Читать книгу Mords-Schuld - Günther Dümler - Страница 8

Corona-Lage

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Es war Mitte Juni und die Sonne brannte mit einer enormen Intensität auf die Erde nieder. Man konnte glauben, sie wolle an einem einzigen Tag all die trüben Stunden wett machen, die sie durch ihr demonstratives Fernbleiben den ganzen April und den halben Mai über verschuldet hatte. Sie fiel im wahrsten Sinn des Wortes von einem Extrem ins andere. Insofern verhielt der Planet sich nicht anders als die meisten Menschen über alle Grenzen hinweg inklusive großer Teile der Röthenbacher Bevölkerung.

Auch sie, die monatelang in die Enge ihrer Häuser und Wohnungen verbannt waren und ihre Arrestzellen nur aus triftigen Gründen verlassen durften, zum Einkaufen etwa oder um ihrer Arbeit nachzugehen, wollten nun mit einem Schlag das vermeintlich Versäumte nachholen. Der Bundesgesundheitsminister hatte erst gestern in der Tagesschau verkündet, dass die drei meistgefährdeten Risikogruppen, die so genannten Vulnerablen, mittlerweile erfolgreich geimpft seien und die bundesweite 7-Tage-Inzidenz nicht zuletzt deshalb auf einen Wert unter 20 gesunken wäre. Ein großartiger Erfolg angesichts anfänglicher peinlicher Pannen bei der Impfstoffbeschaffung. Vunerable, noch so ein neuer Terminus, den die Pandemie hervorgebracht hatte. Der Minister erwähnte sie natürlich nicht wörtlich, aber diese Gruppe implizierte selbstverständlich auch unsere Röthenbacher Freunde, die Familien Kleinlein, Schwarm und Bräunlein, die Hauptprotagonisten unserer Geschichte, auch wenn sie von diesem neumodischen Begriff vor Corona noch nie gehört hatten.

Nun wurden vielfach Freudenfeste veranstaltet. Ein unbedarfter Beobachter hätte durchaus auf den abenteuerlichen Gedanken kommmen können, der ehemals ruhmreiche, derzeit aber eher ruchlose 1.FCN wäre infolge einer Wunderheilung wieder in die Bundesliga aufgestiegen und hätte zumindest die nationale Meisterschaft errungen. Es wurden allein in den ersten Tagen nach Inkrafttreten der Lockerungen solch riesige Mengen an Holzkohle vergrillt, dass militante Umweltaktivisten aufgeschreckt die finale Vernichtung des deutschen Waldes verkündeten. Brauereien machten Rekordumsätze. Mussten sie während des Höhepunkts der Lockdowns das Bier noch hektoliterweise wegkippen, so kamen sie nun nicht mehr mit der Produktion nach. Doch bei weitem nicht alle Brauereien konnten von diesem Aufschwung noch profitieren, viele hatten die Durststrecke erst gar nicht nicht überlebt. All diese Freudenausbrüche konnten eben genauso wenig wie die Sonne das Versäumte ungeschehen machen.

In den Köpfen der Menschen blieb für immer und unauslöschlich die Erinnerung an eine äußerst verstörende Zeit, ein buchstäbliches Seuchenjahr zurück. Zu Beginn der Pandemie hatte man sich allerorten noch um ein paar Rollen Toilettenpapier gestritten, das genauso wie Backhefe quasi über Nacht aus den Regalen der Supermärkte verschwunden war. Hamsterkäufe waren an der Tagesordnung. Die Aufregung über diese Marginalien trat jedoch schon bald völlig in den Hintergrund und machte echter Sorge Platz, als die Infektionszahlen in die Höhe schnellten und die Todesrate, vor allem unter den Hochbetagten, erschreckende Formen annahm. Wer es vorzog nicht wegzuschauen, der konnte im TV verfolgen, wie im Piemonte, begleitet von gepanzerten Fahrzeugen, die Leichen mit Lastwagen aus der Stadt gebracht wurden. Kühlhäuser für Lebensmittel wurden zu provisorischen Leichenhallen umfunktioniert und im vermeintlich hochentwickelten New York mussten eilig Massengräber ausgehoben werden. Umso erstaunlicher war es, dass ein knappes Jahr später diese schrecklichen Bilder aus den Köpfen der Menschen gelöscht zu sein schienen. Bei Massenaufläufen ohne Einhaltung von Abstandsregeln wurde lauthals über den Verlust von verfassungsmäßig garantierten Menschenrechten und persönlichen Freiheiten geklagt, trotz eines unübersehbaren Anstiegs der Inzidenzen. Und das alles in völliger Ignoranz der Tatsache, dass das Grundgesetz auch den weniger waghalsigen Mitbürgern ein Recht auf körperliche Unversehrtheit garantiert.

Auch vor dem sonst so beschaulichen Röthenbach oder Rödnbach, wie es die Einheimischen in ihrem weichen Dialekt aussprechen, dem die harten Konsonanten völlig abgehen, machte die Seuche nicht Halt. Bis dato hatte es drei Todesopfer im Ort gegeben. Das mag auf den ersten Blick nicht viel erscheinen, doch das sind, auf die Einwohnerzahl umgerechnet, immerhin dreimal so viel wie in der Großstadt Nürnberg.

Der Wirt des so genannten Hosererhauses musste bereits sehr früh aufgeben. Seinen Hauptverdienst hatte er zuvor bei den vielen Vereinsveranstaltungen erzielt, die über mehrere Monate komplett verboten waren. Andere, in den Industriebetrieben der nahen Stadt Beschäftige, verloren teilweise ihre Jobs, weil es ihren jeweiligen Arbeitgebern nicht besser ergangen war oder sie waren auf Kurzarbeit gesetzt worden und mussten teils erhebliche Einkommensverluste hinnehmen.

Der Wirt des Goldenen Adlers hatte sich mit Mahlzeiten zum Abholen einigermaßen über Wasser gehalten, aber lange wäre es auch bei ihm nicht mehr gut gegangen. To go war mittlerweile auch bei denen ein gängiger Begriff geworden, die mit der englischen Sprache auf Kriegsfuß standen.

„Mir denner ner bloß meine Bedienunger und di Küchnhilfn Leid, haubdsächlich dee wo bloß geringfügich angschdelld warn. Dee homm etz monadelang nix verdiend. Und dess sinn alles anne, bei dene wos derhamm sowieso immer gnabb zouganger is“, erklärte Karl Bernreuther, der Adlerwirt, als er Peter zufällig auf der Straße traf. „Hoffndli gäihds bald widder aufwärds, etz, wo die Leit weingsdns in begrenzder Anzahl und underm freier Himml widder kummer derfn. Abber nach dem ganzn Drama werd hald äs Geld aa nimmer so logger sitzn, färchd i“.

Bei der Metzgerei Bräunlein hingegen gab es kaum Probleme. Als systemrelevanter Betrieb durften sie die ganze Zeit über geöffnet bleiben, wenngleich der Umsatz wegen der knappen Kassen vieler Kunden auch hier spürbar zurück gegangen war. Schlechter sah es beim Friseursalon von Lothar Schwarm und dem angeschlossenen Kosmetikstudio seiner Frau Maria aus. Beide mussten über mehrere Monate geschlossen bleiben und hatten keinerlei Einnahmen. Denn heimliche, weil streng verbotene Hausbesuche, kamen für die Beiden nicht in Frage. Sie hielten sich getreu an die Regeln. Zum Glück hatten sie keine Miete zu bezahlen und dadurch einen großen Vorteil gegenüber vielen Berufskollegen andernorts. Die Rücklagen schmolzen jedoch dahin wie Schnee in der warmen Frühlingssonne.

Die Kleinleins hatten es in finanzieller Hinsicht besser. Als Rentner hatte Peter keinerlei Einbußen zu beklagen, eine Gnade der frühen Geburt, wie er es scherzhaft und in Umkehrung eines Zitats von Helmut Kohl formulierte. Aber unter den fehlenden sozialen Kontakten hatten er und seine Marga wie alle anderen gelitten. Ihr jüngstes Enkelkind war mittlerweile schon fast 16 Monate alt und sie hatten es gerade einmal im vergangen Sommer besuchen können, in Odalfing bei München, wo die Tochter Heidi mit ihrem Mann und dem Basti, dem anderen Enkel der Kleinleins, wohnte.

Wenigstens hatten sie inzwischen gelernt, per Whatsapp-Videoaanruf miteinander zu kommunizieren. Das war zwar kein vollwertiger Ersatz für einen persönlichen Kontakt, eine Umarmung oder eine gemeinsame Unternehmung. Aber immerhin, besser als zu Peters Kinderzeit war es allemal, wo höchstens drei bis vier Mal im Jahr ein Brief von der Tante Adelheid kam, worauf die Mutter immer stundenlang am Küchentisch saß und angestrengt sinnierte, was man denn am besten zurückschreiben könnte. Am Ende lief es immer auf das Gleiche hinaus. „Uns geht es gut, was wir auch von euch hoffen“. Mit dieser Standardfloskel schlossen diese Briefe stets. Eine völlig vergessene Art der Kommunikation in diesen modernen Zeiten, doch die Botschaft, die es enthielt, war heute so aktuell wie damals.

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