzosen, aber du sagst, sie seien unsere Feinde. Wieso sind sie unsere Feinde?"

Karl Brammer fühlte sich erneut in die Enge getrieben. Ihm war unbehaglich bei der Argumentation seiner Schwester.

"Beruhige dich, Mama. Onkel Karl hat Recht. Die Tommys sind nun mal unsere Feinde. Und ich kann beim Luftkampf nicht darüber nachdenken, ob in dem anderen Flugzeug ein Familienvater, ein Sohn oder ein Bruder sitzt," versuchte Claus seiner Mutter zu erklären. "Wenn ich das täte, wäre ich verloren. Ich würde dann unentschlossen sein, dadurch Fehler machen und eine Beute der Gegner werden. Ich muss darauf achten, dass mir kein feindlicher Jäger im Nacken sitzt. Nachdenken darüber, wer in der anderen Maschine sitzt, darf ich nicht."

Er legte seinen rechten Arm um die Schultern seiner Mutter und streichelte sie leicht. Caroline Neuwinger saß mit gesenktem Kopf auf dem Sofa und sagte mit leiser Stimme: "Ich möchte ja nur, dass du den Krieg überlebst. Ich mache mir große Sorgen und habe Angst um dich. Das kann wohl nur eine Mutter nachempfinden."

Alle schwiegen einen Augenblick. Dann ergriff Karl Brammer wieder das Wort: "Gelingt es dem feindlichen Piloten manchmal, mit dem Fallschirm abzuspringen, wenn du seine Maschine so getroffen hast, dass sie abstürzt“

"Manchmal ja," entgegnete Claus. "Wenn allerdings seine Maschine in Flammen aufgeht, meistens nicht, auch dann nicht, wenn er durch den Beschuss gleich tot ist.."

"Wenn sie mit dem Fallschirm heil runterkommen, stehen sie anschließend sofort für ein neues Flugzeug zur Verfügung," meinte Franz Neuwinger, "deutsche Piloten geraten in solchen Fällen in Gefangenschaft und fallen für neue Einsätze aus."

"Stimmt, Papa," bestätigte Claus die Erkenntnis seines Vaters. "Und Piloten sind so schnell nicht zu ersetzen."

Dann fügte er etwas nachdenklich hinzu: "Und trotzdem bin ich froh, wenn ich einen feindlichen Piloten nach dem Abschuss seiner Maschine am Fallschirm baumeln sehe - nicht nur bei deutschen Piloten."

"Hast du Fotos von dir und deiner Me 109 mitgebracht?" fragte Karl Brammer seinen Neffen.

"Oh ja," antwortete jener, "beinahe hätte ich sie vergessen."

Er holte mehrere Fotos aus seiner Uniformjacke hervor und reichte sie herum. Die beiden Mädchen erhoben sich von ihrem Stuhl und bestaunten die Aufnahmen, die Claus vor einem Start in seinem Flugzeug zeigten, sitzend mit Kameraden an einem Tisch auf dem Fliegerhorst und sein Jagdflugzeug insgesamt.

"Was bedeuten die Striche am hinteren Teil des Flugzeugs?" wollte Karl Brammer wissen.

"Das sind Abschussbalken am Leitwerk," belehrte ihn Claus. "Jeder Balken bedeutet einen Abschuss."

"Donnerwetter", staunte sein Onkel, "das Leitwerk deines Flugzeugs wird ja bald nicht mehr ausreichen, wenn du so weiter machst."

Die beiden Mädchen traten hinter Karl Brammer und blickten bewundernd auf das Foto, das jener in den Händen hielt.

Als alle die Fotos betrachtet hatten, flüsterte Liesel Neuwinger ihrem Bruder etwas ins Ohr, der lächelnd zuhörte. Auch Hilde Bartels lächelte und blickte erwartungsvoll auf Claus.

"Was habt ihr denn für Geheimnisse?" fragte Franz Neuwinger seine Kinder. "Dürfen wir nicht mithören?"

Claus erhob sich mit der Bemerkung: "Die Mädchen möchten im Wohnzimmer etwas mit mir besprechen. Wir sind gleich zurück."

"Na, dann besprecht euch man", meinte Franz Neuwinger, "vielleicht erfahren wir ja danach, um was es geht."

Claus, seine Schwester und Hilde Bartels verließen die Wohndiele und begaben sich in das angrenzende Wohnzimmer. Die Eltern und Karl Brammer blickten ihnen schmunzelnd nach.

Karl Brammer ermahnte anschließend seine Schwester, mit ihren Äußerungen vorsichtiger zu sein, zumal Hilde Bartels anwesend gewesen sei. Von ihr gehe zwar nach seiner Einschätzung keine Gefahr aus, insbesondere auch deshalb nicht, weil ihre liberalen Eltern keine Parteiangehörige seien; aber die Bemerkungen seiner Schwester könnten als Wehrkraftzersetzung ausgelegt werden, die mit dem Tode bestraft werden könne. Zu ihm, ihrem Bruder, könne sie alles sagen, aber sie solle um Gotteswillen gegenüber fremden Personen zurückhaltender sein. Sie werde sonst nicht nur sich selbst, sondern ihre ganze Familie in Gefahr bringen.

"Ich lasse mir den Mund nicht verbieten, Karl," reagierte Caroline Neuwinger etwas trotzig, "ich spreche nun mal das aus, was ich denke. Wenn alle das täten, sehe die Welt wahrscheinlich besser aus."

"Karl hat Recht, Caroline, du begibst dich mit deinen Äußerungen in Gefahr. Denk auch an uns, wenn du gegenüber fremden Personen kritische Bemerkungen über Hitler und den Krieg machst," bat Franz Neuwinger seine Frau. "Denk insbesondere auch an Claus."

Caroline Neuwinger blickte nachdenklich auf den Tisch und sagte nach einiger Zeit: "Claus hat vorhin erzählt, es werde unter seinen Kameraden gemunkelt, dass sein Geschwader bald nach Polen verlegt werde. Vielleicht ist das nur ein Gerücht, aber wenn es so kommen sollte, würde ich das nicht verstehen, obwohl ich mich freuen würde, wenn er nicht mehr nach England fliegen müsste. Polen ist besiegt. Was sollten die Jagdflieger dort? Oder führt unser großer Führer im Osten etwas im Schilde?"

Den letzten Satz sprach sie mit einem leicht ironischen Unterton, den ihr Bruder zwar merkte, ihn aber überhörte.

"Im Osten ist Frieden," reagierte Karl Brammer darauf. "Wir haben mit Russland im August 1939 einen Nichtangriffspakt geschlossen und Ende September 1939 einen Grenz- und Freundschaftsvertrag. Im Osten kann also nichts passieren."

"Na, ich weiß nicht," gab Franz Neuwinger zu bedenken. "Unsere Wehrmacht ist im März 1938 in Österreich einmarschiert und im März 1939 in die Tschechei. Hoffentlich gibt es keine Pläne für einen neuen Schachzug. Auffällig wäre es schon, wenn ein Jagdgeschwader von Frankreich nach Polen verlegt würde, obwohl die Lufthoheit über England noch nicht errungen ist."

"Ich traue Hitler nicht," fügte Caroline Neuwinger ihren vorausgegangenen Äußerungen hinzu, "der Einmarsch in Polen vor etwa eineinhalb Jahren ist doch fadenscheinig begründet worden, und dann der Einmarsch in die neutralen Länder Dänemark und Norwegen vor etwa einem Jahr, angeblich aus strategischen Gründen, um den Engländern zuvor zu kommen. Und überhaupt passiert in unserem Lande einiges, was Anlaß zum Nachdenken geben müsste. Kannst du dich erinnern, Karl, dass ich dir vor längerer Zeit von den etwa zehn Juden erzählte, die verhaftet über den Marktplatz in Grafenhagen geführt wurden? Die Polizisten Warnecke und Heinz und zwei SA-Männer bewachten sie. Der eine war der dicke Wilhelm Dreier. Ich fragte ihn, warum die Leute verhaftet worden seien. Er antwortete nur kurz, es seien Juden. Das war seine ganze Erklärung. Auf meine Frage, wohin sie gebracht würden, sagte er nur knapp: Zum Bahnhof und dann nach Hannover. Ich stand damals auf dem Fußweg an der Südseite des Marktplatzes. Zahlreiche Menschen haben die Gruppe beobachtet und haben nichts dazu gesagt. Einer hat fotografiert oder wollte fotografieren, aber Warnecke beschlagnahmte den Fotoapparat mit der Begründung, fotografieren sei verboten."

Caroline Neuwinger hatte sich mehr und mehr in Erregung geredet, während die beiden Männer zu Boden geblickt und geschwiegen hatten.

Nach einer kurzen Pause fuhr sie leise wie resigniert fort: "Verbote, und nochmals Verbote. Wir dürfen keine ausländischen Sender hören, dürfen den Krieg nicht kritisieren, dürfen unsere Meinung nicht frei äußern, wir dürfen nur immer heil, heil, heil Hitler rufen, Hitler, der fast immer nur schreit, wenn er eine Rede hält."

Sie schwieg einige Sekunden und blickte zu Boden. Dann sprach sie weiter: "Vor einigen Wochen traf ich den dicken Dreier wieder in der Stadt. Ich fragte ihn, ob die Juden, die er damals abgeführt habe, inzwischen wieder zurück seien. Er verneinte meine Frage, die ihm sichtlich unangenehm war. Als ich wissen wollte, was mit ihnen passiert sei, erklärte er, das könne er nicht sagen. Er habe nur einen Befehl ausgeführt und habe sie nach Hannover gebracht.

Dann fügte sie verächtlich hinzu: “Befehle, immer nur Befehle, stramm stehen, und die Befehle widerspruchslos ausführen. Wohin soll das führen, Karl? Hast du mal darüber nachgedacht? Du bist doch Parteigenosse und SA-Mann. Hast du mal darüber nachgedacht?“

„Caroline,“ entgegnete ihr Bruder etwas erregt, „du redest dich noch um Kopf und Kragen. Höre auf damit.“

„Und dann noch etwas, Karl", fuhr Caroline Neuwinger leicht verbittert fort, "vorige Woche hat Liesel erzählt, der Studienrat Weise, auch ein Parteigenosse von dir, habe Fotos von halbzerlumpten, bärtigen Juden aus Polen in der Klasse herumgereicht und habe damit dokumentieren wollen, dass es sich dabei um Untermenschen handele. Er soll sich über die abgebildeten Personen lustig gemacht haben. Ich finde so etwas widerlich. Wenn wir selbst derart ärmlich gekleidet herumlaufen würden, würden wir ebenso aussehen wie jene fotografierten Polen. Was ist nur aus Deutschland geworden?"

Karl Brammer schwieg betroffen. Er fühlte sich von den Äußerungen seiner Schwester noch mehr in die Enge getrieben als schon zuvor. Er verspürte ein Unbehagen, weil ihm bewusst war, dass er auf ihre Argumente nicht überzeugend reagieren konnte. Gleichzeitig empfand er aber auch eine gewisse Angst um sie, weil sie wegen ihrer Äußerungen in eine tödliche Gefahr geraten konnte.

"Jetzt kein Wort mehr über Politik," warf Franz Neuwinger leise, aber energisch ein, "die Kinder kommen zurück. Kein Wort mehr darüber."

Claus, seine Schwester und Hilde Bartels kamen aus dem Wohnzimmer und nahmen ihre Plätze am Tisch wieder ein. Die beiden Mädchen strahlten, und Claus grinste leicht.

"Dürfen wir erfahren, was ihr so Wichtiges unter sechs Augen besprochen habt?" fragte Franz Neuwinger.

"Die Mädchen möchten morgen gern mit mir ins Kino gehen," gab Claus zur Antwort.

"Was gibt es denn für einen Film?" erkundigte sich Karl Brammer und nahm einen Schluck aus seinem Glas.

"Quax, der Bruchpilot“ mit Heinz Rühmann ," antworteten die beiden Mädchen wie aus einem Munde.

"Und wie wollt ihr nach Grafenhagen kommen? Mit dem Fahrrad etwa?" fragte Franz Neuwinger schmunzelnd mit einem leicht ironischen Unterton. "Dann müsste Claus ja seine Zivilkleidung anziehen. Denn mit seiner schneidigen Uniform und dem Ritterkreuz am Hals auf dem Fahrrad? Ich weiß nicht. Das sähe doch etwas komisch aus."

Jetzt musste selbst Caroline Neuwinger lachen, trotz des ernsthaften Gesprächs, das zuvor geführt worden war. Die drei Männer amüsierten sich, während die beiden Mädchen etwas verlegen lächelnd Franz Neuwinger anblickten.

"Wir haben gedacht, dass du uns mit dem Auto nach Grafenhagen bringst, Papa," antwortete Liesel Neuwinger erwartungsvoll.

"Und Claus in seiner Zivilkleidung?" meinte Franz Neuwinger etwas belustigt lauernd.

"Na ja, " zögerte Liesel mit ihrer Antwort, "wir hätten schon gern, wenn er seine Uniform anhätte."

"Die steht ihm doch besser als sein Zivilanzug," ergänzte Hilde Bartels.

Die Erwachsenen schmunzelten verständnisvoll. Ihnen war klar, dass sich die Mädchen mit dem Fliegeroffizier und Ritterkreuzträger schmücken wollten. In einem Zivilanzug würde er ein Kinobesucher unter vielen sein und nicht auffallen.

"Gut, ich fahre euch hin. Aber ich möchte euch ins Kino begleiten. Ihr habt ja wohl nichts dagegen," erklärte Franz Neuwinger seine Bereitschaft. "Wir holen Hilde gegen halb fünf in Mirbke ab, denn ich möchte schon nachmittags um halb sechs ins Kino. Die Acht-Uhr-Vorstellung ist mir zu spät. Ich muss am Montag wieder früh aus den Federn. Was meinst du, Claus?"

"Mir ist die Uhrzeit egal," erklärte jener.

"Nehmt ihr mich mit?" fragte Karl Brammer. "Ich würde dann schon frühzeitig mit dem Fahrrad nach Grafenhagen zum Kino fahren, die Eintrittskarten kaufen und für uns Plätze reservieren. Ich kenne den Kinobesitzer Walter Steinecke ganz gut. Der ist ein Parteigenosse von mir."

"Klar kommst du mit, Onkel Karl," gab Claus ohne Zögern sein Einverständnis.

"Es ist doch selbstverständlich, dass wir nichts dagegen haben," stimmte Franz Neuwinger seinem Sohn zu.

Die beiden Mädchen, die ebenfalls nicht widersprachen, brachten ihre Begeisterung über den bevorstehenden Kinobesuch in der Weise zum Ausdruck, dass sie sich umarmten und Liesel ausrief: "Toll, toll ist das, wir freuen uns."

Dann verließen sie die Wohndiele und begaben sich, fast laufend vor Freude, in das Wohnzimmer.

"Und was machen wir mit dir, Caroline?" wandte sich Franz Neuwinger an seine Frau. " Im Auto ist auch für dich noch Platz."

"Fahrt man. Ich bleibe zu Hause. Aber am Montagabend möchte ich Claus für uns haben. Nehmt euch da bitte nichts vor. Am Dienstagmorgen muss er nämlich schon wieder nach Frankreich zurück," gab Caroline Neuwinger zur Antwort.

"Na gut, wie du willst," entgegnete ihr Mann.

Alle waren zufrieden.

"Ich werde jetzt nach Hause fahren," kündigte Karl Brammer das Ende seines Besuchs an und erhob sich vom Stuhl. "Bis morgen also. Macht es gut."

Auch die Eheleute Neuwinger und Claus erhoben sich, der seinen Onkel mit "Heil Hitler, Onkel Karl", verabschiedete.

"Heil Hitler; Claus," grüßte Karl Brammer zurück, der seinen Neffen noch einmal bewundernd anblickte. "Du siehst wirklich schneidig aus in deiner Uniform. Wir sind sehr stolz auf dich, Junge. Bis morgen in Grafenhagen. Grüßt die beiden Mädchen von mir."

Franz und Caroline Neuwinger begleiteten Karl Brammer zur Haustür.

„Sind dir schon zwei Kriegsgefangene vom Arbeitsamt in Grafenhagen zugeteilt worden?" wollte Caroline Neuwingr von ihrem Bruder wissen.

"Ja, ja," entgegnete jener, "das hätte ich beinahe vergessen zu erwähnen. Am Montagmorgen, also übermorgen, werden ein Franzmann und ein Polake gebracht. Beide dürfen in der Leibzucht unter dem Dach wohnen. Das wurde mir genehmigt,'1

"Hoffentlich verstehen sie etwas von der Landwirtschaft," gab Franz Neuwinger zu bedenken.

"Das wurde mir zugesichert, aber wenn nicht, bringen wir ihnen bei, was zu tun ist," gab Karl Brammer konsequent zu verstehen. "Hauptsache, sie spuren. Tun sie das nicht, gibt es Zunder."

"Denk daran, Karl, dass auch Kriegsgefangene Menschen sind. Behandele sie entsprechend," bat Caroline Neuwinger ihren Bruder. "Und wenn ihr Hilfe braucht, sagt mir Bescheid. Ich helfe euch gern."

"Ich weiß das. Danke. Macht es gut. Bis morgen, Franz."

Karl Brammer vermied es, sich von seiner Schwester und seinem Schwager mit "Heil Hitler" zu verabschieden.

"Komm gut nach Hause, und fahre vorsichtig," ermahnte Caroline Neuwinger ihren Bruder, der sein Fahrrad von der Hauswand nahm und es auf den Weg schob.

Einige Schritte ging er zu Fuß und horchte in den dunklen Abend. Aber er hörte nichts, nicht einmal Windgeräusche, und nirgendwo sah er ein Licht. Dann stieg er aufs Fahrrad und dachte während der Heimfahrt über das nach, was er bei seiner Schwester gesehen und gehört hatte. Irgendwie grollte er mit ihr. Ihre Äußerungen standen im Widerspruch zu seinem Glauben an den Führer und an die Richtigkeit seines Handelns. Manchmal hatte er auch das Gefühl, dass sie nicht verstand, dass er überhaupt in der Partei war, und dass sie seine Ämter und seine Parteiarbeit nicht schätzte, von der er überzeugt war, dass er sie zum Wohle des deutschen Volkes, zumindest zum Wohle seiner Dorfmitbewohner ausübte. Doch dann dachte er auch an ihre Hilfsbereitschaft, die sie ihm gegenüber schon seit ihrer Jugendzeit gezeigt hatte. Das versöhnte ihn etwas. Sie war schon immer kritisch und ein bisschen rebellisch gewesen, aber im Herzen war sie gutartig und war sie auch gegenüber ihren Nachbarn freundlich und hilfsbereit und nicht im Geringsten überheblich, obwohl sie in Brinke auf Grund der Stellung ihres Mannes auf der sozialen Leiter ganz oben stand. Alle in dem kleinen Dorf mochten sie. Wenn sie sich mit ihren Äußerungen über den Krieg, über die Partei und über den Führer doch nur etwas mehr zurückhalten würde. Karl Brammer machte sich Sorgen um sie, obwohl er im Augenblick keine unmittelbare Gefahr sah, dass sie jemand wegen ihrer Bemerkungen anzeigte. Aber man konnte nie wissen. Auch sein^Berufskollege Heinrich Senne wurde angezeigt, weil er ein Verhältnis mit einer polnischen Fremdarbeiterin hatte. Und der Anzeigeerstatter war anscheinend nicht bekannt, jedenfalls nicht unter den Bewohnern des Dorfes Wöhren.

Dann sah er wieder seinen Neffen vor sich, und Stolz erfüllte ihn, und er freute sich auf den Kinobesuch am nächsten Tag, einem Sonntag. Den Rühmann sah er sowieso gern. Im Übrigen waren Kinobesuche für ihn aber selten, vielleicht dreimal im Jahr, wobei er gern in Filme ging, die in den Bergen spielten, zum Beispiel mit Luis Trenker, oder in Filme mit Heinz Rühmann, der das Kinopublikum so zum Lachen bringen konnte, dass der Kinosaal fast bebte. Auch Hans Moser und Theo Lingen sah er gern. Am liebsten war ihm, wenn alle drei im Film mitspielten, dann gab es viel zu lachen. Das war für ihn eine Entspannung von seiner täglichen Arbeit.

Als er zu Hause ankam, wollte seine Frau gerade ins Bett gehen. Karl Brammer erzählte ihr, während er sich auszog, von dem, was er in Brinke erlebt hatte. Seine Frau stellte dazu viele Fragen, die er geduldig beantwortete. Und so dauerte es fast eine Stunde, bis beide einschliefen. Zuvor hatte Lina Brammer ihren Mann noch darauf hingewiesen, dass sie mit seiner Mutter vereinbart habe, morgen in die Kirche zu gehen. Karl Brammer hatte sich auf Bitten seiner Frau bereit erklärt, mitzukommen.

Am nächsten Morgen standen beide wegen des beabsichtigten Kirchenbesuchs früher auf als sonst. Das Vieh wurde gefüttert, und die Kühe wurden gemolken. Danach wurde zusammen mit der Tochter Anna und Sophie Brammer in der Küche gefrühstückt. Die Eheleute Tegtmeier aßen - wie stets an Sonntagen - in ihrer Wohnküche in der Leibzucht. Während des Frühstücks berichtete Karl Brammer auch seiner Tochter und seiner Mutter von den Gesprächen am Vorabend bei der Familie seiner Schwester.

Nach dem Frühstück zogen die Eheleute Brammer dunkle Kleidung an, die sie in der Regel bei Kirchgängen trugen. Karl Brammer wählte seinen dunkelgrauen Anzug für den Kirchgang aus, an dessen linkem Revers das Parteiabzeichen gesteckt war. Sophie Brammer hatte sich bereits vor dem Frühstück für den Gottesdienstbesuch angezogen. Dann holten die drei ihre Fahrräder aus der kleinen Scheune und radelten zur Kirche.

Es war auch an diesem Tag schönes Wetter. Die Sonne schien, und es war fast windstill.

Karl Brammer war immer wieder erstaunt darüber, dass seine Mutter trotz ihres Alters und ihres offenen linken Beins noch so gut Rad fahren konnte, während ihr das Gehen schwer fiel.

Der Gottesdienst war gut besucht, und Karl Brammer bemühte sich, der Predigt des Pastors Kuhlmann, an dessen Talar das Parteiabzeichen steckte, zu folgen. Aber das gelang ihm nur zeitweise. Immer wieder schweiften seine Gedanken zu im Grunde unbedeutenden Problemen ab, welche die Bewirtschaftung seines Hofes betrafen, zur Familie seiner Schwester, zu seinem Schwiegersohn in Ostpreußen und zu dem bevorstehenden Kinobesuch am Nachmittag, auf den er sich schon sehr freute. Nur beim Singen mit Orgelbegleitung war er hellwach und beteiligte sich kräftig daran. So war es häufig während der Predigten. Zwischendurch ging ihm immer mal wieder etwas durch den Kopf, was mit dem Gottesdienst nichts zu tun hatte. Dabei hielt Pastor Kuhlmann meistens interessante Predigten mit einer klaren und deutlichen Stimme. Auch dauerten seine Predigten nicht allzu lange, höchstens eine dreiviertel Stunde. Aber so sehr sich Karl Brammer auch bemühte, sich auf die Worte des Pastors zu konzentrieren, gelang ihm das oft nicht. An diesem Sonntagmorgen wurde er erst wieder so richtig aufmerksam, als sein Parteigenosse Kuhlmann am Ende der Predigt von den deutschen Soldaten im Feindesland sprach, dass Gott sie beschützen möge, dass er dem Führer die Weisheit geben möge, die richtigen Entscheidungen zu treffen, und dass er seine schützende Hand über ihn und seine Regierung halten möge. Amen. Dann wurden abschließend noch drei Verse eines Gesangs gesungen.

Danach, und zwar nach dem Segen, verließen die Gottesdienstbesucher die Kirche. Draußen wurden noch kurze Gespräche mit dem einen und anderen Bekannten geführt, bis schließlich die Rückfahrt angetreten wurde. Karl Brammer war froh, dass die Eltern seines Kollegen Heinrich Senne nicht in der Kirche gewesen waren. Jedenfalls hatte er sie nicht gesehen. Und seine Gesprächspartner nach dem Gottesdienst vor dem Kirchengebäude hatten ihn nicht auf Heinrich Senne angesprochen. Auch darüber war er froh. Er hätte nicht gewusst, was er hätte zu dessen Verhaftung sagen sollen, allenfalls, dass es für einen deutschen Mann verboten sei, eine sexuelle Beziehung zu einer polnischen Fremdarbeiterin aufzunehmen. Aber das war allgemein bekannt, und eine solche Erklärung hätte die Fragenden sicher nicht befriedigt.

Zu Hause hatte Anna Zurheide in der Küche bereits den Mittagstisch gedeckt. Es gab Eintopf.

Nach dem Essen war etwa eine Stunde Ruhezeit. Anna und Sophie Brammer verbrachten diese Zeit in ihrem Wohnzimmer, während es sich Karl Brammer auf dem Sofa in der Küche bequem machte und seine Frau sich in voller Kleidung, ohne Schuhe natürlich, im Schlafzimmer auf ihr Bett legte.

Gegen drei Uhr wurde in der Küche Kaffee getrunken, vorbereitet von Anna und hergestellt aus Muckefuck, einem Ersatzkaffee. Dazu gab es Zuckerkuchen, den Sophie Brammer bereits am Vortage gebacken hatte. Während dieser Zeit fragte Karl Brammer seine Frau noch einmal, ob sie mit ins Kino kommen wolle. Aber sie lehnte wie bereits am Abend zuvor ab. Sie meinte, die Männer und die Mädchen sollten unter sich sein. Sie würde nur stören. Im Übrigen komme ihre Schwägerin, also die Schwester ihres Mannes, auch nicht mit. Karl Brammer was das recht.

Bereits gegen vier Uhr holte er sein Fahrrad aus der kleinen Scheune und fuhr in Richtung der etwa zweieinhalb Kilometer entfernten Stadt Grafenhagen, an sich viel zu früh; aber er war gespannt auf das Auftreten seines Neffen in der Öffentlichkeit, und diese Spannung wollte er durch das frühe Abfahren von zu Hause abbauen.

"Fast bist du so aufgeregt wie die beiden Mädchen," dachte er während der Fahrt nach Grafenhagen und musste über sich selbst schmunzeln. Aber es war für ihn schon etwas Besonderes, mit einem erst vor wenigen Tagen mit einem Ritterkreuz ausgezeichneten Oberleutnant der Luftwaffe ins Kino zu gehen. Das wollte er genießen, und darauf wollte er sich innerlich in Ruhe vorbereiten.

In Grafenhagen brachte er sein Fahrrad in einen Schuppen, der hinter einem Haus gleich neben dem Kino als Fahrradwache diente. Hier konnte er sein Rad für einen Groschen abstellen. Viele Kinobesucher, besonders aus dem Umland von Grafenhagen, taten das. Dann suchte er die Lichtburg auf. Seinen Parteigenossen Walter Steinicke, den Kinobesitzer, traf er in einem Vorraum in der Nähe der Kasse. Zu dieser Zeit war die Nachmittagsvorstellung noch im Gange. Und obwohl bis zur nächsten Vorstellung um halb sechs noch etwa eine Stunde Zeit und noch keine Eintrittskarten verkauft wurden, hatten sich bereits zahlreiche Besucher vor der Kasse angestellt, um eine Karte zu erwerben. Steinicke zog gerade einen Strick von einer Säule im Vorraum bis zu einem Laternenpfahl auf dem Fußweg vor dem Kino, um den Besucherstrom vor der Kasse in eine geordnete Bahn zu lenken.

"Einen Moment, Karl, ich bin gleich soweit," rief er Karl Brammer zu, "ich muss nur noch den Strick anknoten."

Als er damit fertig war, drückte er Karl Brammer mit beiden Händen kräftig die rechte Hand und strahlte ihn an: "Gratuliere zum Ritterkreuz deines Neffen. Ich habe es vorgestern im Radio gehört. Tolle Sache, ganz tolle Sache. Da kannst stolz auf ihn sein."

"Du wirst ihn gleich sehen. Er will sich ebenfalls den Film anschauen, zusammen mit seinem Vater, seiner Schwester, deren Freundin und mir," erklärte Karl Brammer. "Ich soll fünf Karten besorgen und Plätze freihalten."

"Wird sofort gemacht," sicherte Steinicke zu. "Gleich nach Ende der Vorstellung reserviere ich für euch die Plätze. Auf dem Balkon natürlich, erste Reihe. Und dann habt ihr selbstverständlich freien Eintritt."

"Aber das braucht doch nicht zu sein, Walter," reagierte Karl Brammer auf die Ankündigung des Kinobetreibers und fügte dann etwas ironisch hinzu: "Denk daran, dass wir fünf Personen sind. Ich möchte nicht, dass du unseretwegen ein armer Mann wirst."

"Rede nicht einen solchen Unsinn, Karl," entgegnete Steinicke grinsend, "das Kinogeschäft läuft gut. Gerade in Kriegszeiten sehnen sich die Leute nach Abwechslung. Und dann "Quax, der Bruchpilot." Dieser Film ist ein Renner. Bisher hatte ich nur ausverkaufte Vorstellungen. Also keine Rede mehr davon. ihr habt freien Eintritt."

Dann fügte er noch hinzu: "Und im Übrigen: Wann habe ich schon mal einen Ritterkreuzträger in meinem Kino."

"Na gut, danke," war darauf Karl Brammers Reaktion. "Ich gehe schon mal zum Marktplatz. Ich nehme an, dass mein Schwager sein Auto dort abstellen wird. Bis gleich."

Karl Brammer ging langsam in Richtung Marktplatz, der vom Kino nur etwa einhundertfünfzig Meter entfernt war. Dort angekommen, nutzte er die Wartezeit, um das wuchtige, mit Sandsteinen erbaute Rathaus und die zahlreichen Fachwerkhäuser zu bewundern. Er hatte zuvor kaum Muße gehabt, die schönen Bauten um den großen Marktplatz, auf dem zu dieser Zeit nur zwei Autos abgestellt waren, in Ruhe zu betrachten. Bisher war er wegen seiner vielen Arbeit auf dem Hof ständig in Eile gewesen, wenn er mal zum Einkaufen in der Stadt auf dem Marktplatz war oder Parteiveranstaltungen im Rathaus besuchen wollte.

Während er dort stand und sich umblickte, eilten viele Menschen an ihm vorbei in Richtung Kino. Schon nach wenigen Minuten kam sein Schwager mit dem Forstauto über das Kopfsteinpflaster auf den Marktplatz geholpert. Er stellte das Fahrzeug dort ab. Die vier Insassen stiegen aus, und nach der Begrüßung durch Händeschütteln gingen alle auf der Niedernstrasse in Richtung Kino. Zuvor hatte Karl Brammer darauf hingewiesen, dass der Kinobesitzer Steinicke für sie Plätze reservieren wolle und alle keinen Eintritt zu zahlen brauchten, was mit großer Freude besonders seitens der Mädchen aufgenommen wurde.

Claus Neuwinger und die beiden Mädchen an seiner Seite schritten zügig voraus, während Karl Brammer und sein Schwager mehr schlendernd, sich unterhaltend, in einigem Abstand folgten.

Vor der Kinokasse hatte sich bereits innerhalb des durch einen Strick abgegrenzten Teils eine lange Schlange gebildet. Claus Neuwinger wurde von vielen bewundernd angeblickt, und die beiden Mädchen genossen das, während Claus es als etwas unangenehm empfand.

Im Vorraum zum Kinosaal wurden die fünf Personen von dem Kinobesitzer Steinicke empfangen, der sie mit Heil Hitler begrüßte und Claus Neuwinger mit lauter Stimme per Handschlag zum Ritterkreuz gratulierte und dadurch die Aufmerksamkeit der vor der Kasse wartenden Menschen im zusätzlichen Maße auf den Offizier lenkte, der bereits allein wegen seine Luftwaffenuniform auffällig war. Es hatte den Anschein, als wollte Steinicke sich damit wichtig tun. Claus Neuwinger war das alles peinlich. Er hatte sich bisher nie danach gedrängt, in irgendeiner Weise im Mittelpunkt zu stehen. Er wünschte sich, bereits im dunklen Kinosaal zu sitzen und den Film zu genießen. Aber soweit war es noch nicht.

Um den von ihm befürchteten Fragen des Kinobesitzers nach seinen Luftsiegen zu entgehen, erzählte er von den Jungfilmstunden, die er vor seiner Militärzeit an Sonntagvormittagen in der Lichtburg verbracht hatte. Er war auch in der Lage, einige Filme zu nennen, die er während seiner Hitlerjugendzeit an solchen Vormittagen gesehen hatte. Zu jener Zeit habe er höchstens einmal im Monat ins Kino gehen dürfen, öfter sei es ihm von seinen Eltern nicht erlaubt worden, es sei denn, ein zusätzlicher Filmbesuch habe für die Hitlerjugend an einem Sonntagvormittag auf dem Programm gestanden. Damals seien sie zunächst, so erzählte Claus, auf dem Schulhof hinter der Kirche angetreten und seien dann, der Fanfarenzug vorweg, zur Lichtburg marschiert. Das sei immer eine willkommene Abwechslung für alle gewesen.

Steinicke hörte interessiert zu und strahlte über das ganze Gesicht, wenn er sich an den einen oder anderen Film ebenfalls erinnerte.

Dann war die Nachmittagsvorstellung endlich zu Ende. Die Besucher strömten lachend und sich über den Film amüsierend aus dem Saal. Viele von ihnen entdeckten den Fliegeroffizier und blickten neugierig zu ihm hinüber. Einige blieben dabei sogar für einen Moment stehen. Den beiden Mädchen, die das Verhalten dieser Kinobesucher beobachteten, gefiel es.

Inzwischen hatte sich der Vorraum zum Kinosaal mit den Personen gefüllt, die eine Eintrittskarte erworben hatten. Einlass war jedoch noch nicht.

Als die letzten Besucher der Nachmittagsvorstellung den Vorraum verlassen hatten, führte Steinicke Karl Brammer und dessen Begleitung über eine breiteTreppe zum Balkon, wo er ihnen in der ersten Reihe etwa in der Mitte Plätze zuwies. Erst danach war allgemeiner Einlass.

Karl Brammer und sein Schwager saßen nebeneinander, und zwar links von Liesel Neuwinger. Rechts neben ihr saß ihr Bruder und rechts neben ihm Hilde Bartels.

Einige Minuten vor Beginn der Vorstellung wurde der weinrote Samtvorhang auf der Bühne in der Mitte etwas beiseite geschoben, und Walter Steinicke trat hervor. Er hob beide Hände, womit er zu erkennen geben wollte, dass er um Ruhe bitte. So etwas hatten die Kinobesucher noch nicht erlebt. Fast alle kannten zwar den Kinobesitzer, aber nie zuvor hatten sie ihn auf der Bühne vor dem Vorhang gesehen. Das Gemurmel im Saal verstummte, und Steinicke sprach mit lauter, aber vor Erregung leicht zitternder Stimme: "Meine Damen und Herren, es ist für sie völlig ungewöhnlich, dass sie mich an dieser Stelle sehen. Aber es hat einen besonderen Grund, dass ich hier stehe. Der eine oder andere von ihnen wird vorgestern im Rundfunk gehört haben, dass der Führer dem Oberleutnant der Jagdflieger Claus Neuwinger nach fünfunddreißig Luftsiegen das Ritterkreuz verliehen hat. Claus Neuwinger ist ein Kind unserer Heimat. Er hat in Grafenhagen die Oberschule besucht, hier sein Abitur gemacht und hat in Brinke gewohnt, wo seine Eltern und seine Schwester auch heute noch leben. Aber allein deshalb würde ich hier nicht stehen. Claus Neuwinger ist unter uns, hier im Kinosaal. Viele von ihnen werden ihn vorhin schon gesehen haben. Er sitzt oben auf dem Balkon in der ersten Reihe, und wir haben allen Grund, stolz auf ihn zu sein und ihm zu gratulieren."

Steinicke blickte während seiner letzten Sätze zum Balkon hoch und zeigte auf Claus, der sich am liebsten vor Verlegenheit verkrochen hätte. Er schaute verunsichert nach rechts und links die beiden Mädchen an, die ihn anstrahlten.

Steinicke, der breit lachte und sich wunderte, dass er seine kurze Ansprache ohne Konzept geschafft hatte, fuhr fort: "Ich bitte sie, Herr Oberleutnant, sich zu erheben."

Alle unten im Saal, die in den ersten Reihen saßen, drehten ihren Kopf zum Balkon hoch, viele standen dabei auf, und zahlreiche Besucher, die unterhalb des Balkons saßen und Claus deshalb nicht sehen konnten, erhoben sich und eilten auf den Gängen links und rechts der Sitzreihen in Richtung Bühne, um einen Blick nach oben zum Balkon werfen zu können. Die Kinobesucher auf dem Balkon erhoben sich ausnahmslos, und alle im Saal klatschten Claus zu, der mit rotem Kopf aufgestanden war und sich mehrere Male nach unten, nach rechts und links und zu den Kinobesuchern, die hinter ihm saßen, leicht verbeugte.

Steinicke, der stolz auf sich in den Saal blickte, hob nach einiger Zeit erneut beide Hände und bat mit dieser Geste darum, mit dem Klatschen aufzuhören. Als es verebbte, rief er den Kinobesuchern zu: "Meine Damen und Herren, ich danke ihnen und wünsche ihnen nun viel Vergnügen bei der Wochenschau und den Erlebnissen des Bruchpiloten Quax."

Dann verschwand er hinter dem Vorhang.

Alle Besucher setzten sich wieder, und kurz danach erlosch langsam das gelb-weiße Licht, aber die Decke des Saals wurde gleich danach für einige Augenblicke von einem milden roten und anschließend von einem grünen Licht erhellt, was bei vielen Besuchern eine hörbare Bewunderung hervorrief. Claus Neuwinger war froh, dass er endlich im Dunkeln saß.

Dann folgte die Wochenschau. Es wurden Soldaten in Polen und Frankreich gezeigt, wo nicht mehr gekämpft wurde, ebenso deutsche Bomber, die in Begleitung von Jagdfliegern nach England flogen. Auch Szenen vom angeblich friedlichen und zufriedenen Leben der Bevölkerung in Berlin waren dabei und natürlich Szenen vom Führer Adolf Hitler während eines Empfangs in der Reichskanzlei. Für den unkritischen Betrachter erschienen alle Beiträge wie ein spannendes, harmloses Abenteuer, das der Wochenschausprecher mit seiner schneidenden Stimme kommentierte.

Als Liesel Neuwinger während der Wochenschau einen Blick nach rechts warf, sah sie, dass ihr Bruder mit seiner rechten Hand die linke Hand ihrer Freundin Hilde hielt. Claus hatte den kurzen Blick seiner Schwester nach rechts nicht bemerkt. Auch Hilde Bartels hatte ihn nicht mitbekommen. Liesel schmunzelte und lehnte sich irgendwie glücklich noch tiefer als zuvor in ihren Sitz zurück.

Nach der Wochenschau wurde es wieder für einige Minuten hell im Saal. Dann folgte der Film "Quax, der Bruchpilot", der die Kinobesucher wiederholt zu Lachstürmen hinriss, der aber für alle viel zu schnell zu Ende ging.

Als es wieder hell im Saal wurde, richteten sich erneut viele Blicke auf Claus Neuwinger. Die Gesichter der Menschen im Kino hatten jetzt aber wegen der zahlreichen lustigen Szenen des Films einen entspannten, fröhlichen Ausdruck.

Claus Neuwinger und seine Begleiter warteten stehend, bis fast alle Besucher den Balkon verlassen hatten. Dann gingen auch sie die Treppe hinunter in den Vorraum zum Kinosaal. Hier standen wiederum zahlreiche Menschen vor der Kasse, die Karten für die Abendvorstellung erwerben wollten. Auch jetzt wurde Claus Neuwinger von vielen angeblickt. Er war unter ihnen der einzige in Uniform.

Der Kinobesitzer Steinicke verabschiedete sich von Karl Brammer und seinen Begleitern mit Handschlag. Gegenüber Claus machte er dabei mit breitem Lächeln die Bemerkung, er solle so weitermachen, dann werde aus ihm ein noch berühmterer Jagdflieger. Karl Brammer und die beiden Mädchen hörten das gern, während Claus und sein Vater eher Zurückhaltung empfanden, aber trotzdem mit einem freundlichen Lächeln darauf reagierten. Alle fünf bedankten sich bei Steinicke für den freien Eintritt, verließen sodann den Vorraum zum Kinosaal und gingen in Richtung Marktplatz. Karl Brammer wollte seinen Schwager, Claus und die beiden Mädchen noch bis zum Auto begleiten und anschließend mit seinem Fahrrad nach Hause fahren. Alle stimmten dahin überein, dass sie einen sehr schönen Nachmittag gehabt hatten.

Am Auto angekommen, verabschiedete sich Karl Brammer von seinen Begleitern. Claus und die beiden Mädchen taten das mit erhobenem rechten Arm und mit Heil Hitler und gaben Karl Brammer anschließend die Hand. Franz Neuwinger verabschiedete sich ebenfalls mit Handschlag, aber mit den Worten: "Mach es gut; Karl. Bis demnächst mal wieder."

An seinen Neffen gewandt sagte Karl Brammer noch: "Hole weitere feindliche Flugzeuge vom Himmel, aber pass auf dich auf, Claus. Sei vorsichtig."

Das werde ich," versicherte jener.

Dann stiegen die vier ins Auto, und gleich darauf holperte der Wagen in die Richtung, aus der vor etwa drei Stunden gekommen war. Karl Brammer ahnte nicht, dass er seinen Neffen soeben zum letzten Mal gesehen hatte.

Er holte sein Fahrrad aus der Fahrradwache und fuhr, von dem Erlebten leicht beschwingt, nach Hause. Die kritischen Äußerungen seiner Schwester vom Vorabend über den Führer, über den Krieg und die Partei hatte er verdrängt, ja, fast vergessen. Jedenfalls dachte er in diesen Augenblicken nicht daran.

Zu Hause angekommen, aß er in Gegenwart seiner Frau und seiner Tochter in der Küche einige Butterbrote, die Lina Brammer bereits für ihn zubereitet hatte. Sie selbst, ihre Tochter und ihre Schwiegermutter hatten schon etwa eine Stunde zuvor, als Karl Brammer noch im Kino war, Abendbrot gegessen. Danach hatte sich Sophie Brammer in ihr Zimmer zurückgezogen.

Während Karl Brammer die Butterbrote aß und ein Glas Milch dazu trank, erzählte er seiner Frau und seiner Tochter vom Kinobesuch, von dem, was er erlebt hatte, und besonders auch vom Inhalt des Films. Dabei verging die Zeit ziemlich schnell.

So gegen einundzwanzig Uhr suchte Anna Zurheide ihre Wohnung auf. Ihre Eltern verließen ebenfalls die Küche und begaben sich in ihr Schlafzimmer, wo sie sich entkleideten, ihr langes, weißes Nachthemd anzogen und sich dann ins Bett legten. Jeder hatte sein eigenes Bett. Beide Bettgestelle standen jedoch nebeneinander.

Es dauerte nicht lange, da fragte Karl Brammer seine Frau - wie meistens in solchen Fällen - mit einem leicht bettelnden Unterton: "Darf ich noch ein bisschen zu dir kommen?"

Die Frage war rein rhetorisch , denn ohne eine Antwort abzuwarten, kroch er aus seinem Bett unter das dicke Oberbett seiner Frau und schmiegte sich, auf der rechten Seite liegend, an sie. Lina Brammer legte sich gleich danach auf ihre linke Seite, und beide Eheleute begannen wortlos, sich gegenseitig abzutasten und zu streicheln. Karl Brammer spürte die glatte und straffe Haut seiner Frau, die noch keine Alterserscheinungen aufwies. Auf Grund dieses Vorspiels steigerte sich die sexuelle Erregung beider mehr und mehr. Karl Brammer legte sich schließlich auf seine Frau, und es kam zum Verkehr - seit Tagen mal wieder. Das frühe Aufstehen, die harte Arbeit während des Tages und die Müdigkeit am Abend, aber auch das fortgeschrittene Alter hatten im Laufe der Jahre zur Folge gehabt, dass ein Beischlaf zwischen ihnen seltener stattfand als früher, meistens nur einmal in der Woche, manchmal auch zweimal. Es war in der Vergangenheit allerdings nicht häufig vorgekommen, dass beide etwa zur gleichen Zeit ihren Orgasmus hatten. In der Regel war Karl Brammer zuerst befriedigt. Aber er hatte danach in nahezu allen Fällen mit seinen Händen dafür gesorgt, dass auch seine Frau ihre Befriedigung bekam. So war es auch an diesem Abend.

Die Eheleute hatten seit ihrer Heirat einen völlig unverkrampften und offenen Umgang mit ihren sexuellen Bedürfnissen. Wenn einer von ihnen ein sexuelles Verlangen nach dem anderen hatte, gab er es ihm ohne Hemmungen zu verstehen. Das hatte in der Vergangenheit schon mehrere Male dazu geführt, dass sie, wenn sie auf dem Boden über dem Stall zu tun hatten und allein waren, dort ganz spontan einen Beischlaf miteinander hatten. Beide hatten das nie als anstößig empfunden. Danach hatten sie stets das Gefühl gehabt, dass ihnen die Arbeit an diesem Tage leichter von der Hand ging. Beide empfanden diese sexuelle Offenheit als angenehm und sahen sie mit als Grund dafür an, dass ihre Ehe, von gelegentlichen nebensächlichen Streitigkeiten mal abgesehen, weitgehend harmonisch war.

Allerdings hatte Karl Brammer in früheren Jahren, besonders nach der Geburt ihres zweiten Kindes, den Geschlechtsverkehr unmittelbar vor dem Orgasmus abbrechen müssen, um zu vermeiden, dass seine Frau wieder schwanger wurde. Beide waren sich nämlich einig gewesen, nur zwei Kinder zu haben. Verhütungsmittel gab es im Hause Brammer nicht. Zwar hätte sich Karl Brammer in der Apotheke in Grafenhagen sogenannte Überzieher, die auch als Pariser bezeichnet wurden, besorgen können; aber er hatte sich geniert, bei seinem Parteigenossen Sennemeier, dem Inhaber der einzigen Apotheke in der Stadt, solche zu kaufen. Auch seiner Frau war es peinlich gewesen, dort diese Schutzmittel zu besorgen. Deshalb hatten sie in den vergangenen Jahren ohne Schutzmittel zurecht kommen müssen. Sie hatten das jedoch letztlich nicht als Nachteil empfunden.

Als beide befriedigt und gelöst, aber noch eng umschlungen wieder auf der Seite lagen, vom Beischlaf noch schwer atmend, sagte Karl Brammer: „Mann, oh Mann, hatte ich einen Überdruck, seit Tagen schon. Es wurde mal wieder Zeit mit uns beiden.“

Nach einiger Zeit verließ er das Bett seiner Frau und rollte sich in sein eigenes Bett zurück. Danach machte er noch die Bemerkung, das habe mal wieder Spaß gemacht, während seine Frau lachend meinte, dieses konstenlose Vergnüben hätten sie sich in letzter Zeit viel zu selten gegönnt.

„Du hast Recht,“ stimmt Karl Brammer seiner Frau zu. „Wir gehen zwar auf die Fünzig zu, aber auf diesem Gebiet fühle ich mich noch wie dreißig. Wenn ich abends nur nicht immer so verdammt müde wäre.“

„Gib nicht so an, Karl,“ reagierte seine Frau darauf amüsiert. „Als du dreißig warst, auch noch mit vierzig, bist du trotz der vielen Arbeit fast jeden zweiten Abend zu mir ins Bett gekrochen, selbst in der Nacht noch, wenn du mal spät von einer Versammlung oder von der Jagd nach Hause gekommen bist.“

„Na ja, das stimmt schon. Wie dreißig oder vierzig bin ich nicht mehr,“ erwiderte Karl Brammer kleinlaut, „aber entscheidend ist doch, dass ich immer noch Verlangen nach dir habe. Ich hoffe, auch noch mit siebzig.“

Seine Frau meinte dazu: „Abwarten, noch bist du nicht so alt. Noch haben wir beide Spaß am Sex. Im Übrigen soll es Männer geben, die mit siebzig noch ein Kind gezeugt haben.“

Dann schwiegen beide eine Weile, bis Karl Brammer leise zu kichern begann.

"Warum lachst du denn?" wollte seine Frau wissen.

"Mich würde interessieren, ob sich Fritz auch noch hin und wieder auf seine Marie legt," gab Karl Brammer zur Antwort.

"Ich glaube schon," meinte seine Frau zunächst harmlos, fügte dann jedoch, plötzlich erstaunt über die Äußerung ihres Mannes, hinzu: "Aber sag mal, wie kommst du bloß auf solche Gedanken? Du solltest lieber schlafen. Morgen früh ist die Nacht vorbei."

"Wenn ich mir vorstelle, wie Fritz auf Marie liegt, dann......"

Seine Frau unterbrach ihn und forderte ihn auf, allerdings nicht ganz ernst gemeint, mit solchen Äußerungen aufzuhören, sie würde sonst wieder hell wach und nicht einschlafen können.

"Du hättest mehr davon, wenn du schlafen würdest, als dich solchen Phantastereien hinzugeben," erklärte sie, lachte dabei aber leise. "Ich war gerade so wohlig beim Eindämmern, und dann kommst du mit solchen Vorstellungen. Gute Nacht."

"Ich bin jetzt still," versprach ihr Mann, immer noch kichernd. Nach einem Augenblick murmelte er fast schon im Schlaf: "Morgen früh kommen der Polacke und der Franzmann. Ich bin gespannt, was die beiden für Typen sind."

"Ich auch," erwiderte seine Frau. "Schlaf gut, Karl."

"Du auch", gähnte Karl Brammer und schaltete seine Nachttischlampe aus. Schon bald darauf hörte er das ruhige Atmen seiner Frau, die inzwischen eingeschlafen war.

"Gott sei Dank, dass sie nicht schnarcht," dachte er noch und erinnerte sich für einen Moment an eine Nacht vor etwa zwei Jahren, als er während einer zweitägigen Parteiversammlung in Hannover das gemietete Zimmer mit einem Parteigenossen hatte teilen müssen. Jener hatte derart geschnarcht, dass Karl Brammer zu seinem großen Ärger keine Ruhe gefunden und nach seiner Erinnerung die halbe Nacht wach gelegen hatte. Aber der Parteigenosse hatte damals auf dem Rücken gelegen, und irgendwann hatte er mal gelesen, dass Menschen, die auf dem Rücken schlafen, häufiger schnarchen als die, die während der Nacht auf einer Seite liegen. Seine Frau schlief auf der Seite, er ebenfalls. Und seine Frau hatte ihm wiederholt versichert, dass auch er in der Regel nicht schnarche. Nur wenn er mal Alkohol getrunken habe, schnarche er manchmal. Er liege dann meistens auf dem Rücken. Aber es genüge in solchen Fällen ein leichter Stoß in die Seite, um ihn ruhig zu stimmen.

Dann wurde auch Karl Brammer allmählich vom Schlaf übermannt. Beide Eheleute schliefen in dieser Nacht ohne Unterbrechung, bis sie ihr Wecker am Montagmorgen um halb sechs aus dem Schlaf klingelte.

Der Franzmann

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