Читать книгу Das Innere des Landes - Günther Marchner - Страница 5

Prolog

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Aus Angst vor der Wahrheit, die sie zu erahnen beginnt, aber nicht hören möchte, hält sie an der Hoffnung fest. Allein ihr Glaube schwindet von Tag zu Tag. Schließlich hofft sie nur noch auf eine eindeutige und entschiedene Klarheit, anstatt in quälendem Zwiespalt zu verharren.

Als sie die Nachricht vom Tod ihres Mannes erhält, ist der Krieg schon mehrere Wochen vorbei. In dieser ersten Zeit nach dem Ende des Schreckens. In einer neuen Sicherheit und in der geschwundenen Aussicht zu erfahren, dass er noch am Leben sein könnte. Er sei bei den letzten Kriegshandlungen gefallen, beim Rückzug erschossen, wird ihr mitgeteilt. An dieser sich auflösenden, noch von ein paar Fanatikern brutal mit Todesdrohungen zusammengehaltenen Front, zur sinnlosen Abwehr eines übermächtigen Gegners, schreit sie in ihrem verzweifelten Zorn.

Der Überbringer der Nachricht schweigt, ein Mann aus dem Dorf, nun Mitarbeiter der neuen Verwaltungsmacht.

Für den Spätsommer erwartet sie ihr Kind, ohne Vater, ohne Mut und Kraft, ohne Vorstellung, wie es weitergehen soll. Von Freunden ihres gefallenen Mannes erfährt sie, was sie befürchtet und geahnt hat. Er hatte den Krieg wie das Regime verabscheut und sich Feinde gemacht. Zwar war er klug genug gewesen, eine offene Konfrontation zu vermeiden. Aber die Sache war doch klar. Seine Kontrahenten hatten ihn in den letzten verzweifelten Kriegswochen absichtlich unlösbaren Befehlen und tödlichen Gefahren ausgesetzt. Genau dort, wo man unzuverlässige und verdächtige Personen haben wollte, nach all den Androhungen fanatischer Ortsmächtiger in den letzten Monaten und Jahren zuvor.

Sie übersteht die kommenden Monate bis zur Geburt ihres Kindes. In einer neuen Ordnung ohne Angst und Gewalt, die viele aufatmen lässt. Wie gelähmt versucht sie durch die erste Zeit zu kommen, durch einen Friedenssommer, den ersten seit vielen Jahren. An dem sie so nicht teilhaben kann. Der so nicht ihrer ist. Das Ende des Krieges, in dieser Weise, hat ihr keinen Frieden gebracht, sondern stille Verzweiflung und Wut. Sie versorgt ihre Tiere, sie verfügt über einen Garten, mehrere Wiesen und Holz. Sie funktioniert. Sie vergräbt sich in die anfallende Arbeit, im Haus und draußen im Garten, auf den Wiesen, im Wald. Ihre Mutter unterstützt sie in den letzten Wochen vor der Geburt und danach, um die erste Zeit mit ihrem Neugeborenen, einem Mädchen, zu bewältigen.

Nun lebt sie allein mit ihrer Tochter, als Witwe im fremden Haus und kleinen Gehöft ihres gefallenen Mannes. Es ist das Haus seiner früh verstorbenen Eltern, das sie übernommen hatten, nachdem seine ältere Schwester in die Stadt geheiratet hatte, noch vor dem Krieg.

Zögernd und schmerzvoll lebt sie sich in das neue Leben ein.

Bis die Schwägerin und deren Mann vor der Tür stehen, ausgebombt, geflüchtet aus der Stadt, ohne Dach über dem Kopf. Auf der erfolglosen Suche nach einer vorläufigen wie erträglichen Bleibe hat es die Schwägerin, die vom Tod ihres Bruders erfahren hatte, ins Dorf zurückgezogen.

Selbstverständlich können sie bleiben! Wie könne sie auch ablehnen?

Kommt herein! Fühlt euch wie zu Hause!

Sie rücken zusammen und helfen einander. Sie kochen und essen gemeinsam. Sie kümmern sich gemeinsam um Versorgung und Haushalt. Der Mann der Schwägerin sucht nach Arbeitsmöglichkeiten, die es in dieser Gegend nicht gibt. Er versucht sich nützlich zu machen, wo er kann, aber er kann es nicht. Die Schwägerin verspricht ihr, sie zu unterstützen. Sie gehöre ja schließlich zur Familie.

Die ersten Monate ist es schön, diese neue wie unklare Zeit gemeinsam zu verbringen und ein wenig zuversichtlicher in eine unbekannte Zukunft zu blicken. Mit ihrer Tochter, die nicht nur von der Großmutter umsorgt, sondern auch von der unerwarteten Tante im Haushalt umgarnt wird. Die darauffolgenden Monate erscheinen ihr beinahe wie in goldenes Licht getaucht.

Dann kommt es doch, was sie geahnt hat, aber nicht erwarten wollte.

Die Schwägerin klagt.

Wo sollen wir hin? Unsere Wohnung ist für immer verloren, wir wissen nicht wohin. Wir haben nichts mehr, mein Mann findet keine Arbeit. Und ich? Ich bin in diesem Haus aufgewachsen, in dem ich jetzt zu Gast bin, das nun dir gehört.

Ist es nicht unrecht, dass sie kein Haus und keinen Anspruch auf ihr Geburtshaus habe?

Das Thema ist auf dem Tisch.

Ob es rechtens sei, dass eine Zugeheiratete dieses Haus allein für sich beanspruchen könne? Sie habe doch als Schwester gewiss auch ein Anrecht darauf, da sei doch so einiges nicht geregelt. Sie fühle sich ungerecht behandelt, sie sei nicht ausgezahlt worden. Es gebe zwar kein Testament, aber immerhin einen Brief, in dem ihr der Bruder etwas versprochen hatte, eine Abgeltung, später einmal. Aber jetzt?

Sie ist entsetzt, erschrocken, fassungslos. Sie weiß von alldem nichts. Nur einmal, nebenbei, hatte ihr Mann etwas erwähnt, was noch zu regeln sei, aber es war kein Gesprächsthema mehr, in diesem Krieg, in dieser Zeit. Und nun gerät sie ins Visier. Ein Vorwurf steht im Raum, dass etwas nicht richtig, nicht ordentlich gelaufen sei.

Sie weist die Schwägerin darauf hin, dass sie das nicht gewusst habe und dass sie nun hier lebe. Wie stelle sie sich einen Anteil vor, nachdem sie nichts habe? Sie habe sie doch aufgenommen. Sei das ihr Dank?

Es kommt zum Streit. Ein Streit, der keine Lösung bringt, bis er im Schweigen einfriert. Bis klar wird, dass sie so nicht unter einem Dach leben können. Bis der Mann der Schwägerin ein Arbeitsangebot erhält. Bis die beiden schließlich ausziehen, zurück in die Stadt, die ihnen neue Möglichkeiten bietet. Aber die Sache bleibt offen. Ein über die Jahre dahinschwelender, aber schließlich erkalteter Streit, der auf einen Ausbruch wartet, zum gegebenen Anlass.

In den ersten Jahren kann sie sich mit ihrer kleinen Tochter behaupten. Einige Nachbarn und ihre Freunde stehen ihr bei. Ihre Mutter kümmert sich um die Enkelin, während sie einer Arbeit nachgeht. Es ist eine Stelle für die Verwaltungsmacht, deren Vertreter sie bei der Anstellung bevorzugen, denn ihr gefallener Mann war Gegner des untergegangenen Regimes gewesen, was jene seiner Freunde, die noch leben, bezeugen.

Nicht nur wegen dieser Bevorzugung allein teilt sich der Ort. Er teilt sich wegen vieler Angelegenheiten entlang alter, aber noch frischer Gegensätze. Gegensätze, die unauffällig weiterschwelen und gelegentlich zum Ausbruch kommen. Zwischen Gegnern des untergegangenen Regimes und seinen Befürwortern und Nutznießern. Zwischen tatsächlichen Opfern und denjenigen, die sich für Opfer halten.

Die merkwürdige Freiheit der fremden Befreiung macht Neues und Ungeahntes möglich, vor allem auch für junge Frauen wie sie. Es scheint eine Freiheit zu sein, die es lange nicht mehr gegeben, im Grunde noch nie gegeben hat. Ein neues Lebensgefühl. Bis die vom Krieg Heimgekehrten und vom Untergang des Reichs Enttäuschten, bis die von der neuen Macht Entmachteten und Zurückgesetzten wieder in Positionen kommen, sich neu formieren, weil man sie braucht. Bis sie beginnen, sich zurückzuholen, was ihnen ihrer Auffassung nach zusteht. Nachdem auch sie, als ehemalige Funktionsträger des gescheiterten Reichs, ihren Krieg überlebt hatten, sich den neuen Verhältnissen anpassen und der neuen Ordnung andienen.

Allmählich geraten Gerüchte über ihren gefallenen Mann in Umlauf, ohne dass Klarheit darüber herrscht, woher sie stammen, aber so ist das Wesen von Gerüchten. Gelegentlich werden sie von alten Gegnern bewusst gestreut. Gelegentlich werden sie von der weggezogenen Schwägerin, aber vor allem von deren früheren Freundinnen im Dorf unter der Hand verbreitet.

Er sei ein Verräter am Volk, an der Volksgemeinschaft gewesen, ein politisch Verdächtiger, gewiss auch unter heutigen Umständen, denn vor allem sei er ein Kommunist, ein Feind der Freiheit und der Menschheit gewesen. Man höre so einiges. Und sie, seine Frau, die Frau dieses Mannes, erschleiche sich noch dazu ein Erbe. Die Gesinnung ihres Mannes war bekannt gewesen, wie die anderer im Ort auch. Aber aufgrund der Tatsache, dass sich viele politische Gegner in ihrem Dorf, wie in den meisten kleinen Dörfern, persönlich kannten, waren Gegensätze nicht an die große Glocke gehängt worden und hatten letztlich keine gefährlichen Konsequenzen gehabt. Denn in der Regel waren das Zusammenleben und ein Miteinander-Auskommen wichtiger. Aber Drohungen gegen ihn waren doch stets da.

Sie solle froh sein, dass er wenigstens ehrenhaft gefallen sei, sonst wäre sie vielleicht die Witwe eines ehrlosen Deserteurs geworden.

Man habe ihn allerdings nicht ehrenhaft, sondern verbrecherisch und verantwortungslos in diesen ehrenhaften Tod getrieben, schreit sie auf der Straße diejenigen an, die sie dafür verantwortlich hält.

Ihre Enttäuschung über Ablehnung und Missgunst ihr gegenüber wächst, vor allem darüber, zur Witwe eines Verräters und zur Erbschleicherin gestempelt zu werden. Ihre Widerstandskraft, sich in einer Außenseiterposition zu behaupten, nimmt stetig ab. Schließlich schafft sie es, das Dorf zunehmend hinter sich zu lassen und Kraft für ein anderes Leben zu schöpfen. Wie sie sich immer mehr zurückzieht und nur noch wenige Freundinnen hat. Bis sie aber gerade deshalb eine besondere Unterstützung findet, die ihr hilft, ihr Auskommen zu sichern. Wie sie eine Freundin überredet, in die heruntergekommene Hauptstadt zu kommen und gemeinsam mit ihr eine Arbeit anzunehmen, wo junge Frauen in Büros gebraucht werden, und sie für einige Zeit ihre kleine Tochter der Obhut ihrer Mutter überlässt. Ausgerechnet sie, die sich nicht sicher ist, ob sie bleiben oder gehen soll, obwohl alles fürs Weggehen spricht und sie nichts mehr halten sollte. Wie sie diesen Soldaten der Verwaltungsmacht kennenlernt, der sie bewundert und über das Meer holen wird, mit einer Aufenthaltserlaubnis, mitsamt ihrer Tochter. Als die Beziehung zu diesem Mann scheitert und sie es trotzdem schafft, auf dem neuen Kontinent Fuß zu fassen, mit Hilfe neu entstandener Freundschaften. Als sie schließlich in späteren Jahren selbst zur stolzen Bürgerin des gelobten Landes wird.

Das von ihrem gefallenen Mann geerbte Haus hat sie in der Zwischenzeit einer befreundeten Familie zur kostengünstigen Miete überlassen. Einer Familie mit Wurzeln in der Landeshauptstadt und guten Beziehungen zum Ort, in dem diese vorrübergehend nach Kriegsende untergebracht gewesen war. Diese nutzt, nachdem sie in die Stadt zurückgekehrt ist, das Haus stets mehrere Wochen im Jahr, vorwiegend zur Sommerfrische. Der Vater der Familie, Beamter in der Ministerialbürokratie der neuen Republik, pflegt, seinem Traditionsbewusstsein gemäß, gerne über ein kleines Häuschen im Ausseeischen zu verfügen und diesen Umstand auch entsprechend zu zelebrieren. Jedes Jahr zumindest einige Zeit im Sommer, aber gelegentlich auch an Feiertagen. Der Lauf der Jahre und ein stetig steigender Wohlstand degradieren das Haus schließlich zum Sommerhäuschen, aufgrund wachsender Ansprüche und mangels bequemer Ausstattung für kältere Perioden. Die Werkstatt ihres gefallenen Mannes, der gelernter Tischler war, sowie weitere Nebengebäude hatte sie ohnehin seit Kriegsende nicht mehr angerührt. Auch für die Mieter sind sie tabu.

Gelegentlich denkt sie daran, das Haus vielleicht doch zu verkaufen. Aber sie hält die Vermietung für eine zwar vorläufige, aber schließlich doch dauerhafte Lösung.

So bleibt es über alle Jahre. Es sind Jahre, in denen ihr eine gute Anstellung in einer Handelsfirma Sicherheit und Einkommen bietet, ebenso ein Netz an Freundschaften. Jahre, in denen sie zwar Männer kennenlernen, aber keine Ehe mehr eingehen wird. In denen sie ihre Tochter heranwachsen und sie eine Familie gründen sieht, die mit den Enkeln in der Nähe lebt, in einem der Vororte der großen Stadt am Rande einer waldigen Bergkette. Und in denen sie regelmäßig im Ort ihrer Herkunft nach dem Rechten, aber vor allem nach dem Haus sieht und sich als erfolgreiche Emigrantin präsentiert. Als eine, die es dort geschafft hat. Als eine, die es denen zeigt, die sie angefeindet und missachtet haben und es vielleicht auch jetzt noch tun. Als eine, an der trotz Erfolg und Wohlstand Ausgrenzung und Nicht-Dazugehören weiterhin nagen. Als eine, die nicht weiß, warum sie an diesem Haus festhält, es nicht verkaufen, sich nicht von dieser Gegend lösen kann.

Das Innere des Landes

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