Читать книгу Mords-Zirkus - Günther Dümler - Страница 12
Lustig ist das Zigeunerleben
Оглавление„Schade, dass wir schon wieder aufbrechen müssen. Hier hatten wir doch zwei wunderbare Wochen, ein paar der Vorstellungen waren sogar komplett ausverkauft. Endlich mussten wir uns einmal keine allzu großen Sorgen machen und nun? Können wir nicht noch ein paar Tage anhängen, Annunzio?“
Die schlanke, drahtige junge Frau schaute bittend zu einem älteren Herrn in einer löchrigen und ölverschmierten Montur hinauf, der mit einem einfachen Schraubenschlüssel an einem alterschwachen Unimog herumdokterte. Kein Mensch hätte in diesem Moment in ihm den souveränen Zirkusdirektor Annunzio Bellini vermutet, den elegant herausgeputzten Mann der noch am Abend zuvor mit Frack und Zylinder, das glitzernde Mikrofon in der Hand, so begeisternd durch das Abendprogramm des gleichnamigen Zirkus geführt hatte. Aber der Zirkus Bellini gehörte nicht zu den eindrucksvollen Unternehmung, die mit hunderten von Artisten, Tieren samt ihren Dompteuren und einer ganzen Schar von hilfreichen Händen in modernen Wohnwagen durch die Lande zogen, die schon Monate, oft ein ganzes Jahr im Voraus wussten, wo sie ihre Zelte aufschlagen würden. Nein, dieser Direktor stand lediglich einer verschworenen kleinen Truppe vor, wo jeder für alles zuständig und ein bedrohlicher Geldmangel ein ständiger Reisebegleiter war. Darum war es auch nicht weiter verwunderlich, dass Annunzio selbstverständlich mit Hand anlegen musste. Annunzio oder einfach nur Zio, wie ihn allerdings nur diejenigen Mitglieder seines Ensembles nennen durften, die schon von Anfang an mit ihm zusammenarbeiteten. Beim Zeltauf- und -abbau, beim Verladen der schweren Gegenstände und natürlich auch bei der Beschaffung der nötigen finanziellen Mittel, die der kleine Zirkus benötigte, um überhaupt überleben zu können wurde jede Hand gebraucht. Das hätte niemand vermutet, der ihn Abend für Abend souverän im Scheinwerferlicht agieren sah, selbstsicher und elegant. Die wenigsten der geschätzten Besucher konnten sich eine Vorstellung davon machen, wie hart das Leben als fahrende Truppe sein konnte.
Zio ist italienisch und heißt auf Deutsch Onkel, was zwar nett klingt, aber irreführend ist. Er ist kein Onkel, jedenfalls war ihm bis dato von einem derartigen Status nichts bekannt. Die Abkürzung seines eleganten Namens ist nur willkürlich so gewählt, weil es eben kürzer und somit für den täglichen Umgang eindeutig praktischer ist. Annunzio passt in die Manege, nicht zu einem Mann, der Futter für die Tiere schneidet, den anfallenden Mist zusammenkehrt und sich auch nicht zu schade ist, den altersschwachen Motor der Zugmaschine zu reparieren, wenn die Not es erfordert, so wie eben. Eine altersschwache Zugmaschine, das traf es ziemlich genau. Nicht viel anders fühlte sich Zio im Augenblick.
Wieder einmal war die Kasse nahezu leer. Zio war müde, ausgelaugt von dem täglichen Kampf um das Weiterbestehen seines Lebenswerkes. Doch auch die Stimmung in der Truppe machte ihm enorm zu schaffen. Bei den Los Alamos, die er Abend für Abend als fliegende Menschen ankündigte, herrschte dicke Luft. Ausgerechnet in einer Gruppe, deren Flugnummer wie keine andere auf ein perfektes Zusammenspiel der jeweiligen Aktionen und eine hundertprozentige Abstimmung zwischen den beteiligten Künstlern angewiesen war. Blindes Vertrauen vorausgesetzt. Ein falscher Griff oder ein verspäteter Absprung konnten eine schwere, wenn nicht sogar tödliche Verletzung des Partners zur Folge haben. Das Zelt des Zirkus Bellini war natürlich nicht mit den domartigen Kuppeln der großen Unternehmen vergleichbar, dennoch konnte ein Absturz schwere bleibende körperliche Schäden nach sich ziehen. Zio machte sich ernsthafte Sorgen. Zorn und schwelender Ärger konnten leicht die Konzentration entscheidend schwächen. Sicher überwog die professionelle Einstellung bei Elena Popescu, einer ehemaligen rumänischen Kunstturnerin und ihrem Partner Samson, dem Fänger des Duos die derzeitige Missstimmung, aber er hatte nicht vergessen wie heftig sich die beiden noch gestern Abend gefetzt hatten. Es hatte harsche Worte gehagelt, in beide Richtungen und wenn er sich nicht sehr irrte sogar eine krachende Ohrfeige für Elena. Dass sie trotz des enormen Gewichts- und Größenunterschiedes nicht ganz wehrlos war, unterstrich heute ein blutiger Kratzer im Gesicht ihres Partners. An einem hervorstehenden Draht hätte er sich verletzt, gab er gegenüber Annunzio an, als dieser ihn darauf ansprach. Doch der glaubte ihm kein Wort. Den genauen Grund für dieses Beinahezerwürfnis kannte er nicht mit Sicherheit, konnte sich aber durchaus vorstellen, dass die aufreizende, fast schon auffordernde Art, wie sie ihren Körper vor dem einen oder anderen Besucher zur Schau stellte, seine Eifersucht anfeuerte. Wie eine Hure im Rotlichtmilieu, um Kundschaft buhlend. Man sprach im Zirkus beinahe schon offen darüber, dass sie im Laufe der letzten Zeit tatsächlich den einen oder anderen Besucher mit in ihren Wohnwagen genommen hatte. Um die Erfüllung von Autogrammwünschen ging es dabei sicher nicht. Die nach außen dringenden Geräusche waren eindeutig und unverkennbar. Dazu lebten die Zirkusleute einfach zu dicht aufeinander, als dass dieses Gebaren lange unbemerkt bleiben konnte.
Annunzio Bellini seufzte resignierend. Die Dinge schienen ihm langsam aber sicher über den Kopf zu wachsen. Da waren auch noch die militanten Tierschützer, die gegen jegliche Art der Dressur protestierten. Nicht einmal vor der harmlosen Pudelnummer von Signorina Renata machten sie Halt. Dabei liebten die Tiere es offensichtlich, sich vor dem applaudierenden Publikum zu präsentieren, ihre Kunststücke zu zeigen. Was war schon dabei, wenn die herausgeputzten Pudel durch Reifen sprangen, keinesfalls brennende Reifen, wie man angesichts der Heftigkeit der Proteste hätte vermuten können, sondern lediglich glänzende Metallringe, die die Chefin der Truppe den Tieren hinhielt, damit sie ihr Können zeigen konnten. Signorina Renata, die eigentlich eine Signora war, war nicht nur die Chefin der Hundenummer, sondern leitete zusammen mit Annunzio, ihrem Ehemann, auch die Geschicke des Zirkus.
Es hatte vor wenigen Wochen damit begonnen, dass urplötzlich Besucher der Abendvorstellung von ihren Sitzen aufgesprungen waren und Pappschilder mit der Aufschrift „Stoppt die Tierquälerei“ und „Dressur ist Folter“ hochgehalten hatten. Eines Tages fanden sich diese Anschuldigungen auch auf den Plakaten des Zirkus Bellini, in grellen Farben aufgepinselt. Seither hatten sich diese Angriffe auf die Integrität des kleinen Unternehmens an jedem Ort wiederholt, an dem sie ihre Zelte aufgeschlagen hatten. Nur noch eine Station, nur noch Röthenbach, dachte Annunzio, danach würde der Spuk hoffentlich ein Ende finden, denn dann würden sie die nähere Umgebung für längere Zeit verlassen und weiter nach Norden ziehen in ein anderes Bundesland. Dort hoffte er vor den Anfeindungen einigermaßen sicher zu sein.