Читать книгу Mords-Krach - Günther Dümler - Страница 6
Hinter Schloss und Riegel Reiss ab vom Himmel Tor und Tür,
reiss ab, wo Schloss und Riegel für! (aus ‚Oh Heiland reiß die Himmel auf!“)
ОглавлениеEigentlich hätte er sich keine ungünstigere Jahreszeit für sein Vorhaben aussuchen können. Bald würde draußen Schnee liegen, es war kalt, zwar noch nicht so sehr wie zur selben Zeit in den letzten Jahren, aber ohne einen warmen Wintermantel und feste Stiefel würde er erbärmlich frieren. Es würde nicht einfach werden. Natürlich nicht. Das hatte er auch nicht erwartet.
Aber einfach war es für ihn schon seit fast drei Jahren nicht mehr, seit man ihn hierher gebracht und ihn von der Außenwelt abgetrennt, auf wenigen Quadratmetern wie ein gefährliches Tier in einem Zwinger hielt, sorgsam abgeschottet von jeglicher Form der Freiheit. Er bekam zu Essen und zu Trinken, hatte sogar einen kleinen Fernsehapparat für die schwierigen Momente, in denen die Einsamkeit zu groß wurde, aber er hatte keine Möglichkeit, seinen Neigungen nachzugehen, die Natur zu genießen, mit Freunden einen unterhaltsamen Abend zu verbringen, nichts von alledem, was sein Leben einst so lebenswert gemacht hatte. Einst! Es war gerade mal ein paar Jahre her und fühlte sich doch wie eine Ewigkeit an. Er war gänzlich in der Hand einer fremden Macht, die jeden seiner Schritte bestimmen konnte, von deren Wohlwollen selbst die winzigste Verbesserung seines Daseins abhing. Er war auf der Stufe des einsamen Wolfs im Nürnberger Tiergarten angelangt, den er einst fasziniert und betroffen zugleich beobachtet hatte, wie der schier endlos in seinem Käfig von links nach rechts und wieder zurück schnürte, immer auf dem gleichen schmalen, ausgetretenen Pfad, vorbei an den gaffenden Besuchern, den Blick gebrochen nach unten gerichtet, stundenlang. Immer die gleiche Schleife, eine flache Acht nach der anderen. Seiner wahren Natur beraubt. So wie er in diesem Augenblick.
Er musste hier raus. Musste wieder freie Luft atmen, seinen Tagesablauf selbst bestimmen, ins Leben zurückkehren. Er hatte sich einen perfekten Plan zurechtgelegt. In zahllosen langen Nächten durchkalkuliert, bis ins kleineste Detail durchdacht, alle Unwägbarkeiten durchgespielt und sich für jede mögliche Überraschung die geeignete Reaktion eingeprägt, unverrückbar eingebrannt. Es würde funktionieren. Es musste! Er musste nur noch etwas warten können bis die Umstände seinem Vorhaben entgegen kamen. Geduld! Eine Eigenschaft, die noch nie zu seinen Stärken gehört hatte. Aber er konnte es sich nicht aussuchen, er musste die Gelegenheit nutzen, wenn sie sich ihm bot. Bis dahin hieß es, aufmerksam sein und warten, auf die Chance lauern.