Читать книгу Mords-Schuld - Günther Dümler - Страница 9

Ein Krankenbesuch

Оглавление

Adele Heller nahm dank ihres motorisierten Fahrrads zügig den leichten Anstieg am Ende des Emmeran-Thalhammer-Wegs der von so vielen Schlaglöchern gekennzeichnet war, dass es ihrer ganzen Aufmerksamkeit bedurfte, einen Sturz zu vermeiden. Emmeran-Thalhammer-Weg hieß er nach einem früheren Gemeinderat, der sich beim Umbau der Gemeindeverwaltung große Verdienste erworben hatte. Die Röthenbacher nannten ihn aufgrund seines bedauerlichen Zustands gemeinhin respektlos, aber überaus zutreffend, Emmentalerweg. Die ungepflegte löchrige Teerdecke glich tatsächlich mehr einem Schweizer Käse als einem Fahrweg und sie sah so renovierungsbedürftig aus wie das in die Jahre gekommenen Einfamilienhäuschen der Familie Hartmann, deren Bewohnerin sie den täglichen Besuch abstattete.

Frau Heller war diplomierte Krankenschwester und kümmerte sich hauptamtlich um die Kranken und pflegebedürftigen Einwohner der Gemeinde, sofern deren körperlicher und geistiger Gesundheitsstatus ein Wohnen in den eigenen vier Wänden noch zuließ. Sie war bei Allen äußerst beliebt, nicht zuletzt deshalb, weil sie immer ein mildes, zufriedenes Lächeln im Gesicht trug. Egal, ob die Umstände danach waren oder nicht. Es war Teil ihrer Berufung, wie sie selber auf Befragen antworten würde und das aus vollster Überzeugung. „Meinen Patienten geht es meist schlecht genug, die brauchen nicht noch ein griesgrämiges Gesicht, das ihnen die Laune verdirbt, sondern freundliche Zuwendung.“ Wenn sie kam, ging für viele ein Licht auf.

Marion Hartmann war zwar noch in den so genannten besten Jahren, aber das Schicksal hatte ihr bereits übel mitgespielt und sie mit nicht einmal 50 Jahren zu einem Leben mit einer dauerhaften Gehbehinderung verurteilt. Sie brauchte zwei Krücken, um sich wenigstens notdürftig vorwärtsbewegen zu können und ohne starke Schmerzmittel ging es gar nicht. Ausgerechnet sie musste das Pech haben, zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort zu sein. Ein Auto hatte sie mit überhöhter Geschwindigkeit erfasst und über mehrere Meter gegen einen Lichtmast geschleudert. Hätte sie nur nicht diese vermaledeite Abkürzung durch das Wäldchen genommen. Dann hätte sie auch nicht die Kreisstraße an dieser unübersichtlichen Stelle überqueren müssen. Dass der betrunkene Fahrer ermittelt und hart für seine Verfehlung bestraft wurde, verschaffte ihr wenig Genugtuung. Die Folgen der tragischen Begegnung hatte sie ganz allein zu tragen. Sie würde nie wieder richtig gehen können, schon gar nicht schmerzfrei, ganz zu schweigen von den langen Waldläufen, bei denen die ehemalige passionierte Sportlerin früher die nötige Entspannung nach ihrer anstrengenden Tätigkeit am Montageband eines Elektronikherstellers fand. Das Schicksal hatte sie wahrlich hart getroffen.

Die Schwester hatte einen Schlüssel für die Haustür und öffnete sich daher selbst.

„Hallo mei Guude, wie geht‘s uns denn heut?“, rief sie bereits vom Flur aus in das kleine Wohnzimmer, wo sie die Patientin, in ihrem kunstlederbezogenen Fernsehsessel sitzend, bereits sehnsüchtig erwarten würde. Adele Heller war vorsichtig geworden, seit sie vor Jahren eine Patientin, eine relativ rüstige alte Dame, mit einem Kopfkissen erstickt in ihrem Bett vorgefunden hatte. Der Schock hatte ihr seinerzeit gewaltig zugesetzt. Die weit aufgerissenen Augen des Mordopfers erschienen ihr noch heute oft genug in ihren Träumen. So etwas wollte sie nie mehr erleben. Daher hatte sie sich seither angewöhnt, sich erst einmal bemerkbar zu machen, bevor sie in den Wohnbereich kam. Damit hoffte sie vermeiden zu können, dass sie wie damals, völlig unvorbereitet in eine solche Schrecksituation geriet. Wenn sie jedoch auf ihr Rufen keine Antwort erhielt, dann betrat sie die Wohnung jedes Mal mit klopfendem Herzen und angespannter Erwartung.

Aber seitdem war nichts Vergleichbares mehr geschehen und auch heute hörte sie sogleich das vertraute Geräusch, das die Krücken der Patientin beim Aufsetzen auf den einfachen Teppich im Wohnzimmer verursachten.

„Muss hald gäih, bleibd mer scho nix anderschds übrich“, tönte es, ebenfalls vertrauterweise hinterher. Das war wohl eher eine Floskel als wahre Überzeugung, denn zu den Geduldigsten hatte die Frau Hartmann noch nie gehört. Sie war schon eher eine von denen, die mehr mit dem Schicksal haderten, als ihnen gut tat und das auch noch ein gutes Jahr nach ihrem tragischen Unfall.

„Naja“, dachte die Schwester, „wenns ihr hilfd, dann solls hald vo mir aus brummer“ und sah keinen Grund ihre freundliche Miene dem ungnädigen Empfang anzupassen. Auch darin war sie höchst professionell. Wenn sie sich auch vornahm, nie so undankbar zu werden, wenn es bei ihr einmal so weit sein sollte, so konnte sie doch verstehen, warum die Frau unzufrieden und von Selbstmitleid geprägt war. Schließlich hatte sie nicht nur mit den Folgen ihres Unfalls zu kämpfen, auch mit der Wahl ihres Ehemanns hatte sie nicht gerade das große Los gezogen.

Schwester Adele kannte den Mann kaum. Entweder ging er ihr absichtlich aus dem Weg oder er war aus anderen Gründen so gut wie nie zuhause. Wenngleich er noch erwerbstätig war, so hätte sie ihn doch wenigstens an den arbeitsfreien Tagen einmal antreffen müssen oder wenn sie besonders viel zu tun hatte und daher erst gegen Abend vorbeikommen konnte. Aber geben musste es ihn schon noch, denn die benötigten Medikamente waren immer vollzählig vorhanden und auch der Kühlschrank war ausnehmend gut gefüllt. Vielleicht kümmerte sich aber auch diese Frau aus der Nachbarschaft darum, die ihr die schwerste Hausarbeit abnahm und auch gelegentlich für sie eine Portion mit kochte, wenn es zum Beispiel Eintopf oder Suppe gab.

Adele war mittlerweile im Wohnzimmer angekommen und sah, wie die Frau Hartmann keuchend, sich an der Wohnwand abstützend dastand. Der Verband, den ihr Adele Heller jeden Tag wechselte, hing lose vom rechten Unterschenkel herab. Wahrscheinlich hatte ihn die Patientin wieder einmal in einem Anflug von Ungeduld geöffnet, um den Heilungsfortschritt zu kontrollieren. Geduld gehörte wahrlich nicht zu ihren hervorstechendsten Eigenschaften. So würde die Heilung des offenen Beins, mit dem sie seit mehreren Wochen zu tun hatte und das auch der Grund für die Betreuung durch die Gemeindeschwester war, ganz sicher nicht schneller voranschreiten, eher im Gegenteil. Adele Heller schnaufte nur einmal heftig durch, besann sich dann aber eines Besseren und verzichtete auf die berechtigte scharfe Belehrung der Uneinsichtigen. Wenn man tagtäglich mit teils schwierigen Patienten zu tun hatte, erwarb man zwangsläufig einen nicht zu unterschätzenden Erfahrungsschatz im Umgang mit ihnen und so wusste sie, dass Kritik hier nur das Gegenteil von dem bewirken würde, was sie erreichen wollte.

„Ach Godd“, sagte sie stattdessen, die Ursache der Misere außen vor lassend „wie schaud denn dess aus? Der Verband iss ja kombledd aufganger. Hoffndlich iss ka Dregg neikommer, sonsd gibds schnell amal a gefährliche Infektion und dann kommer gar nix mehr ausschließn, bis zum Verlusd von dem Bein iss dann alles möglich. Und dess woll mer doch nedd, Frau Hartmann, gell.“

Die Message, wie man heutzutage sagt, war hoffentlich angekommen, auch ohne persönliche Zurechtweisung.

„Na, dann schau mer hald amal, woss mer machen könner. Kommers, ich helf ihner auf ihr Sofa, dann könner ser si hinleeng. Dann machi die Wunde sauber und leech ihner den neuer Verband an. Hoff mer, dasser dann morgn, wenni widder komm besser ghaldn hodd.“

Bei den letzten Worten blickte sie der Patientin mit strenger Miene ins Gesicht und sie glaubte tatsächlich so etwas wie Einsicht erkennen zu können. Sie hatte also sehr wohl verstanden.

„Woss glaubns denn, Schwester, wie lang dess nu dauerd, bis die Wundn endlich amal zuheild?“, fragte sie aber dennoch, nicht ohne einen erneuten Anflug von Ungeduld.

„Ich konns nedd genau voraussagn, Frau Hartmann. Der Doggder Eichberger hodd ihner ja sicher ganz genau erglärd, wie sowoss zustand kommd und dass dess auf jedn Fall a langwieriche Gschichd iss. Wissens, mid ihrer Diabetes mellitus iss hald die Durchbluudung von ihrn Bein nimmer gar zu guud und der durch ihr Behinderung zwangsläufich vorhandne Bewegungsmangl duud sei Übriches. Helfn däds nadürlich scho, wenn der Zugger amal aweng niedriger wär. Sie müssn si hald ganz genau an ihr Diäd haldn, sonsd wärds bloß immer schlechder“.

„No dess machi doch. Ich ess ja so gudd wäi gar nix. Und ganz verhungern konni ja schließli aa nedd, odder?“

Ein Blick auf Frau Hartmanns Figur entlarvte diese Bemerkung sofort als reine Schutzbehauptung. Vom Hungern kam dieses deutlich sichtbare Übergewicht sicher nicht. Aber was sollte Adele Heller denn sagen, es war nur zu verständlich, dass die leidgeprüfte Frau Trost in den kulinarischen Freuden suchte, wenn sie anderweitig größtenteils von den angenehmen Seiten des Lebens ausgeschlossen war.

Mords-Schuld

Подняться наверх