Читать книгу Mords-Schuld - Günther Dümler - Страница 13
Schau mer amal, dann seeng mer scho
ОглавлениеMittlerweile war die Sonne hinter den roten Ziegeldächern der Röthenbacher Siedlung verschwunden, die Dämmerung brach herein und die bunten Farben, die der herrliche Sommertag hervorgezaubert hatte, mussten den dumpfen Tönen der Nacht weichen. Die hohen Bäume gegenüber waren bald nur noch als dunkle Schatten auszumachen. Nur die vereinzelten weißen Wölkchen über dem westlichen Horizont wurden noch von der untergehenden Sonne angestrahlt und leuchteten für einige Minuten weiterhin in einem wunderbaren Gemisch aus gelben und rötlichen Tönen.
Eine malerische Stimmung, für die es sich lohnte noch ein wenig aus dem Fenster zu sehen, bevor man endgültig die Jalousien herunterfahren und den Fernseher anmachen würde. Im ersten Stock der Hausnummer 32 wurde der Vorhang geringfügig zur Seite geschoben und eine schemenhafte Gestalt baute sich hinter dem so entstandenen Spalt auf. Der Mann schien etwas in der Hand zu halten. Jetzt hob er beide Arme und hielt den Gegenstand, den man, wäre es noch etwas heller gewesen, unschwer als Feldstecher hätte identifizieren können, vor die Augen. Offenbar galt sein Interesse nicht dem Farbenspiel der untergehenden Sonne. Vielmehr spähte er auf die gegenüber liegende Seite der Straße, auf ein bestimmtes Fenster, ebenfalls im ersten Stock. Der Raum, der dahinter lag war ebenso wie der des Beobachters dunkel, weshalb er bald aufgab und stattdessen die Gärten der Nachbarschaft ausspähte, nur um die Zeit zu überbrücken, bis sie endlich das Licht anknipsen und seine ganz persönliche Peepshow eröffnen würde. Er erwartete vorerst nichts Spektakuläres zu sehen, es ging ihm nur darum, die lästige Wartezeit zu verkürzen. Eigentlich war ja bereits die Zeit gekommen, wo sein Opfer, er hätte natürlich niemals einen derart vulgären Begriff verwendet, sich in ihr Schlafzimmer zurückzog, sich ihrer Kleidung entledigte, um gleich darauf zum Duschen ins Badezimmer hinüber zu gehen. Eine äußerst praktische Angewohnheit, jedenfalls aus Sicht ihres Bewunderers. Das Badezimmerfenster bestand leider aus jenem geriffelten Glas, das die Sicht völlig verzerrte und ihm den Anblick ihres perfekten Körpers, den er so sehr bewunderte, verwehrte. Aber manchmal hatte er auch Glück und sie kam danach, noch immer unbekleidet, ins beleuchtete Schlafzimmer, was ihn für seine Mühe wenigstens einigermaßen entlohnte.
Er war das, was man landläufig als Spanner bezeichnet, ein Begriff, den er natürlich völlig von sich weisen würde, jedenfalls soweit es ihn selbst betraf. Er sah sich lediglich als Bewunderer der Dame und wenn er nicht gut und gerne doppelt so alt wie dieses junge Ding gewesen wäre, dann hätte er ganz sicher seinen ganzen Mut zusammengenommen, sie angesprochen und sie auf einen Kaffee oder ein beliebiges anderes Getränk eingeladen. Aber aus den genannten Gründen wurde er dieser Mutprobe enthoben.
Das Fenster gegenüber blieb noch immer dunkel. Auf der Straße war auch nichts los. Da, hinter dem Gartenzaun des Nachbarhauses schien sich etwas zu bewegen. Es war völlig windstill, also konnte die Bewegung der Zuckerhutfichte nur von einer Berührung herrühren. Aber wer oder was verbarg sich dort. Ein Tier? Die orange getigerte Katze der Kaszewskis vielleicht? Dieses Sauvieh, das nichts Besseres zu tun hatte, als regelmäßig sein Geschäft auf dem Rasen in seinem Vorgarten zu verrichten, der mittlerweile aussah als wäre er von den Blattern oder einer anderen Krankheit, die kreisrunde gelbe Flecken auf der Haut hinterließ, befallen.
Er justierte sein Fernglas nach, stellte es auf die genaue Entfernung zu der betreffenden Stelle ein. Tatsächlich stand jemand hinter dem Zaun. Es war aber keine Katze, sondern eine Person, ein großgewachsener Mann, soweit er erkennen konnte. Er schien sich hinter dem Baum zu verstecken, aber wozu? Was hatte er zu verbergen? Ein winziges Flämmchen flackerte kurz auf und verlosch augenblicklich wieder, nur ein Glimmen war danach noch zu erkennen. Der Mann hatte sich anscheinend eine Zigarette angezündet. Auf was der wohl wartete? Ob es sich vielleicht um den jungen Mann handelte, den seine Angebetete schon des Öfteren mit nach oben genommen hatte und dessen Anwesenheit in der Folge jedes Mal zu einem Höhepunkt in der Erfolgsgeschichte seiner abendlichen Beobachtungen geführt hatte? Und vermutlich nicht nur bei ihm. Aber warum klingelte er dann nicht einfach? Vielleicht wollte er noch schnell eine Zigarette rauchen, bevor er zu seiner Freundin ging. Möglicherweise gehörte sie ja zu denen, die keinen Rauch in ihrer Wohnung dulden.
Als sich der Vorgang bereits zum vierten oder fünften Mal wiederholt hatte und der Fremde einen Stummel nach dem anderen auf dem Boden ausgetreten hatte, verwarf der heimliche Beobachter seine Theorie mit dem wartenden Freund. Aber was wollte der Mann dann? Es verging eine weitere Viertelstunde und dann noch eine. Das Licht gegenüber war noch immer nicht angegangen und der Spanner wollte für heute schon aufgeben und sich vor die Glotze setzen, ein Bier aufmachen und ersatzweise einen Porno einlegen, als es plötzlich ein Geräusch gab, das ihn aufhorchen ließ und ihn veranlasste, die Beobachtung schlagartig wieder aufzunehmen.
Sein Nachbar kam die Straße vom Bahnhof her gelaufen und musste an dem Kerl hinter der Fichte vorbeikommen. Als er auf gleicher Höhe war, trat dieser plötzlich aus dem Schatten heraus und griff den Vorbeigehenden an. Er zog einen Gegenstand aus seiner Tasche, um was es sich genau handelte, das konnte der unerwünschte Zeuge nicht erkennen. Damit schlug er dem Nachbarn mehrfach auf den Kopf, worauf dieser einige mühsam unterdrückte Schmerzensschreie ausstieß. Dann stieß der Fremde ihm mit dem ausgestreckten Zeigefinger vor die Brust und redete eindringlich auf sein Opfer ein. Man konnte nichts verstehen, dass es sich um eine Drohung handelte, war jedoch nicht zu übersehen.
So schnell er begonnen hatte, war der Spuck auch wieder vorbei. Der Fremde verschwand aus dem Gesichtsfeld des Beobachters. Kurz darauf heulte ganz in der Nähe ein Motor auf und ein Wagen fuhr mit rasender Beschleunigung und durchdrehenden Reifen davon. Ein so genannter Kavalierstart, eine Bezeichnung, die dem Flüchtenden unverdient schmeichelte. Zurück blieb ein eingeschüchterter Mann, der offensichtlich große Probleme hatte, sich auf den Beinen zu halten. Er hielt sich am Gartenzaun fest und erbrach sich auf das Pflaster des Gehwegs zu seinem eigenen Haus. Er zog ein Taschentuch heraus, wischte sich den Mund ab und taumelte der Haustür zu.
Für den heimlichen Beobachter gab es nichts mehr zu sehen. Er wollte auch in nichts hineingezogen werden und bemühte sich daher, klammheimlich und ungesehen von seinem Beobachtungsposten zu verschwinden. Seine Angebetete kam heute anscheinend erst viel später als sonst nach Hause. Zudem musste er über das Gesehene einmal gründlich nachdenken. In was sein Nachbar da wohl hineingeraten war. Er legte das Fernglas weg, wartete noch eine Weile, bis er sicher war, dass der Nachbar ihn nicht mehr hören würde. Dann zog er den Vorhang wieder zu und ließ vorsichtig, um kein unnötiges Geräusch zu verursachen, den Rollladen herunter. Er setzte sich auf das Sofa und versank in angestrengtes Grübeln.