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2. Kapitel
ОглавлениеAls Karl Brammer an diesem Morgen nach dem Frühstück so gegen acht Uhr gerade die Diele verlassen wollte, um die große Scheune aufzusuchen, kamen von der Landstraße drei Männer auf den Hof. Der eine, der ein Fahrrad schob, war ein deutscher Soldat mittleren Alters. Die beiden anderen trugen bereits leicht verschlissene fremde Uniformen. Für Karl Brammer war klar, dass es sich bei ihnen um den polnischen und den französischen Kriegsgefangenen handelte.
„Heil Hitler," grüßte der Soldat und fragte gleich darauf: "Sind sie Herr Brammer?"
Als der Bauer nach Erwiderung des Grußes die Frage bejahte, erklärte der Soldat, er bringe die dem Hof Brammer zugewiesenen Gefangenen, und jener müsse eine Bescheinigung unterschreiben, dass sie ihm zugeführt worden seien. Dann stellte er sein Fahrrad an der Hauswand ab.
Der Bauer bat den Wachmann auf die Diele und befahl den Gefangenen, mitzukommen. Besonders begrüßt wurden die beiden von ihm nicht. Die Gefangenen folgten dem Bauern und dem Soldaten wortlos und blieben auf der Diele etwa in Höhe der Tür stehen, die gleich rechts hinter dem Dielentor auf die Stallgasse zu den Pferden führte, während Karl Brammer die ihm von dem Soldaten überreichte Bescheinigung^unterschrieb, die er dabei gegen die linke Dielenwand drückte. Mit der Bescheinigung hatte ihm der Soldat einen Bleistift zum Unterschreiben gegeben.
Nach der Unterschrift gab Karl Brammer die Bescheinigung und den Bleistift zurück, der Soldat grüßte mit Heil Hitler, verließ sodann die Diele und fuhr mit dem Fahrrad davon.
Nachdem der Bauer den Gruß des Soldaten erwidert hatte, musterte er die Gefangenen mit einem kurzen Blick, öffnete dann die links befindliche Tür zum Stall, rief die Vornamen der Eheleute Tegtmeier und bat sie, auf die Diele zu kommen. Fritz und Marie Tegtmeier waren zu dieser Zeit im Stall beschäftigt. Dann begab er sich zu der Tür, die auf den Flur seiner Wohnung führte, und rief die Vornamen seiner Frau und seiner Tochter. Auch sie sollten auf die Diele kommen.
Sophie Brammer hatte inzwischen die Tür ihres Wohn-Schlafzimmers geöffnet und war auf die Diele getreten. Sie hatte zuvor ihren Sohn und den Soldaten dort sprechen hören und hatte deshalb, neugierig geworden, zunächst auf die Diele geblickt und hatte dann ihr Wohn - Schlafzimmer verlassen.
Es dauerte nur kurze Zeit, bis die Eheleute Tegtmeier auf der Diele erschienen und dann in Höhe der Tür zum Stall stehen blieben. Sie standen den Gefangenen etwa gegenüber. Gleich darauf kamen auch Lina Brammer und Anna Zurheide hinzu. Karl Brammer stand - mit Blickrichtung auf die Gefangenen - etwa in der Mitte der Diele, seine Frau und seine Tochter etwa zwei Schritte hinter ihm. Die Eheleute Tegtmeier, Lina und Sophie Brammer sowie Anna Zurheide blickten neugierig zu den beiden Gefangenen hinüber, die nun von Karl Brammer befragt wurden.
Er wandte sich zuerst an den kräftigen, etwas untersetzt wirkenden polnischen Gefangenen, der links von dem Franzosen, somit am nächsten zu dem Bauern stand. Karl Brammer wollte zunächst den Namen dieses Gefangenen wissen. Dabei duzte er ihn.
"Adam Bujak", antwortete jener mit einer etwas rauen Stimme.
"Und woher kommst du?"
Der Gefangene nannte einen Ortsnamen, der dem Bauern wie ein Zungenbrecher vorkam.
"Wiederhole ihn noch mal," forderte er den Polen auf, der das auch tat.
Karl Brammer versuchte den Namen nachzusprechen. Aber das gelang ihm nicht so recht.
"Furchtbare Sprache," murmelte er, "irgendwie klingt sie unkultiviert."
Dann fragte er mit lauter Stimme weiter: " Wo liegt denn dieses Kaff?"
"Von Warschau nördlich", gab der Pole zur Antwort, "entfernt dreißig Kilometer, ungefähr."
"Dann bist du wohl ein Kaschubiak," meinte der Bauer, der
irgendwann einmal etwas von Kaschuben gehört hatte und auch mal den Ausdruck Kaschubiak, der nach seiner Vorstellung einen etwas hinterwäldlerischen, unordentlichen Menschen aus dem Osten bezeichnen sollte. Aber Genaues wusste er nicht.
Der Pole, der mit dem Begriff nichts anfangen konnte, schwieg verunsichert und blickte hilflos den Franzosen an, der darauf etwas zögerlich erklärte, dass die Kaschuben zu einem Volksstamm mit eigener Sprache gehörten, dass sie im Nordosten von Pommern lebten und Deutsche seien, keine Polen.
"So, so", reagierte Karl Brammer verduzt und etwas irritiert auf die Belehrung des Franzosen. "Sehr interessant, wirklich, sehr interessant, aber ich habe dich nicht gefragt. Antworte erst, wenn du gefragt wirst."
Der Franzose schwieg darauf, und insgeheim wurmte Karl Brammer die Belehrung des französischen Gefangenen.
Anna Zurheide konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Irgendwie gefiel ihr die eigenwillige Reaktion des athletisch gewachsenen, gut aussehenden Franzosen mit dem vollen schwarzen Haar. Jener hatte langsam, mit ruhiger, angenehm klingender Stimme mit französischem Akzent gesprochen. Anne hatte eine solche Aussprache, die für sie gar nicht fremdartig klang, noch nie gehört.
"Wie alt bist du?" wandte sich Karl Brammer wieder an den Polen.
"Dreißig Jahre."
"Bist du verheiratet?
"Ja," antwortete der Pole, "ich zwei Kinder, sechs und vier Jahre alt."
"Leben die Kinder bei deiner Frau?"
"Ja," gab der Pole zur Antwort, "Familie lebt bei Eltern meiner Frau. Haben kleinen Hof."
"So, so," äußerte Karl Brammer dazu, "dann verstehst du ja wohl etwas von der Landwirtschaft."
"Ein bisschen, nur ein bisschen," antwortete der Pole bescheiden. “Eltern von Frau haben drei Kühe, ein Pferd, Gänse, Hühner und mehrere Schweine. Ich geholfen nach Arbeit in Fabrik. Mitgearbeitet bei Eltern von Frau, wenn in Fabrik Arbeit zu Ende."
"Gut, gut," erklärte Karl Brammer, " dann müsstest du ja eigentlich wissen, was auf einem Hof so alles zu tun ist."
"Ja, ja, ich wissen ein bisschen."
"Wann bist du denn in Gefangenschaft gekommen?"
"Schon etwa zwei Wochen nach Krieg. Soldat schon mal vor zehn Jahren, ungefähr. Dann Krieg, und wieder Soldat, ganz schnell. Dann gleich gefangen und nach Deutschland gebracht. Hier zuerst in Fabrik und dann bei Bahn gearbeitet, auf Gleisen. Und jetzt hier."
"So, so," sagte Karl Brammer darauf und wandte sich dann dem Franzosen zu: "Und wie heißt du?"
"Baptiste Carne`“.
"Wie alt?"
"28 Jahre."
"Bist du verheiratet?"
"Nein."
"Hast du vor dem Krieg bei deinen Eltern gelebt?"
"Bei meiner Mutter, zusammen mit meiner jüngeren Schwester. Mein Vater ist vor drei Jahren gestorben."
"Und wo wohnst du?"
"In Luneville."
"Wo liegt denn das?"
"In Frankreich."
Karl Brammer spürte, wie über die Antwort des Franzosen ein Groll in ihm aufkam. Aber er unterdrückte ihn. Als seine hinter ihm stehende Tochter jedoch kurz auflachte, drehte er sich zu ihr um und fragte sie verärgert: "Was gibt es denn da zu lachen? Diese dumme Antwort kann ja wohl kein Grund dafür sein."
Dann wandte er sich, etwas verbissen, wieder dem Franzosen zu und erklärte in einem ironischen Tonfall: "Sehr interessant, wirklich, sehr interessant, in Frankreich also. Darauf wäre ich von mir aus nicht gekommen. Wo denn da?"
"Etwa westlich von Strasbourg," antwortete Baptiste mit ruhiger Stimme, ohne eine Miene zu verziehen. Er hatte den Stadtnamen französisch ausgesprochen.
"Du meinst Straßburg," versuchte Karl Brammer den Franzosen zu berichtigen, indem er den Namen der Stadt deutsch aussprach.
"Wir sagen in Frankreich Strasbourg," antwortete der Franzose gelassen.
"Na gut, wie du meinst. Und wo hast du so gut Deutsch gelernt?"
"Bei meiner Großmutter. Sie war eine Deutsche. Als sie jedoch meinen Großvater, der Franzose war, heiratete, wurde sie Französin."
"Wo haben denn deine Großeltern gewohnt?"
"In einem kleinen Dorf im Elsass."
"Dann bist du ja ein halber Deutscher," meinte Karl Brammer auf die Antwort des Franzosen.
"Nein," erklärte jener bestimmt, "ich bin Franzose."
"Aber wenn deine Großmutter Deutsche war und mit ihrem Mann im Elsass gewohnt hat, dann hast du doch zumindest deutsche Wurzeln. Im Übrigen ist das Elsass deutsch - jedenfalls soweit ich weiß."
"Das Elsass war einmal eine Zeit lang deutsch. Nach dem deutsch-französischen Krieg 1870/71 kam es zu Deutschland, aber nach dem Weltkrieg wieder zu Frankreich," belehrte ihn der Franzose mit ruhiger Stimme.
"So, so", reagierte Karl Brammer leicht verunsichert auf die Antwort des Gefangenen, "aber jetzt wird es wieder deutsch, und es wird deutsch bleiben."
"Das glaube ich nicht," meinte der Franzose kopfschüttelnd, und es schien, als hörte man seinen französischen Akzent noch deutlicher heraus, "vielleicht für einige Zeit. Aber letztlich wird es bei Frankreich bleiben. Die Geschichte der Völker ist ein ständiger Wandel, der sich manchmal über Jahrzehnte vollzieht."
Karl Brammer schwieg einen Moment. Die anderen Anwesenden hatten das Gespräch zwischen dem Bauern und dem französischen Kriegsgefangenen mit Spannung verfolgt, Anna auch mit einiger Bewunderung und einem leichten Schmunzeln, Fritz Tegtmeier zeitweise etwas grinsend.
"Hast du schon mal was mit Landwirtschaft zu tun gehabt?" setzte Karl Brammer seine Fragen fort.
"Meine Großeltern hatten im Elsass eine kleine Bauernstelle. Ich war als Junge in den Ferien oft bei ihnen und habe ihnen geholfen, soweit ich das damals konnte."
"Ein bisschen wenig," meinte Karl Brammer skeptisch. "Hatten die denn überhaupt Tiere?"
" Gänse und Hühner, auch Schweine und zwei Kühe."
"Keine Pferde?"
"Nein. Die Kühe waren - wie sagt man? - Zugkühe. Sie wurden jedenfalls öfter vor einen Wagen gespannt."
"Na ja, wenigstens etwas. Und was hast du beruflich gemacht?"
"Ich war Lehrer an einem Gymnasium in Luneville, bis ich beim Ausbruch des Krieges zum Militär eingezogen wurde und dann schon bald in Gefangenschaft kam."
"Aha, deshalb bist du so schlau, Lehrer also", reagierte Karl Brammer darauf mit einem leicht ironischen Unterton. "Von Landwirtschaft wirst du dann wohl keine Ahnung haben."
"Ich gebe zu, nur wenig. Aber ich werde mich bemühen, so viel wie möglich zu lernen. Ich bin lernfähig."
"Das hoffe ich in deinem Interesse. Sonst kann ich dich hier nämlich nicht gebrauchen," gab Karl Brammer dem Franzosen zu verstehen. Dann begann er, seine Angehörigen und die Eheleute Tegtmeier mit Namen vorzustellen, und zwar zunächst seine Frau, zu der er sich umdrehte. Anschließend stellte er seine Tochter, seine Mutter und schließlich die Eheleute Tegtmeier vor.
"Wenn sie etwas anordnen oder wenn ich das selbst tue, habt ihr das auszuführen, und zwar ohne Diskussion. Habt ihr das verstanden?"
Der Pole bejahte die Frage, während der Franzose nur mit dem Kopf nickte und dabei staunend an die Decke der Diele blickte.
"Was gibt es denn da zu sehen?" wollte Karl Brammer wissen.
"Ich bewundere dieses große Zimmer mit den vielen Balken," antwortete der Franzose und schaute in die Runde. "Es ist wunderbar."
"Das ist kein Zimmer, das ist eine Diele," klärte ihn der Bauer auf. "Gibt es so etwas in Frankreich nicht?"
"Ich weiß nicht. Jedenfalls habe ich so etwas bei uns noch nicht gesehen."
"Na gut," fuhr Karl Brammer fort, "Fritz Tegtmeier wird euch jetzt eure Unterkunft zeigen, wo ihr beim Essen zu sitzen habt und wird euch überall herumführen. Um halb acht Uhr morgens gibt es Frühstück, um zwölf Uhr Mittagessen und um sechs Uhr Abendessen. Habt ihr heute schon etwas zu essen bekommen?"
Während der Pole die Frage bejahte, sagte der Franzose: "Ein bisschen, nur ein bisschen."
„Ihr werdet bis zwölf Uhr schon nicht verhungern."
Dann wandte er sich an Fritz Tegtmeier: "Fritz, führe die beiden herum und zeige ihnen alles."
"Ja ja jawohl, Che Che Chef," stotterte jener und stand dabei grinsend stramm.
Er hatte Karl Brammer noch nie Chef genannt, aber es war offensichtlich, dass er sich über ihn lustig machen wollte.
"Lass diese Mätzchen," erklärte der Bauer verärgert, drehte sich um und suchte die Küche in seiner Wohnung auf. Seine Frau, seine Tochter und seine Mutter folgten ihm
Fritz Tegtmeier ging mit den beiden Gefangenen zuerst zur Leibzucht, in der er ihnen ihre Unterkunft zeigte. Anschließend führte er sie durch die beiden Scheunen und durch die Stallungen und zeigte ihnen auch die Böden in den Scheunen und über den Stallungen.
Marie Tegtmeier begab sich wieder in den Stall und setzte dort ihre Arbeit fort.
In der Küche äußerte Karl Brammer gereizt, der Franzmann erscheine ihm arrogant; er lasse sich von dem nicht belehren, und jener dürfe ihm nicht noch einmal mit dummen Antworten kommen.
"Aber Karl," versuchte seine Frau ihn zu beruhigen. "Was hat er dir denn getan?"
"Hast du nicht gemerkt, dass er mich vor euch lächerlich machen wollte?" empörte sich der Bauer. "Das war doch ganz klar zu erkennen."
"Sei nicht so empfindlich," riet ihm seine Mutter. "Im Übrigen hast du fast im Kommandoton mit den beiden gesprochen. Das musste nicht sein. Dann hast du sie von vornherein geduzt. Das machst du doch bei anderen fremden Menschen auch nicht."
"Es sind Kriegsgefangene, die mir unterstellt sind und für die ich die Verantwortung trage," grummelte der Bauer, "beide müssen von Anfang an wissen, wer hier das Sagen hat. Ich möchte nicht, dass sie verhätschelt werden."
"Aber Papa, das wissen die beiden doch. Sieh das alles nicht so ernst,"
mischte sich Anna ein. "Die Hauptsache ist doch, dass sie ordentlich arbeiten. Und was der Franzose über Kaschubiaks und über das Elsass gesagt hat, wird ja wohl richtig sein. Vielleicht weiß er es tatsächlich besser als du. Wäre das so schlimm?"
Während des kurzen Gesprächs holte Sophie Brammer Brot, Butter und Wurst aus dem Küchenschrank, schnitt mit einem großen Messer vier Schreiben Brot und begann sie mit Butter und Wurst zu bestreichen.
"Was machst du denn da?" fragte Karl Brammer seine Mutter erstaunt. "Du hast doch schon gefrühstückt."
"Ich schmiere für die Gefangenen Butterbrote," gab Sophie Brammer zur Antwort und setzte dabei, am Tisch sitzend, ohne aufzublicken ihre Arbeit fort.
"Warum denn das? Die beiden haben doch schon etwas gegessen. Das haben sie vorhin auf meine Frage erklärt," ereiferte sich Karl Brammer. "Bis zwölf Uhr werden sie doch wohl durchhalten können."
"Es sind kräftige, junge Männer, die ständig Hunger haben. Ich weiß das. Du hattest als junger Mann auch dauernd Appetit," antwortete seine Mutter gelassen. "Wenn sie für uns arbeiten, sollen sie wenigstens satt sein. Hast du nicht gehört, dass der Franzose auf deine Frage geantwortet hat, er habe nur ein bisschen zu essen bekommen, nur ein bisschen?"
Karl Brammer brummte wie zu sich selbst, er komme sich vor wie auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung, rundherum Verständnis und Mitleid mit den beiden Gefangenen.
"Macht, was ihr wollt," grummelte er verärgert und verließ die Küche. Die drei Frauen blickten sich schmunzelnd an.
"Lasst ihn nur. Er muss sich erst an die neue Situation gewöhnen," meinte seine Mutter, die inzwischen die Butterbrote fertig geschmiert hatte. "Wenn die beiden ordentlich arbeiten, wird sich seine Einstellung zu ihnen ändern. Da bin ich mir sicher. Er wird sie dann nicht nur als Gefangene sehen, sondern als Mitarbeiter. Ich bringe den beiden jetzt die Brote."
Sie erhob sich stöhnend vom Stuhl und verließ die Küche.
Im Laufe des Vormittags räumte Anna Zurheide zunächst ihre Wohnung auf, fegte die Küche und den Flur aus, wischte die Fußböden und fuhr dann mit ihrem Fahrrad nach Grafenhagen zum Einkaufen. Nach ihrer Rückkehr bereitete sie mit ihrer Mutter das Mittagessen vor. Es sollte Linsensuppe mit Fleisch geben, und zwar gleich für zwei Tage. Die Menge der Suppe mussten ihre Mutter und sie wegen der zwei zusätzlichen Esser jetzt neu einschätzen, was aber keine Schwierigkeiten bereitete. Sie kochten vorsichtshalber reichlich.
Kurz vor zwölf Uhr erschien Karl Brammer in der Küche. Er hatte in der kleinen Scheune Gerätschaften repariert. Auch die Eheleute Tegtmeier kamen mit den beiden Gefangenen rechtzeitig zum Essen. Nach der Besichtigung der Räumlichkeiten hatten der Knecht und die Gefangenen den Kuhstall gemistet.
Fritz Tegtmeier zeigte ihnen noch einmal ihren Platz auf dem Sofa am runden Tisch.
Beide Gefangenen standen zunächst etwas verunsichert in der Küche und setzten sich erst, als die anderen an dem großen Tisch, auf dem der Topf mit der dampfenden Linsensuppe stand, Platz genommen hatten. Jeder hatte einen Teller vor sich stehen, neben dem ein Löffel lag.
Anna holte unaufgefordert die beiden Teller vom runden Tisch, füllte Linsensuppe hinein und brachte sie dann zurück. Dabei bemerkte sie, dass sie von Baptiste beobachtet wurde, während sich Adam Bujak interessiert in der Küche umschaute. Anna versuchte einen Blickkontakt mit dem Franzosen zu vermeiden, was ihr jedoch nicht ganz gelang. Einmal trafen sich ihre Blicke kurz.
Das Essen wurde zunächst schweigend eingenommen. Dann bemühte sich Fritz Tegtmeier, ein Gespräch mit den Worten in Gang zu bringen: "Die bei bei beiden ha ha haben heu heu heute Mor Morgen gut ge ge gearbeitet, Ka Ka Karl. Ich glau glau glaube, sie sind zu ge ge gebrauchen."
"Warten wir es ab," war die kurze Reaktion des Bauern.
"Je je jedenfalls bin ich mit ihnen bis jetzt zu zu zufrie frie frieden," versuchte Fritz Tegtmeier noch einmal, mit Karl Brammer ins Gespräch zu kommen, der jedoch weiterhin schweigend seine Suppe löffelte.
"Ich ha ha habe AA Adam mei mei meine alten Schu Schu Schuhe ge ge gegeben, die in der klei klei kleinen Scheu Scheu Scheu her her herumstanden. Ich brau brau brauche sie nicht mehr. Ba Ba Baptiste hat deine al al alten Stie Stie Stiefel an an angehabt beim Mi Mi Misten. Sie stan stan standen auch in der klei klei kleinen Scheu Scheune. Ich neh neh nehme an, dass du nichts da da dagegen ha ha hast."
Karl Brammer antwortete nicht und aß schweigend weiter, während seine Frau den Knecht lobte: "Das hast du richtig gemacht, Fritz. Die Stiefel hat Karl schon seit Monaten nicht mehr angehabt. Hauptsache sie passen Baptiste."
"Ja, ja," antwortete Fritz Tegtmeier darauf, "auch mei mei meine Schuh Schuh Schuhe pa pa passen. Sie sind zwar et et etwas gro gro groß für A A Adam, a a aber es geht."
Dann schwiegen alle eine Weile, bis Fritz Tegtmeier erneut stotternd fortfuhr und dabei grinsend zu den beiden Gefangenen hinüber blickte: "Ich ha ha habe den bei bei beiden ge ge gesagt, dass du, Li Li Lina, es nicht gern sie sie siehst, wenn je je jemand mit schmut schmut schmutzigen Schu Schu Schuhen oder Stie Stie Stiefeln eure Woh Woh Wohnung be be betritt. De de deshalb sollen sie ihre Ar Ar Arbeitsschu schu schuhe im Stall oder spä spä spätestens auf der Die Die Diele aus aus ausziehen und ihre Stra Stra Strassenschu schu schuhe an an anziehen. Haus Haus Hausschuhe ha ha haben die bei bei beiden ja nicht."
"Vielleicht stehen ja noch alte auf dem Boden herum," entgegnete Lina Brammer darauf, "ich werde nachher mal nachsehen." Und nach einer kurzen Pause ergänzte sie noch lächelnd: "Wenn wir dich nicht hätten, Fritz."
Fritz Tegtmeier war stolz auf das versteckte Lob der Bäuerin und strahlte über das ganze Gesicht. Seine Frau machte darauf die spöttische Bemerkung, manchmal habe er ja gute Einfälle und handele er auch vorausschauend, aber sehr häufig sei das leider nicht der Fall. Alle am Tisch wussten, dass diese Einschätzung nicht ernst gemeint war.
Karl Brammer schwieg weiterhin. Er hatte zwar im Grunde nichts dagegen, dass der Franzose bei der Arbeit seine alten Stiefel trug; aber er sprach es nicht aus, und irgendwie passte ihm einiges nicht. Besonders für den Eifer seiner Frau und seiner Mutter hatte er kein Verständnis. Immerhin handelte es sich bei dem Franzmann und dem Polaken nicht um deutsche Mitarbeiter, sondern um Kriegsgefangene, die nach seiner Auffassung auch entsprechend behandelt werden mussten. Das hatten seine Frau und seine Mutter anscheinend noch nicht begriffen. Vielleicht wollten sie das aber auch nicht begreifen. Erst hatten sie Verständnis für die von ihm als provozierend empfundene Antwort des Franzosen auf seine Frage erkennen lassen, wo denn Luneville liege, dann schmierte seine Mutter für die beiden Butterbrote, obwohl sie in Grafenhagen schon zu essen bekommen hatten, nun wollte sich seine Frau auch noch nach Hausschuhen für sie umsehen und schließlich wurden sie, noch dazu bequem auf dem Sofa sitzend, von seiner Tochter wie in einem Restaurant bedient. Das alles wurmte ihn und legte seine Zunge lahm. Allerdings wusste er auch nicht so recht, wie denn die beiden als Kriegsgefangene behandelt werden sollten.
"Verdammt noch mal, so kann das nicht weitergehen," dachte er, aber gleichzeitig war ihm auch bewusst, dass er das gemeinsame Essen in der Küche und den Platz der beiden auf dem Sofa am runden Tisch nicht rückgängig machen konnte. Die Gefangenen könnten sich auch kaum eigenmächtig das Essen aus dem Topf holen. Das wäre in seinen Augen dreist und würde ihn noch mehr stören als die Bedienung durch seine Tochter. Und die Hausschuhe, die seine Frau für die beiden Gefangenen besorgen wollte, würden für sie eine Arbeitserleichterung bedeuten. Obwohl er das alles erkannte, störte ihn die Fürsorge seiner Frau, seiner Mutter und auch seiner Tochter für die beiden und ließ in ihm einen gewissen Groll aufkommen.
"Das Essen hat sehr gut geschmeckt, Frau Brammer," lobte Baptiste mit zurückhaltender Stimme die Bäuerin, "dabei gehe ich davon aus, dass sie die Suppe zubereitet haben."
"Ja, gut schmecken," bestätigte Adam seinem Tischnachbarn.
"Oh danke," reagierte Lina Brammer geschmeichelt, "aber meine Tochter hat mir geholfen."
Bisher hatte sich niemand von ihrer Familie lobend über ihre Kochkünste geäußert, auch Fritz und Marie Tegtmeier nicht. Alle hatten sie stets als selbstverständlich hingenommen.
"Möchtet ihr noch einen Teller?"
"Wenn es ihnen nichts ausmacht, gern," antwortete der Franzose. Der Pole nickte bescheiden mit dem Kopf.
Anna stand erneut unaufgefordert auf, holte die beiden leeren Teller vom runden Tisch, füllte sie mit Linsensuppe und brachte sie zu den beiden Gefangenen zurück.
"Vielen Dank," sagte Baptiste und blickte Anna dabei an, die jedoch verunsichert seinem Blick auszuweichen versuchte.
Auch der Pole bedankte sich.
Alle aßen danach schweigend weiter. Karl Brammer fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Ihm fehlte das lebhafte, manchmal auch strittige Gespräch, das vorher, als die Gefangenen noch nicht anwesend waren, stets beim Essen geführt worden war, besonders mit seinem Knecht Fritz Tegtmeier. Insgeheim ärgerte er sich darüber, dass er nicht über seinen eigenen Schatten springen und von sich aus ein Gespräch beginnen konnte. Dann fiel ihm plötzlich etwas ein, worauf er die Gefangenen schon am Morgen auf der Diele hatte hinweisen wollen.
"Ich habe euch noch zu sagen," wandte er sich an die beiden Gefangenen, "dass ihr während der Dunkelheit euer Zimmer in der Leibzucht nicht verlassen dürft, es sei denn, ihr bekommt von mir, meiner Frau, meiner Tochter, meiner Mutter oder von den Eheleuten Tegtmeier die Genehmigung für den Hofbereich. Gänge nach Grafenhagen oder in ein anderes Dorf kommen für diese Zeit sowieso nicht in Frage. Außerdem ist es euch verboten, Gastwirtschaften, Kinos und Rummelplätze zu besuchen. Schließlich dürft ihr auch nicht an einem Gottesdienst in der Kirche teilnehmen. Wenn ihr dagegen verstoßt, könnt ihr bestraft werden. Habt ihr das verstanden?"
Während der Pole die Frage bejahte, wollte der Franzose wissen, ob sie denn wenigstens bei Dunkelheit das Klo aufsuchen dürften, das sich ja im Erdgeschoss der Leibzucht befinde. Baptiste hatte ganz sachlich gefragt und mit ruhiger Stimme gesprochen. Trotzdem antwortete Karl Brammer gereizt, das sei ja wohl selbstverständlich. Auf Grund der Gegenfrage des Franzosen spürte er erneut einen Groll in sich aufkommen, zumal die Frauen am Tisch schmunzelten und Fritz Tegtmeier auflachte, was wieder einmal wie das Meckern einer Ziege klang.
Karl Brammer, der sich von dem Franzosen auf den Arm genommen fühlte, stand vom Stuhl auf und verließ wortlos die Küche. Lina Brammer äußerte anschließend lediglich: "Was hat er denn nun schon wieder?"
"Weiß ich auch nicht," erklärte Sophie Brammer, "lass ihn man, er wird sich schon wieder beruhigen."
Nach dieser Bemerkung verließ auch sie die Küche und suchte ihr Wohn-Schlafzimmer auf.
Als Fritz Tegtmeier mit dem Hinweis aufstand, er wolle jetzt im Stall weitermachen, erhoben sich auch die Gefangenen. Die drei Männer verließen die Küche, während Lina Brammer, ihre Tochter und Marie Tegtmeier das Geschirr abräumten, es abwuschen, es anschließend abtrockneten und an ihren Platz im Schrank stellten.
Am Nachmittag dieses Tages, so gegen zwei Uhr, erschienen die Eheleute Senne mit ihren Fahrrädern auf dem Hof. Karl Brammer war zu dieser Zeit noch in seiner Werkstatt in der kleinen Scheune beschäftigt. Da die Eheleute von dort ein Hämmern hörten, fuhren sie gleich zur Scheune. Als der Bauer die beiden kommen sah, hörte er mit seiner Arbeit auf, blickte sie ernst an und empfing sie ohne vorherige Begrüßung mit den Worten, er habe schon mit ihrem Erscheinen gerechnet. Die 71 Jahre alte Frau Senne begann sofort zu weinen.
"Karl, du hast sicher schon davon gehört, dass sie unseren Heinrich und unsere Polin Marianna verhaftet haben. Wir wissen nicht einmal, wo sie jetzt sind. Kannst du uns nicht helfen, Karl? Du bist doch in der Partei und hast mehrere Ämter."
Karl Brammer blickte Sennenmutter, so wurde sie allgemein genannt, kurz an und dann zu Boden. Er fühlte sich elend und hilflos.
"Karl, du kennst unseren Heinrich doch gut, obwohl er jünger ist als du. Er ist ein treuer und fleißiger Junge. Er hat noch nie etwas mit der Polizei zu tun gehabt. Das weißt du doch. An wen sollen wir uns sonst wenden?" flehte der 73 Jahre alte Ludwig Senne den Bauern an.
Karl Brammer versuchte den bittenden Blicken der Eheleute Senne auszuweichen und schaute deshalb immer wieder auf den Boden.
"Kommt erst einmal mit in die Küche," forderte er nach kurzem Schweigen die beiden Alten auf.
Die drei Personen verließen die kleine Scheune. Die Eheleute Senne schoben ihre Fahrräder bis zum Dielentor, lehnten sie gleich daneben gegen die Hauswand und folgten sodann Karl Brammer schweigend in die Küche. Sennenmutter schluchzte auf dem Weg dorthin.
"Verdammt noch mal," dachte der Bauer, als er durch die Diele schritt, "ständig Probleme, mit denen ich mich herumschlagen muss, ständig Probleme, die nicht meine sind."
Aber er hatte auch Verständnis für die Not der Eheleute, mit deren Erscheinen er gerechnet hatte. Deshalb hatte er während der vergangenen zwei Tage schon einige Male darüber nachgedacht, wie er ihnen helfen konnte. Zu einem Ergebnis war er jedoch nicht gekommen.
Als die drei Personen in der Küche waren, in der sich sonst niemand befand, bat Karl Brammer die Eheleute Senne, am Küchentisch Platz zu nehmen. Dann versuchte er ihnen klar zu machen, dass er im Grunde wenig ausrichten könne. An die Polizei in Grafenhagen brauche er sich erst gar nicht zu wenden, da die mit Sicherheit nicht wüsste, wohin Heinrich gebracht worden sei. Jener sei von der Gestapo, der geheimen Staatspolizei, verhaftet worden, und diese sei eine eigenständige Polizei, die politische Straftaten verfolge. Auch seine Parteigenossen hätten keinen Einfluss auf diesen Polizeiapparat. Karl Brammer, der die Polin bewusst nicht erwähnt hatte, sah die Eheleute Senne hilflos an und schwieg eine Weile. Sennenmutter weinte, und ihr Mann blickte verzweifelt auf den Küchentisch.
"Ich möchte euch gern helfen," versicherte er, "das könnt ihr mir glauben. Aber ich weiß nicht, wie ich das tun kann. Nach Hannover zur Gestapozentrale möchte ich nicht fahren. Ich wüsste nicht einmal, an wen ich mich dort wenden könnte. Ich kenne da niemand. Die würden mich wahrscheinlich von einem zum anderen schicken."
"Und wenn du an sie schreibst?" fragte Sennenmutter mit ein wenig Hoffnung in ihrer Stimme. "Du könntest denen doch unsere Lage schildern. Vielleicht würden sie auf dich hören. Du kannst das besser als wir, Karl. Außerdem sind wir nicht einmal in der Partei. Wer hört schon auf uns?"
"Wir wissen, dass sich unser Heinrich nicht mit der Polin einlassen durfte," unterstützte Ludwig Senne seine Frau, "aber man sollte doch bedenken, dass er im besten Mannesalter und seit drei Jahren Witwer ist. Unsere Marianna war so fleißig , eine treue Seele und hat sich wie eine Mutter um Heinrichs Sohn gekümmert. Der ist doch erst fünf Jahre alt. Vielleicht würde ein Brief helfen. Vielleicht."
Karl Brammer schwieg zunächst, blickte auf den Küchentisch und überlegte. Dann fasste er den Entschluss, den Eheleuten Senne mit einem Brief an die Gestapo beizustehen, selbst auf die Gefahr hin, dass auch er Schwierigkeiten mit dieser Polizei bekommen würde. Er wusste, dass mit der Gestapo nicht zu spassen war. Wer einmal in ihre Fänge geriet, konnte sich daraus in der Regel nicht wieder völlig befreien. Trotzdem wollte er es versuchen. Er fühlte sich seinem Berufskollegen Heinrich Senne und dessen Eltern gegenüber dazu verpflichtet. In dieser Situation Hilfe zu verweigern, hätte er als schäbig empfunden. Ihm war aber auch klar, dass er nicht den Eindruck erwecken durfte, auch der Polin helfen zu wollen. Ein solcher Verdacht hätte für ihn selbst gefährlich werden können. Heinrich Senne war in seinen Augen kein Verbrecher. Er hatte nur etwas getan, was aus politischen Gründen verboten war.
"Gut, ich will es versuchen," versprach Karl Brammer, "ich schreibe den Brief heute noch fertig. Danach komme ich zu euch, ihr könnt ihn dann lesen, und anschließend bringe ich ihn zur Post nach Grafenhagen. Heute noch."
"Danke, Karl," schluchzte Sennenmutter erleichtert, "wie können wir das nur wieder gut machen?'
Auch Ludwig Senne bedankte sich.
Karl Brammer erhob sich mit der Erklärung vom Stuhl, er wolle sofort anfangen zu schreiben. Auch die Eheleute Senne standen auf und verließen die Küche. Karl Brammer begleitete sie noch bis zu ihren Fahrrädern. Dann rief er seine Tochter, die in der Waschküche beschäftigt war, und bat sie, in die Küche zu kommen. Er hatte zwar wenig Hoffnung, dass ein Brief von ihm Sennen Heinrich helfen würde; aber er wollte es wenigstens versuchen. Mit seiner Tochter wollte er besprechen, wie er den Brief am besten formulieren sollte. Er traute ihr in dieser Beziehung mehr zu als sich selbst. Außerdem sollte sie den Brief erforderlichenfalls verbessern, wenn er Schreibfehler enthielt. Reden zu halten und formelle Briefe zu schreiben, waren nicht seine Sache. Das war ihm bewusst.
Als Anna in der Küche erschien, berichtete er ihr vom Besuch der Eheleute Senne und von ihrem Anliegen. Anna, die schon zwei Tage zuvor von Fritz Tegtmeier von der Verhaftung des Heinrich Senne und der Polin erfahren hatte, riet ihrem Vater, in dem Brief zunächst darzulegen, wer er sei, insbesondere, dass er bereits seit 1934 der Partei und der SA angehöre, dass er Bürgermeister, Ortsgruppenleiter und Ortsbauernführer sei und dass sein Schwiegersohn Soldat im Range eines Rittmeisters sei. Erst danach solle er auf die Verhaftung von Heinrich Senne kommen und auf den Grund seiner Festnahme. Er solle dessen Verhalten als verabscheuungswürdig bezeichnen, weil ein Geschlechtsverkehr zwischen einem deutschen Volksgenossen und einer polnischen Fremdarbeiterin den rassischen Bestand des deutschen Volkes gefährde. Er solle das so krass schreiben, um damit keinerlei Zweifel an seiner eigenen Linientreue aufkommen zu lassen, auch wenn er das tatsächlich nicht so eng sehe. Sie halte es für angebracht, dass er sich zunächst als strammen Nationalsozialisten darstelle. Erst danach solle er trotz des Fehlverhaltens des Heinrich Senne um eine milde Beurteilung bitten, weil jener einen Hof zu bewirtschaften habe, seine Eltern schon alt seien, weil nur ein schon älterer Knecht als Hilfe zur Verfügung stehe und weil in etwa vier Monaten die Ernte beginne. Dann solle ihr Vater darlegen, dass Heinrich Senne seit drei Jahren Witwer und noch relativ jung sei und einen fünf Jahre alten Sohn habe, um den sich die Polin sehr gekümmert habe. Wahrscheinlich hätten diese Umstände zu seinem Fehltritt geführt. Sodann solle er vorsichtig formulieren, dass jener die volkspolitische Gefahr seines Verhaltens wohl nicht erkannt oder falsch eingeschätzt habe, was seiner Meinung nach zu einer milden Beurteilung des Fehlverhaltens seines Kollegen führen könne. Schließlich riet Anna ihrem Vater, in dem Brief an die Gestapo darauf hinzuweisen, dass Heinrich Senne ein fleißiger, treuer Deutscher sei, der bisher nie etwas mit der Polizei zu tun gehabt habe, dass er zwar nicht in der Partei sei, dass er aber fest auf dem Boden der nationalsozialistischen Idee stehe. Das habe er auf Grund zahlreicher Gespräche mit ihm festgestellt. Wenn solche Gespräche tatsächlich auch nicht stattgefunden hätten, so empfahl Anna ihrem Vater, das trotzdem zu schreiben, da das Heinrich Senne nur dienlich sein könne.
Karl Brammer leuchteten die Anregungen seiner Tochter ein. Er staunte über ihre Überlegungen und war ein bisschen stolz auf sie. Allein würde er den Brief im gedanklichen Entwurf so nicht hinbekommen haben.
Beide formulierten nun den Brief, den Karl Brammer mit der Hand auf Papier mit Linien schrieb.
Als der Brief fertig war, hatte der Bauer das Gefühl, Heinrich Senne und seinen Eltern damit helfen zu können. Er holte sein Fahrrad aus der kleinen Scheune, fuhr zu den Eheleuten Senne und gab ihnen den Brief zum Lesen. Dabei erläuterte er ihnen, warum er einzelne Formulierungen, obwohl sie gegen Heinrich sprachen, im Interesse ihres Sohnes für erforderlich hielt. Der Brief würde Heinrich nach Auffassung des Bauern nicht helfen, wenn man sein Verhältnis mit der Polin verharmlosen oder gar den rassistischen Gedanken des Verbots eines Geschlechtsverkehrs zwischen einem Deutschen und einer polnischen Fremdarbeiterin in Zweifel ziehen würde. Die Eheleute Senne sahen das ein und waren mit dem Inhalt des Briefes einverstanden. Sie bedankten sich bei Karl Brammer, der gleich danach zur Post in Grafenhagen fuhr, wo er eine Briefmarke kaufte, sie auf den Briefumschlag klebte und den Brief sodann in den Briefkasten am Postgebäude steckte. Anschließend fuhr er nach Hause, wo er rechtzeitig zum Abendessen eintraf.
Ob der Brief, auf den die Gestapo nicht reagierte, Heinrich Senne tatsächlich geholfen hatte, erfuhr Karl Brammer in den folgenden Jahren nicht. Jedenfalls wurde Heinrich etwa vier Monate nach dem Absenden des Briefes aus der Haft entlassen. Danach war er auffällig verschlossen. Über die Zeit seiner Abwesenheit, wo er gewesen war, was man mit ihm gemacht hatte, sprach er gegenüber fremden Menschen mit keinem Wort, auch nicht gegenüber Freunden und Kollegen. Wahrscheinlich war ihm von der Gestapo unter Androhung einer erneuten Verhaftung verboten worden, über die Zeit seiner Inhaftierung zu reden. Erst nach dem Krieg erfuhr Karl Brammer, dass Heinrich Senne in einem Konzentrationslager gewesen und dort in übler Weise gepeinigt worden war. Von der Polin Marianna hörte man nie wieder etwas. Ihr Schicksal blieb im Dunkeln.
Karl Brammer setzte sich schweigend und in Gedanken versunken an den bereits gedeckten Tisch in der Küche. Ihn plagten plötzlich Zweifel, ob er mit dem Brief an die Gestapo richtig gehandelt hatte. Bereits auf dem Weg von der Post in Grafenhagen nach Hause waren ihm erste Bedenken gekommen. Würde die Gestapo auf seinen Brief antworten, ihn vielleicht sogar aufsuchen? Fast bereute er das Schreiben und Absenden des Briefes. Am Tisch erzählte er von alledem jedoch nichts. Er ging davon aus, dass seine Frau inzwischen von seiner Tochter informiert worden war. Diese Annahme traf zu. Auch seine Frau und Anna erwähnten den Brief während des Essens nicht.
Als Karl Brammer bemerkte, dass seine Mutter und seine Frau für die beiden Gefangenen, die auf dem Sofa vor dem runden Tisch saßen, Butterbrote schmierten und diese auf zwei Teller legten, nörgelte er missmutig, so gut möchte er es auch mal haben. Die beiden brauchten die Brote nur noch in den Mund zu schieben, zu kauen und sie hinunter zu schlucken. Die feinen Herren lebten wie Gott in Frankreich.
"Wie soll ich es denn machen, Karl?" reagierte seine Frau darauf gelassen. "Ich möchte doch den runden Tisch nicht auch noch decken. Was wäre das für eine Mehrarbeit."
Seine Mutter bemerkte dazu: "Ich möchte auch nicht, dass die beiden an unserem Tisch erst nach uns essen, also wenn wir fertig sind und die Küche verlassen haben, nur damit sie sich ihre Butterbrote selber schmieren müssen. Dann würde das Abendessen fast eine Stunde länger dauern, und wir Frauen müssten mit dem Abräumen warten, bis die beiden gegessen hätten. Für einen solchen Umstand haben wir keine Zeit, Karl."
Karl Brammer schwieg darauf. Fritz Tegtmeier hatte grinsend zugehört. Dann sagte er: "Wir könn könn könnten es ja auch so ma ma machen, Karl, dass wir bei bei beide uns an den ru ru runden Tisch se se setzen und die ge ge geschmie geschmierten Brote es es essen. Die Ge Ge Gefangenen könn könn könnten un un unsere Plä Plä Plätze ein ein einnehmen und ihre Bro Bro Brote selbst schmieren. Dann hä hä hätten wir die Be Be Bequämlich lich lichkeit. Was hä hä hälst du da da davon?"
Karl Brammer blickte verärgert zu seinem Knecht hinüber und knurrte wie zu sich selbst, jener könne sich seinen Vorschlag an den Hut stecken, worauf Fritz Tegtmeier laut lachte, was wieder mal wie das Meckern einer Ziege klang.
Anna nahm die beiden Teller mit den Broten und brachte sie den Gefangenen. Dabei bemerkte sie, dass der Franzose schmunzelte und sie anschaute. Er hatte das kurze Gespräch zwischen Fritz Brammer, seiner Frau, seiner Mutter und Fritz Tegtmeier mitbekommen. Anna schmunzelte ebenfalls, als sie die Teller auf den runden Tisch setzte, und blickte dabei kurz den Franzosen an. Der Pole hatte das Gespräch anscheinend nicht verstanden. Er nahm sich gleich ein Brot und begann zu essen.
Alle schwiegen anschließend
"Möchtet ihr noch etwas?" fragte Lina Brammer nach einiger Zeit die Gefangenen. Sie hatte bemerkt, dass beide die Brote inzwischen aufgegessen hatten.
"Nein, danke, Frau Brammer," antwortete der Franzose, "ich bin satt."
Als der Pole jedoch mit dem Kopf nickte, schmierte Lina Brammer ihm noch eine Scheibe und brachte sie selbst an den runden Tisch.
Drei Tage später. Vormittags. Fritz Tegtmeier erteilte Baptiste den Auftrag, die Pferdeboxen auszumisten. Er selbst wollte mit Adam Bujak in der kleinen Scheune Holz sägen. Baptiste suchte die Stallgasse auf und holte aus dem gleich rechts hinter der Tür befindlichen Raum, der etwa die Größe einer Pferdebox hatte, die hier abgestellte Schiebkarre, eine an der Wand hängende Forke und eine Plattschaufel sowie einen Stallhalfter. Dieser Raum war zur Stallgasse nicht abgegrenzt. In ihm befanden sich die Geschirre für die Pferde, zwei Sättel und allerlei Gerätschaften, die zum Tränken, Füttern und Putzen der Pferde sowie zum Ausmisten der Boxen und zum Fegen der Stallgasse benötigt wurden. Gegenüber war ein weiterer Raum, der etwa gleich groß und ebenfalls zur Stallgasse offen war. In diesem Raum waren Stroh und Heu für die Pferde gelagert und waren mehrere Säcke mit Hafer abgestellt.
Baptiste legte die Forke und die Schaufel auf die Schiebkarre und schob diese bis etwa vor die erste rechts befindliche Box. Zu dieser Zeit wollte Anna von der Küche aus über die Diele in den Stall gehen. Als sie auf der Diele war, sah sie, dass die von ihr aus gesehen links befindliche Tür zur Stallgasse offen stand. Sie blieb vor dieser Tür stehen, blickte auf die etwa drei Meter breite betonierte Stallgasse und sah Baptiste, der vor der ersten Box stand, einen Stallhalfter mit einem Strick daran in einer Hand hielt und mit leiser Stimme dem darin stehenden Pferd auf Französisch etwas zurief. Das Pferd, das mit seinem Hinterteil vor der eisernen, gitterartigen Boxentür stand und seinen Kopf durch das offene Stallfenster zum Hof hin gestreckt hatte, reagierte auf die Zurufe des Franzosen jedoch nicht. Anna hörte, dass jener dem Pferd Moritz dann auch in deutscher Sprache etwas zurief: "Komm, Moritz, komm, dreh dich um."
Aber das schwere Zugpferd reagierte auf die Zurufe des Franzosen wiederum nicht. Es blieb weiterhin mit seinem Hinterteil vor der Boxentür stehen und hielt seinen Kopf durch das Fenster nach draußen, Anna, die bis jetzt noch nicht von Baptiste bemerkt worden war, beobachtete ihn einen Augenblick. Dann trat sie auf die Stallgasse und ging langsam auf Baptiste zu, der nun auf sie aufmerksam wurde und sie etwas hilflos ansah.
"Kann ich ihnen helfen?" fragte Anna.
"Ich weiß nicht," antwortete Baptiste, verlegen lächelnd, mit seinem französischen Akzent. "Ich habe von Fritz den Auftrag bekommen, das Pferd aus der Box zu holen und es draußen unterhalb des Boxenfensters anzubinden, da, wo der eiserne Ring in der Wand ist. Dann soll ich die Box ausmisten."
"Und warum holen sie das Pferd nicht aus der Box?"
Anna stellte diese Frage, obwohl sie ahnte, dass der Franzose Angst hatte, die Box zu betreten.
"Ich traue mich nicht hinein," versuchte der Franzose, etwas hilflos wirkend, zu erklären, "das Pferd steht so komisch. Es will sich nicht zu mir umdrehen."
"Aber das muss es doch gar nicht. Sie können auch so in die Box gehen. Haben sie denn Angst vor dem Pferd?"
Anna blickte den Franzosen leicht spöttisch lächelnd an und wartete auf seine Antwort. Baptiste zögerte etwas und sah verlegen in die Box und schaute dann wieder Anna an.
"Ein bisschen schon," gab er zu, "das Pferd ist so stark, und ich weiß nicht, ob es nach mir tritt, wenn ich in die Box gehe. Ich hätte es lieber, wenn es seinen Kopf zu mir halten würde. Aber das will es wohl nicht, obwohl ich es gelockt habe."
Anna war irgendwie fasziniert von der ruhigen, jedes Wort artikulierenden Stimme des Gefangenen, besonders von seinem Akzent, der etwas Singendes hatte und den sie als angenehm fremd empfand.
"Sie brauchen keine Angst zu haben, Baptiste. Das Pferd ist brav, es tritt nicht aus," versuchte Anna dem Franzosen Mut zu machen. "Soll ich ihnen helfen?"
Anna wurde für einen Augenblick bewusst, dass sie den Gefangenen zum ersten Mal, an sich ungewollt, bei seinem Vornamen genannt hatte. Sie wunderte sich auch für einen Moment, dass sie ihm spontan ihre Hilfe angeboten hatte und dass sie keine Eile empfand, in den Stall zu gehen, wo sie das Futter für die Schweine vorbereiten wollte. Aber das waren nur Gedankenblitze, die sofort wieder weg waren.
"Das wäre sehr nett," antwortete Baptiste beruhigt, "ich glaube, allein hätte ich nicht den Mut, in die Box zu gehen. Vielen Dank, dass sie mir helfen wollen."
Anna nahm dem Franzosen das Stallhalfter mit dem Strick aus der Hand, schob die oben auf einer Schiene geführte Boxentür nach links vor den Trog und betrat dann unbekümmert die Box. Das Pferd Moritz reagierte darauf in der Weise, dass es seinen Kopf durch das offene Fenster in die Box zurückzog und Anna anblickte.
"Kommen sie herein," ermunterte sie den Franzosen, ebenfalls die Box zu betreten. Jener zögerte einen Moment, betrat dann aber etwas ängstlich die Box und ging, fast gegen die rechte hölzerne Boxenwand gedrückt, in Richtung Fenster. Anna, die in Höhe des Pferdekopfes stand, streichelte den Kopf und den Hals des Tieres.
"Wollen sie das nicht auch tun?" fragte sie den Franzosen, der etwas unsicher neben ihr stand. "So gewinnen sie Vertrauen zum Pferd, und es lernt sie kennen. Fassen sie es doch mal an."
Baptiste streichelte nun ebenfalls den Hals des Pferdes, und Anna legte das Stallhalfter über den Kopf des Tieres, das keinerlei Unruhe zeigte und alle Handbewegungen der beiden Menschen über sich ergehen ließ.
"Sehen sie, das Pferd tut ihnen nichts. Wenn sie es ansprechen, damit es weiß, dass sie kommen, und dann ohne Hektik die Box betreten, wird es ganz ruhig sein und nichts tun. Das wird auch bei unseren anderen Pferden so sein," belehrte Anna den Franzosen.
Dann zog sie den Kopf des Tieres in Richtung Boxentür und führte es am Strick an Baptiste vorbei, der immer noch etwas ängstlich dicht an der Boxenwand stand, auf die Stallgasse.
"Möchten sie das Pferd jetzt nach draußen führen und es dort anbinden?" fragte sie lächelnd. Und als der Franzose etwas zögerte, ermunterte sie ihn: "Kommen sie. Versuchen sie es doch mal. Wenn sie es einmal getan haben, werden sie sehen, dass es ganz einfach ist."
Baptiste ergriff den Strick und führte das Pferd an Anna vorbei auf die Diele und dann auf den Hof zum Boxenfenster, wo er es am unterhalb des Fensters befindlichen eisernen Ring anband. Auf dem Weg dorthin hielt er jedoch respektvoll Abstand zum Pferd, was Anna, die ihm folgte, leicht belustigt beobachtete.
Als Baptiste das Pferd angebunden hatte, blickte er, ein bisschen stolz auf sich selbst, Anne an, die ihn lobte: "Für das erste Mal war das doch schon ganz gut. War es denn nun so schlimm?"
"Nein," antwortete der Franzose, "aber wenn sie nicht gekommen wären, ich glaube nicht, dass ich es allein geschafft hätte. Danke."
Und nach einem Augenblick des Schweigens, keiner wusste so recht, was er jetzt tun sollte, fügte er hinzu: "Ich werde nun den Mist aus dem Stall entfernen und frisches Stroh in die Box tun."
Dann ging er langsam durch das Tor auf die Diele und von dort auf die Stallgasse. Anna folgte ihm. Sie tat das, obwohl es von ihrer Seite nichts mehr für Baptiste zu tun gab. Aber irgendwie spürte sie ein Bedürfnis, das Gespräch mit Baptiste weiterzuführen. Jener nahm die Forke aus der Schiebkarre und blickte Anna an, die dieses Mal seinem Blick nicht auswich.
"Sagen sie, Baptiste, haben sie wirklich bei ihren Großeltern in der Landwirtschaft mitgeholfen, damals, als sie noch Kind waren, wenn sie bei ihnen zu Besuch waren?" setzte Anna das Gespräch fort.
"Wenn ich ehrlich sein soll, und das möchte ich ihnen gegenüber sein, habe ich meinen Großeltern so gut wie nicht geholfen. Ich habe damals mit Nachbarkindern gespielt und bin nur hin und wieder mit meinen Großeltern aufs Feld gegangen. Aber dort mitgeholfen? Nein, so gut wie gar nicht."
"Wie kommt es denn aber, dass sie uns als Gefangener zugeteilt wurden? Mein Vater hat doch ausdrücklich Gefangene beantragt, die sich in der Landwirtschaft auskennen."
"Wissen sie, ich habe in der Gefangenschaft hungern müssen," entgegnete Baptiste lächelnd,“ ich war zuerst im Ruhrgebiet in einer Fabrik. Dort gab es wenig zu essen. Und als eines Tages gefragt wurde, wer sich in der Landwirtschaft auskennt, habe ich mich gemeldet, weil ich hoffte, einem Bauern zugewiesen zu werden und dort mehr zu essen zu bekommen. Und das ist ja auch tatsächlich so. Ihre Mutter sorgt sehr für Adam und für mich, sie aber auch. Danke."
Anna blickte einen Moment verlegen zu Boden. Dann fragte sie: "Sie sind doch aber nicht gleich zu uns gekommen, wo waren sie denn, bevor sie uns zugewiesen wurden?"
"Ich hatte Glück und wurde für die Arbeit in der Landwirtschaft bestimmt. Nach einigen Tagen wurde ich zusammen mit anderen französischen Gefangenen mit dem Zug nach Grafenhagen gebracht. Hier waren wir zunächst mehrere Tage im Saal der Gastwirtschaft Dammann untergebracht, bis ich zu ihnen kam - zu meinem Glück."
Baptiste lächelte Anna an. "Ja, zu meinem Glück," wiederholte er.
"Sie sagten vorgestern, sie seien Lehrer an dem Gymnasium in.....wie heißt die Stadt?"
"Luneville," dann fügte er lächelnd hinzu: "Sie liegt in Frankreich!'
Anna lachte kurz auf, und Baptiste ergänzte: "Eben haben sie so gelacht wie am Montag auf der Diele. Aber ich wollte ihren Vater nicht......wie sagt man in Deutschland - nicht auf den Arm nehmen oder ihn lächerlich machen. Meine Bemerkung war ganz spontan. Manchmal mache ich solche dummen Äußerungen, die andere als provozierend empfinden können. Meine Mutter hat mich schon oft darauf hingewiesen und mich gebeten, das zu unterlassen. Aber ich meinte es gegenüber ihrem Vater nicht böse. Glauben sie mir."
"Ja, ja ich glaube ihnen. Und in welchen Fächern haben sie unterrichtet?"
"In Französisch, Geschichte und Geografie , manchmal auch in Musik, wenn mein Kollege, der Musiklehrer, verhindert war."
"Sie hoffen sicher, dass sie bald wieder unterrichten können."
"Ja, sehr, ich bin gern Lehrer. Aber der Krieg, dieser unglückselige Krieg."
"Ich wünsche es ihnen, Baptiste. Der Krieg kann ja nicht ewig dauern. Eines Tages werden sie nach Frankreich zurückkehren."“
"Ich hoffe es sehr. Wissen sie, ich liebe Frankreich. Es ist ein schönes Land. Waren sie schon mal dort?"
"Oh nein. Ich bin noch nicht viel herumgekommen. Ich war einige Male in Hannover, aber sonst kenne ich nur Grafenhagen und einige Dörfer hier in der Gegend. Na ja, und dann kam der Krieg, und auf dem Hof gab es immer viel Arbeit. Frankreich ist auch sehr weit weg. Wie sollte ich dahin kommen? Und dann die Sprache. Ich spreche kein Französisch."
Einen Augenblick schwiegen beide und standen sich etwas verlegen gegenüber. Anna schwankte zwischen Bleiben und Weggehen. An sich war das Gespräch beendet; aber sie blieb, und der Franzose, der weiterhin die Forke in der Hand hielt, traf keine Anstalten, mit dem Ausmisten zu beginnen. Beide hatten das unerklärliche Bedürfnis, das Gespräch fortzusetzen.
"Jetzt habe ich ihnen einiges von mir erzählt," unterbrach Baptiste das Schweigen, " von ihnen weiß ich jedoch nur, dass ihr Mann bei der Kavallerie ist. Das habe ich von Fritz gehört."
"Ja, er ist in Ostpreußen stationiert," antwortete Anna, die froh war, dass der Franzose das Gespräch wieder in Gang gebracht hatte.
"Ich wünsche ihnen, dass er gesund aus dem Krieg zurückkehrt," erklärte Baptiste und fügte noch lächelnd hinzu: "Ach ja, Fritz hat auch noch erzählt, dass sie 24 Jahre alt sind."
"Haben sie danach gefragt? " wollte Anna wissen.
"Nein, er hat das mal von sich aus erwähnt. Er erzählt gern und ist lustig. Ich glaube, er ist ein lebenskluger Mann, und er ist nett. Adam und ich haben schon mehrere Male über ihn gelacht, aber nicht, weil er stottert, sondern weil er Spaß gemacht hat. Er ist hier wohl eine Art Hofnarr."
Beide lachten.
"Das kann man wohl so sagen. Ja, er ist aber auch nett und manchmal sehr witzig," bestätigte Anna, die nach einem weiteren Moment des Schweigens das Gefühl hatte, nun gehen zu sollen. Aber der Franzose fragte noch: "Welche Schule haben sie denn besucht?"
"Die Dorfschule hier in Wöhren," antwortete Anna. "Danach war ich ein Jahr lang bei einem Bauern im Haushalt und habe dann noch ein Jahr die Hauswirtschaftsschule in Grafenhagen besucht."
"Dann sind sie ja eine perfekte Hausfrau," meinte Baptiste lächelnd.
"Nein, nein," entgegnete Anna bescheiden, und beide schwiegen wieder.
Plötzlich entdeckte sie am Hals des Franzosen, der die beiden oberen Knöpfe seines Hemdes geöffnet hatte, eine dünne Kette mit einem kleinen Kreuz daran. Anna hatte noch nie eine Kette am Hals eines Mannes gesehen.
Als Baptiste merkte, dass Anna erstaunt auf seine Halskette blickte, erklärte er, das sei ein Amulett, das er von seiner Mutter bekommen habe, als er habe Soldat werden müssen. Es solle ihn beschützen. Das Kreuz sei aus Elfenbein. Und bis jetzt habe es ja auch gewirkt. Er hoffe, dass es ihn auch weiterhin vor Unheil bewahren werde.
"Das wünsche ich ihnen," erwiderte Anna darauf nachdenklich. "Weiß ihre Mutter, wo sie jetzt sind?"
Als Baptiste die Frage verneinte, riet Anna ihm, ihr zu schreiben.
"Das würde ich gerne tun; aber ich habe kein Papier zum Schreiben und keinen Bleistift. Auch Adam kann deshalb nicht nach Hause schreiben."
"Ich besorge ihnen einen Füllfederhalter, Papier und einen Briefumschlag," versprach Anna, "auch für Adam. Sie bekommen die Sachen beim Mittagessen. Wenn sie und Adam ihren Brief fertig haben, geben sie ihn mir. Ich klebe dann eine Briefmarke auf den Umschlag und werfe den Brief in Grafenhagen in den Briefkasten."
"Danke. Ich bedanke mich auch für Adam."
Danach schwiegen beide. Anna lächelte den Franzosen an und meinte dann, jetzt müsse sie aber in den Stall und das Futter für die Schweine vorbereiten.
Als sie sich gerade umgedreht hatte, um die Stallgasse zu verlassen, sagte der Franzose: "Ich habe etwas vergessen. Ich weiß auch noch, dass sie Anna mit Vornamen heißen. Das ist ein sehr schöner Name, finde ich."
Anna, die verlegen errötete, drehte sich wieder zu Baptiste um und meinte: "Finden sie?"
"Ja, ja," antwortete jener und fügte dann hinzu: "Ich möchte sie gern bei ihrem Vornamen nennen. Darf ich das?"
Anna zog lächelnd ihre Schultern hoch und antwortete: "Wenn sie möchten."
"Merci, Anna. Merci heißt danke," strahlte der Franzose Anna an. "Merci."
Dann verließ Anna die Stallgasse und suchte ihr Wohnzimmer auf. Als sie dort war, erschrak sie, weil sie an sich in den Stall wollte und sie sich nicht erklären konnte, warum sie in ihr Wohnzimmer gegangen war. Sie dachte aber nicht weiter darüber nach. Sie spürte jedoch eine Spannung in sich und eine innere Unsicherheit, die sie nicht deuten konnte. Hinzu kam, dass ihr immer wieder der Akzent von Baptiste in den Ohren klang und dass sie wiederholt sein Bild vor Augen hatte. Sein Akzent hatte sie bereits am Montagvormittag auf der Diele fasziniert. Sie hatte so etwas noch nie erlebt.
"Was ist bloß mit mir los?" fragte sie sich. "Warum bin ich auf Grund des harmlosen Gesprächs mit Baptiste so irritiert?"
Aber sie fand auf diese Fragen keine Antwort. Sie suchte ihr Schlafzimmer auf, das durch eine Tür mit dem Wohnzimmer verbunden war, und blickte aus dem Fenster an der Südseite, ohne jedoch die rechts verlaufende Landstraße bewusst wahrzunehmen, auch nicht den vor dem Fenster befindlichen kleinen Garten, der im Frühjahr, Sommer und im Herbst hauptsächlich von ihrer Mutter und ihrer Großmutter bearbeitet wurde. Im Sommer war er ein Idyll mit vielen Blumen, einigen Reihen Erdbeeren, mehreren Stachelbeer- und Johannisbeerbüschen und einigen Reihen Bohnen. Am Rande dieses Gartens, und zwar zur Weide hin, stand ein großer Kirschbaum, der jetzt noch ohne Blätter war, der jedoch im Sommer einen wunderbaren schattigen Platz bot, der von ihrer Familie an sonnigen Tagen, besonders an Wochenenden und nach Feierabend, häufig genutzt wurde. Bald würde ihr Vater wieder den Gartentisch und die dazu gehörenden Stühle aus der kleinen Scheune holen und sie unter dem Kirschbaum aufstellen. Aber Anna dachte in diesem Augenblick nicht an den Sommer. Sie versuchte ihre für sie eigenartigen Gefühle zu begreifen, für die sie jedoch keine Erklärung hatte. Warum ging ihr der Akzent von Baptiste nicht aus dem Kopf? Und das Gespräch mit ihm? Sie konnte sich nicht erinnern, jemals in einer solch ruhigen, wohltuenden Art mit jemand eine Unterhaltung gehabt zu haben.
Sie ging wieder zurück ins Wohnzimmer, holte aus einem Schrank einen Schreibblock, einen Füllfederhalter und zwei Briefumschläge und legte die Sachen auf den Tisch, um sie am Mittag nicht zu vergessen. Einen Moment betrachtete sie nachdenklich ihr an der Wand hängendes Hochzeitsfoto und das Foto ihres Mannes, das ihn in Uniform zeigte. Dann ging sie in den Stall. Aber auch hier kam ihr wiederholt der angenehme Akzent des Franzosen in Erinnerung. Sie spürte, dass sich etwas in ihrem Empfinden zu verändern begann, dass sie im Begriffe war, ihren inneren Frieden zu verlieren. Nur erklären konnte sie diese Entwicklung noch nicht. Aber sie hatte Angst davor.
Baptiste wirkte nachdenklich, als er die Pferdeboxen ausmistete. Er sah wiederholt Anna vor sich. Er spürte, dass ihn das kurze Gespräch mit ihr irgendwie innerlich bewegte. In den Tagen zuvor hatte er in Anna eine neutrale Person gesehen, die verheiratete Tochter seines Bauern, die wie alle auf dem Hof ihre Arbeit tat und zu der von seiner Seite keine innere Bindung bestand. Baptiste fühlte, dass sich diese distanzierte Beziehung seit dem Gespräch jedoch zu verändern begann.
Er hatte vor seiner Soldatenzeit zwar zwei Freundinnen gehabt, zu denen es aber keine wirklich intimen Beziehungen gegeben hatte, vom Austausch von Zärtlichkeiten mal abgesehen. Auch hatte er in beiden Fällen bewusst keinen Kontakt zu seiner Mutter hergestellt. Es waren lockere Freundschaften gewesen, die ohne schmerzhafte Empfindungen jederzeit hatten gelöst werden können. So war es ja auch gekommen. Jetzt aber spürte er, dass die Gefahr bestand, dass sich eine innere Bindung zu Anna anders entwickeln konnte als zu seinen früheren Freundinnen. Ihm war jedoch auch bewusst, dass eine solche Entwicklung nicht sein durfte, weil er als Kriegsgefangener keinen näheren Kontakt zu Anna haben durfte und weil sie verheiratet war. Vom Verstand her war ihm das alles klar. Aber er war sich nicht sicher, ob er seine aufkommenden Gefühle für sie würde kontrollieren können. Er wusste jedoch schon jetzt, dass er Anna mochte, sehr sogar.
Nach dem Abendessen an diesem Tag suchte Anna alsbald ihr Wohnzimmer auf. Sie hatte das Bedürfnis, allein zu sein. Sie holte sich ein Buch aus dem Wohnzimmerschrank, setzte sich aufs Sofa und begann zu lesen. Schon nach wenigen Minuten legte sie es jedoch wieder zur Seite, weil sie sich nicht konzentrieren konnte. Danach holte sie ein Fotoalbum aus dem Schrank und betrachtete die zahlreichen Aufnahmen, die sie als Kind zeigten, auch ihren verstorbenen Bruder, ihre Eltern und Großeltern, Szenen ihrer Hochzeitsfeier und einige Verwandte. Erinnerungen kamen in ihr auf, und sie spürte, dass diese Beschäftigung mit der Vergangenheit sie ablenkte.
Schon früh ging sie an diesem Abend zu Bett, so gegen neun. Obwohl sie von ihrer Arbeit sehr müde war, konnte sie jedoch zunächst nicht einschlafen, weil ihr viele Gedanken durch den Kopf gingen. Sie dachte an ihren Mann in Ostpreußen, an die Arbeit, die sie während des Tages verrichtet hatte und die sie sich für den nächsten Tag vorgenommen hatte, aber auch an das Gespräch mit Baptiste auf der Stallgasse. Allmählich wurde sie jedoch vom Schlaf übermannt. Aber sie schlief unruhig, weil immer wieder kurze Träume einen Tiefschlaf verhinderten. Zuletzt hatte sie einen Traum, der sie belastete aber gleichzeitig beglückte. Sie sah Baptiste an ihrem Bett stehen, der sich über sie beugte und sie mit ernsten Augen ansah. Anna versuchte wiederholt, sich aufzurichten und Baptiste etwas zu sagen. Aber es gelang ihr nicht. Ihr ganzer Körper erschien so schwer, dass sie ihn nicht anheben konnte. Selbst ihr Kopf blieb trotz großer Anstrengungen im Kissen liegen. Ihre Lippen bewegten sich zwar, aber sie brachte kein Wort heraus. Sie wollte ihre Arme um Baptistes Hals legen, aber sie blieben wie angeklebt liegen, so sehr sie sich auch bemühte, sie zu heben. Über diese Hilflosigkeit geriet sie allmählich derart in Verzweiflung, dass sie plötzlich völlig verschwitzt aufwachte. Sie richtete sich schwer atmend verstört auf, strich benommen ihr langes blondes Haar zurück und sackte gleich danach in sich zusammen.
"Nein," rief sie wie abwehrend mit zitternder Stimme, "das darf nicht sein, Nein, nein, das darf nicht sein."
Dabei erinnerte sie sich aber auch daran, dass sie beim Anblick von Baptiste nicht nur erschrocken gewesen war, sondern auch ein gewisses Glücksgefühl empfunden hatte.
Anna verließ ihr Bett, schob das schwarze Rollo vor dem Fenster zur Weide hin hoch und blickte in die dunkle Nacht. Nichts war zu hören. Sie sah auf ihrem Wecker, der auf dem Nachttisch neben ihrem Bett stand, dass es kurz nach drei Uhr war. Sie öffnete das Fenster und spürte die kühle, fast kalte Luft durch ihr Nachthemd an ihrem Körper. Sie atmete mehrere Male tief durch.
"Mein Gott," dachte sie, "was war das? Warum hatte ich einen solchen Traum?"
Sie hielt dabei ihre linke Hand vor ihren Mund. In diesem Augenblick näherte sich ein Güterzug aus Richtung Hannover auf der gut hundert Meter entfernten Bahntrasse der Strecke Berlin, Hannover, Köln. Das Geräusch der eisernen Räder der Waggons und der Lokomotive auf den Gleisen und der Luftzug, ein Gemisch aus Rauschen und Zischen, schwoll an, war dann eine Weile gleichbleibend, bis der Zug vorbei war, und verebbte danach allmählich. Es war wieder völlig still. Nur schemenhaft sah Anna links die Rückwand der kleinen Scheune und des Stallgebäudes sowie rechts einen Teil der Äste des großen Kirschbaums neben dem Garten.
Nach einigen Minuten schloss sie das Fenster wieder, zog das Rollo herunter, setzte sich auf die Kante ihres Bettes und hielt die Hände vor ihr Gesicht. Wie schon häufig seit der Trennung von ihrem Mann fühlte sie sich in diesem Augenblick unendlich einsam, und sie haderte mit ihrem Schicksal.
"Was ist das für eine Ehe, in der ich höchstens zweimal im Jahr für einige Tage mit meinem Mann zusammen sein darf," fragte sie sich. "Und dann die viele Arbeit, von morgens bis abends, Tag für Tag, kaum Freizeit und Abwechslung, und im Winter die langen, dunklen Abende, die ich nach dem Abendessen allein in meinem Wohnzimmer verbringe."
Ihr war zum Heulen zumute. Minutenlang saß sie auf der Kante ihres Bettes und grübelte. Aber sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, und sie wusste auch nicht, wie sie ihr Leben zum Besseren verändern konnte.
"Du musst jetzt schlafen," dachte sie nach einiger Zeit, "sonst bist du morgen kaum arbeitsfähig."
Sie legte sich ins Bett und schlief nach kurzer Zeit auch wieder ein. Sie fiel nun in einen Tiefschlaf, aus dem sie erst um sechs Uhr gerissen wurde, als ihr Wecker klingelte.
An diesem Tage wirkte Anna etwas verstört. Sie wich Gesprächen aus und versuchte, soweit das möglich war, ihre Arbeiten allein zu verrichten. Baptiste sah sie nur beim Frühstück, beim Mittagessen und beim Abendessen und sonst einige Male aus der Ferne. Obwohl sie merkte, dass er einen Blickkontakt mit ihr suchte, wenn sie ihm das Essen brachte, vermied sie es, ihn anzuschauen. Nur einmal, und zwar nach dem Abendessen, als Baptiste und Adam die Küche verließen, trafen sich ihre Blicke. Auf Anna wirkte Baptiste sehr ernst.
Am späten Vormittag des folgenden Tages, einem Freitag, erschien Walter, ein schmächtiger Mann, etwa 60 Jahre alt, mit seinem Fahrrad und brachte wie schon seit Jahren den “Generalanzeiger“, die Zeitung, die sich selbst als die Welt am Freitag bezeichnete. Keiner vom Hof wusste, wie Walter mit Nachnamen hieß. Er wurde immer nur Walter genannt. Ganz am Anfang hatte er sich zwar mal mit seinem vollen Namen vorgestellt; aber das war schon lange her, und alle hatten in der Zwischenzeit seinen Nachnamen vergessen, weil er nach aller Erinnerung nicht so ganz landläufig war. Aber der Nachname war auch nicht so wichtig. Es genügte, wenn er mit Walter angesprochen werden konnte. Geduzt wurde er sowieso. Er duzte aber auch die Familie Brammer und die Eheleute Tegtmeier.
Kurz vor Weihnachten hatte Walter in den vergangenen Jahren regelmäßig die Zeitungsbezieher in seinem Austragungsbezirk mit seiner Geige besucht und hatte auf den Dielen oder in den Küchen einige Weihnachtslieder gespielt. Er spielte nicht besonders gut, aber man hörte, welches Lied gemeint war. Er hatte dafür jeweils einige Groschen bekommen.
Walter war ein unkomplizierter, fröhlicher Mensch, der immer etwas lauthals die wöchentlich erscheinende Zeitung ankündigte. So war es auch dieses Mal. Er lehnte sein Fahrrad gegen die Hauswand, nahm eine Zeitung aus einem großen Karton, den er auf dem Gepäckträger seines Fahrrades befestigt hatte, und betrat, die Zeitung schwenkend, die Diele.
"Der „Generalanzeiger“ ist da," rief er und wartete, bis jemand erschien. An den anderen Freitagen hatte er die Zeitung nach seinem Ausruf auf einen kleinen Tisch gelegt, der in der Dielenecke links von der Tür stand, die von der Diele zum Wohnbereich des Bauern führte, oder hatte sie einer Person vom Hof gegeben, die er zufällig dort oder in der Diele getroffen hatte. An diesem Freitag wartete er jedoch das Erscheinen eines Hofbewohners ab, weil Claus Neuwinger, der Neffe des Bauern, auf der ersten Seite der Zeitung mit seiner Fliegeruniform abgebildet war und weil er der Familie zum Ritterkreuz ihres Verwandten gratulieren wollte. Auf Seite drei der Zeitung befand sich ein längerer Bericht zum Werdegang des Jagdfliegers.
"Die Welt am Freitag ist da," rief er noch einmal lautstark und schwenkte dabei die Zeitung.
Als erste trat Sophie Brammer aus ihrem Wohn-Schlafzimmer auf die Diele. Danach erschien Lina Brammer aus der Küche, dann Anna Zurheide aus der Waschküche und die Eheleute Tegtmeier aus dem Stall. Karl Brammer kam durch das Tor auf die Diele. Sie alle kamen deshalb, weil sie vermuteten, dass etwas über Claus in der Zeitung stehen würde. Sonst wären sie auf Walters Rufe nicht auf die Diele gekommen. Walter gab die Zeitung dem Bauern, der einen Augenblick das Bild seines Neffen bewunderte.
"Tolle Sache, Karl, nicht wahr," gratulierte Walter dem Bauern, dabei breit lächelnd, "ganz tolle Sache."
"Kommt mit in die Küche," forderte Karl Brammer die Anwesenden auf und suchte danach die Küche auf, wo er die Zeitung auf dem Tisch ausbreitete. Alle folgten ihm und betrachteten über seine Schulter oder von der anderen Seite des Tisches das Bild in der Zeitung.
"Schneidig sieht er aus," meinte Walter, "wer hätte gedacht, dass ihr mal einen Ritterkreuzträger in eurer Familie haben würdet."
"Ja, ja, wer hä hä hätte das ge ge gedacht," stotterte Fritz Tegtmeier und fügte nachdenklich hinzu: "Ho ho hoffentlich über über übersteht er den Krie Krie Krieg ge ge gesund."
Karl Brammer reagierte darauf nicht, sondern schlug die dritte Seite der Zeitung auf. Er hatte jedoch im Augenblick keine Zeit, den Bericht in seiner ganzen Länge in Ruhe zu lesen. Deshalb erklärte er: "Lasst uns erst mal weitermachen. Wir können die Zeitung im Laufe des Tages lesen oder heute Abend . Ich lege sie auf den Küchenschrank. Geht wieder an eure Arbeit."
Alle folgten der Aufforderung des Bauern. Walter verabschiedete sich mit den Worten: "Heute macht mir das Austragen der Zeitung richtig Spaß. Macht es gut. Bis zum nächsten Freitag."
Am Abend dieses Tages waren Karl und Lina Brammer schon bald nach dem Abendessen allein in der Küche. Die Eheleute Tegtmeier hatten ihre Wohnung in der Leibzucht aufgesucht, und Anna hatte sich in ihr Wohnzimmer zurückgezogen. Die Gefangenen saßen bei schwacher Beleuchtung in dem ihnen zugewiesenen Raum in der Leibzucht und langweilten sich wie jeden Abend. Ihnen erschienen die Abende, wenn es dunkel war und sie sich nicht mehr draußen aufhalten durften, unendlich lang. Und dunkel wurde es zu dieser Jahreszeit bereits gegen sieben Uhr abends. Deshalb gingen sie in der Regel schon gegen acht Uhr zu Bett. Was sollten sie auch tun? Zu reden gab es nicht viel, und zu lesen hatten sie nichts. Auf einem Holzstuhl ohne weiche Unterlage zu sitzen, war auf Dauer unbequem. Von Anna hatten sie am Mittwoch Papier und einen Füllfederhalter bekommen, um einen Brief nach Hause schreiben zu können. Die Briefe hatten beide schon am Abend jenes Tages geschrieben, und der Pole Adam hatte sie am nächsten Tage Anna übergeben, die sie noch am selben Tag nach Grafenhagen zur Post gebracht hatte.
Lina Brammer saß am Küchentisch, auf dem sie einen Teil des „Generalanzeigers“ ausgebreitet hatte, und las. Ihr Mann hatte es sich in der Sofaecke neben der Stehlampe bequem gemacht und las zum zweiten Mal voller Stolz den Bericht über seinen Neffen Claus.
Nach einiger Zeit unterbrach Lina Brammer das Schweigen mit den Worten: "Karl, ich lese hier gerade eine kurze Mitteilung über die Verhaftung von Sennen Heinrich und seiner Polin. Heinrich wird sogar mit vollem Namen erwähnt. Er habe sich in ehrverletzender Weise mit einer Polin eingelassen, schreiben sie hier."
Karl Brammer unterbrach sein Lesen und blickte auf
„Auch das noch. Wer hat denn das in die Zeitung gebracht?" fragte er wie zu sich selbst. "Verdammt noch mal, das hätte doch nicht nötig getan."
"Hier steht," fuhr Lina Brammer fort, "der Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei teilt mit, und dann kommt das mit der Verhaftung."
Beide schwiegen und blickten sich betroffen an.
"Wir können nichts machen, Lina," sagte Karl Brammer nachdenklich, "wir können nichts machen. Heinrich muss ausbaden, was er sich eingebrockt hat."
Seine Frau nickte und äußerte wie zu sich selbst: "Traurig ist das alles, sehr traurig, besonders auch für die Eltern."
Dann lasen beide weiter in der Zeitung.
Nach einigen Augenblicken unterbrach Lina Brammer erneut das Schweigen: "Hier lese ich noch etwas Interessantes, Karl."
Ihr Mann blickte wieder auf und fragte: "Was steht denn da?"
"Das Sondergericht Abteilung I für den Oberlandesgerichtsbezirk Celle beim Landgericht in Hannover," las Lina Brammer vor, "hat eine 37 Jahre alte Witwe wegen Vergehens gegen § 4 der Wehrkraftschutzverordnung zu sechs Monaten Gefängnis ohne Bewährung verurteilt."
"Was hat die denn getan?" wollte ihr Mann wissen.
"Sie soll sich mit einem französischen Kriegsgefangenen am Kanal getroffen und ihm Äpfel und Zigaretten geschenkt haben. Auch soll sie ihm einen Liebesbrief geschrieben haben. Was in dem Brief stand, steht hier jedoch nicht. Der Gefangene soll bei einem Bauern beschäftigt gewesen sein, der neben dem Haus der Witwe seinen Hof hat. Die Witwe soll mit dem Franzosen über den Zaun ins Gespräch gekommen sein. So sollen sie sich kennen gelernt haben," gab Lina Brammer an und blickte dabei auf die Zeitung.
Dann schwieg sie einen Moment, las weiter und fuhr danach fort: "Der Landgerichtsdirektor Dr. Stein, der Vorsitzende des Sondergerichts, soll das Verhalten der Witwe als beschämend würdelos bezeichnet haben. Was mit dem Franzosen passiert ist, steht hier nicht."
"Haben die beiden denn Geschlechtsverkehr miteinander gehabt?" erkundigte sich Karl Brammer.
"Darüber wird hier nichts gesagt," gab seine Frau an. "Dann kann man ja wohl davon ausgehen, dass es nicht so war."
"Ja, ja," meinte Karl Brammer, "aber trotzdem, so etwas gehört sich nicht, und außerdem ist es verboten."
"Was steht denn in diesem § 4?" fragte Lina Brammer, "weißt du das?"
"Genau nicht", gab ihr Mann zur Antwort, "aber so viel weiß ich, dass ein näherer Kontakt zwischen Deutschen und Kriegsgefangenen oder Fremdarbeitern verhindern werden soll, also kein freundschaftlicher Kontakt und schon gar kein sexueller zwischen einer deutschen Frau und einem Kriegsgefangenen oder einem Fremdarbeiter, und zwar aus militärischen Sicherheitsgründen. Kriegsgefangene bleiben auch in Gefangenschaft unsere Feinde."
"Kann die Witwe denn gegen das Urteil angehen?" fragte Lina Brammer. "Ich meine, dass sechs Monate Gefängnis ohne Bewährung zu viel sind."
"Nein, gegen die Entscheidung des Sondergerichts kann nichts unternommen werden," belehrte Karl Brammer seine Frau, "und das finde ich auch gut so."
"Ich weiß nicht, Karl," brachte Lina Brammer nachdenklich ihre Zweifel zum Ausdruck, "nur weil sich die Witwe in einen französischen Kriegsgefangenen verliebt hat, ohne dass sexuelle Kontakte bestanden, gleich sechs Monate Gefängnis?"
"Aber das Gesetz ist nun mal so streng," meinte ihr Mann, "wenn es nicht so wäre, würde den Kontakten zwischen Deutschen und Kriegsgefangenen oder Fremdarbeitern Tür und Tor geöffnet."
"Aber Karl, durch Gesetze kann man doch keine Gefühle verhindern. Es kann doch sein, dass sich eine deutsche Frau in einen Gefangenen verliebt. Ist das so unvorstellbar? Was soll denn daran beschämend würdelos sein, wie sich der Landgerichtsdirektor Dr. Stein ausgedrückt haben soll?"
"Aber es darf nicht sein," gab Karl Brammer zur Antwort, ohne auf die moralische Bewertung des Falles durch den Landgerichtsdirektor einzugehen, "dann muss die Frau ihre Gefühle eben unterdrücken und Kontakte mit dem Gefangenen vermeiden."
"Soll das eine Lösung sein? Nein, nein, ganz so einfach ist es nicht. Gefühle kann man nicht so ohne weiteres beiseite schieben. Stell dir mal vor, du wärest Franzose gewesen, als wir uns kennerlernten. Hätten wir unsere Liebe damals unterdrückt, wenn sie nach einem Gesetz verboten gewesen wäre? Ich glaube nicht. Nein, ich glaube nicht," versuchte Lina Brammer ihren Mann von ihrer Auffassung zu überzeugen, "selbst dann nicht, wenn uns bewusst gewesen wäre, dass wir hätten bestraft werden können, wenn unsere Beziehung bekannt werden würde. Das Entstehen einer Zuneigung oder gar einer Liebe ist unabhängig von der Nationalität des anderen. Sie kann sich auch dann entwickeln, wenn so etwas verboten ist."
Karl Brammer wusste nicht so recht, was er auf die Argumentation seiner Frau erwidern sollte. Im Grunde gab er ihr Recht. Aber andererseits befand sich Deutschland im Krieg. Und deshalb befürwortete er eine Bestrafung derjenigen Deutschen, die über einen unvermeidbaren Umfang hinaus Kontakte mit Kriegsgefangenen oder Fremdarbeitern unterhielten.
"Es mag ja so sein, wie du sagst," reagierte er etwas hilflos auf die Äußerungen seiner Frau, "aber vergiss nicht, dass Krieg ist, und solange das der Fall ist, gelten besondere Gesetze, die zu beachten sind."
Karl Brammer fühlte sich bei dieser Erklärung nicht ganz wohl in seiner Haut. Er spürte, dass sie nicht ausreichte, seine Frau von ihrer verständnisvollen Einstellung abzubringen. Er war deshalb froh, dass sie zu dem Fall der Witwe nichts weiter sagte.
Beide Eheleute lasen noch eine Zeit lang im „Generalanzeiger“ und gingen dann erschöpft von ihrer Arbeit während des Tages zu Bett.