Читать книгу Das Innere des Landes - Günther Marchner - Страница 6
Die Nachricht
ОглавлениеAn einem frühen Morgen läuft John durch den Wald, weit nördlich des großen Sees und der Wirtschaftsmetropole. Endlich ist für ihn der Frühsommer ein wenig spürbar, auch hier in dieser Gegend. Gleichzeitig liebt er die Stimmung, die ihn beim Morgenfrost befällt. Er mag stille, gefrorene Landschaften. Wie noch vor einigen Wochen, als sie das erste Mal in diesem Jahr an diesem Platz verbracht hatten. Die Wasserlacken waren vereist, die Wiesen lagen in gefrorenem Weiß, die Bäume, noch dunkle Bäume, bevor sie austrieben, waren an der Oberfläche mit Frostflaum bedeckt. Dann der See, zwar eisfrei, aber im seichten Wasser am Rande des Ufers war er noch mit einer Eiskruste umsäumt.
Es ist still, das Wasser glatt, die Sonne steht noch tief und die ersten Strahlen treffen die Spitzen der hohen Bäume. Vor ihm liegt ein noch kalt erscheinender dunkler Weg, blau, grau, schwarz. Schwarzes Braun.
Johns Hüften schmerzen, sein Atem ist kurz. Er hat sich für zu lange Zeit zu wenig bewegt, zu viel gegessen und zu viel Alkohol getrunken. Er hat zu viel gearbeitet, zu viel Druck verbreitet und sich zu viel unter Druck setzen lassen. Er versucht, einen Rhythmus in seine ungelenk gewordenen Bewegungen zu bringen. Wieder mehr Rhythmus, wieder gleichmäßiger und entspannter, wieder mehr von dem, was ihm und allen anderen guttut. Es fällt ihm schwer, er läuft nur kurze Strecken, dann stoppt er, immer wieder, unregelmäßig. Der Waldboden, obwohl weich und geschmeidig, erscheint ihm wie schweres Gelände.
Er verweilt am Rande des Sees, die Oberfläche ist blitzblank, noch ist nicht die Zeit, in der sich im Wald fette Mücken bemerkbar machen, sobald er stehen bleibt und der Schweiß fließt. Die Sonne blinzelt durch die Bäume, einer Mischung aus Nadeln und Laub, frisch ausgetriebenes helles Grün.
Er denkt daran, wie er dieses andere Leben, das Leben in der Natur, stets herbeisehnt. Wenn er sich eingeengt fühlt an langen Schreibtischtagen, in endlosen Gesprächsterminen, im Stau, stets angemessen statt leger gekleidet, dazwischen sich mit Fast und Convenience Food versorgend, wenn auch von der gehobenen Sorte, eingeklemmt zwischen Terminen. Aber es gibt dieses andere, das wirkliche Leben. Das des Naturmenschen und Selbstversorgers, des Hüttenbauers und Kanupaddlers, des Anglers und Pick-up-Drivers durch ruppiges Gelände. Stets lässt er sich von diesem Lebensgefühl erfassen, wie viele Männer, die sich in ihren Holzfäller-Hemden einen Lebensplatz am Wochenendlagerfeuer gönnen, gelegentlich in einer Endlosschleife aus Grill, Baseball und Eishockey versunken, in Blockhütten, Holzriegeln oder aufgebockten Trailern mit Klimaanlage und Gasheizung. Wenn er seine Runden durch Blueberry-Moore zieht, wenn er das Heck des Pick-ups bis zum Bersten mit Überlebensausrüstung vollräumt, ergänzt durch Einkäufe in einer der äußeren Malls, den letzten Außenposten der Zivilisation auf dem Weg zur Lodge. Wenn er gute Musik von früher genießt, auf dieser in einem langen Stück geradeaus verlaufenden Straße, bevor sich diese entschließt, die Richtung zu ändern, um wiederum für eine lange Weile geradeaus zu verlaufen. Vorbei an schütteren Nadelwäldchen, Moorflächen, unzähligen schwarzen Seen, die zwischen den Bäumen durchschimmern. Bevor dahinter, sehr weit dahinter, der leere Norden beginnt, den er gelegentlich aufsucht. Wie Sibirien, denkt er manchmal, unüberschaubar in dieser erhabenen Endlosigkeit. Wenn er der Zivilisation und dem dichten Leben entflieht und sich in die Freiheit entlässt, mit entsprechender Ausrüstung, um sie zu überleben. Wenn er versucht, sich auf die Fülle an Arbeit zu konzentrieren, die auf ihn wartet, und wenn er beschließt, beschließen muss, Arbeit mitzunehmen in das Wochenende, in den Wald, nicht das erste Mal, nicht das letzte Mal, in diese großzügige Lodge am See, immerhin.
Bis vor ein paar Tagen das Telefon geläutet hatte.
Ob man hier richtig sei bei ihm. Ob er die Mail erhalten habe, die man ihm vor drei Wochen geschickte habe.
Die Mail? Nein! Ja doch. Also Sie sind das? Ja, er war beschäftigt gewesen und hatte noch keine Zeit zu antworten.
Wir dachten uns, wir kontaktieren Sie und fragen noch einmal nach, ob Sie die Nachricht überhaupt erhalten haben. Wir haben vergeblich auf eine Antwort gewartet, so die Stimme mit Akzent.
Er habe keine Ahnung, worum es gehe. Woher sie seine Nummer hätten, hatte er noch unfreundlich zurückgefragt.
Natürlich von den Kontakten zu seinen Eltern. Mit seiner Großmutter hätten sie ohnehin jahrelang zu tun gehabt.
Er versuchte zu begreifen, was ihm gerade mitgeteilt worden war. Er merkte, dass es da etwas gab, was ihn betreffen sollte. Er hatte sich bisher einfach nicht darum gekümmert, es war weit weg.
Wer das war, hatte sie ihm aus dem Wohnzimmer zugerufen, nachdem sie das Telefonat mitbekommen hatte, das anders war als sonst, nichts Vertrautes, Routiniertes, Übliches war zu hören gewesen.
Nichts Besonderes, es gehe um das alte Haus seiner verstorbenen Großmutter, das gehöre jetzt ihm. Er habe es geerbt, sie wisse das ja, oder nicht? Es gebe ein paar Dinge zu klären, hätte man ihm gesagt. Aber er habe noch keine Zeit gehabt, sich um die Angelegenheit zu kümmern, falls es überhaupt etwas gäbe, was er sonst tun sollte, als diese Angelegenheit möglichst schnell loszuwerden, das heißt: zu verkaufen.
Aber da hatte sie ihm schon gar nicht mehr zugehört.
Seine Gedanken daran versucht er während seiner Laufrunde um den See abzuschütteln. Das Haus sei sanierungs- und reparaturbedürftig, hatte es geheißen. Der Anruf war von jener Agentur gekommen, die die Betreuung dieses Hauses innehatte, auf gutwilliger Basis, wie ihm gesagt wurde, schon seit sehr vielen Jahren. Oder war es ein Nachbar? Er brachte alles durcheinander. Auf alle Fälle sei etwas zu klären oder zu tun, war ihm mitgeteilt worden. Die Mieter seien vor drei Jahren ausgezogen, das Haus stehe leer, ungenutzt.
Was er denn nun damit machen wolle?
Damit? Womit?
Mit dem Haus natürlich.
Er weiß es nicht. Er weiß erst seit kurzer Zeit, dass er überhaupt über ein Haus verfügt.
Es sei einiges zu reparieren und vor allem zu regeln.
Zu regeln? Könne das Haus nicht einfach verkauft werden? Er habe ja damit nie etwas zu tun gehabt und auch keinerlei Interesse daran. Könnten nicht Sie das für mich übernehmen?
Man könne das schon für ihn machen, aber das kostet und man müsse eine Vereinbarung treffen. Und irgendwie müsse man wegen einiger Dinge ständig rückfragen. Das scheint einfach zu kompliziert zu sein. Es gehe doch um einiges, und dann diese Entfernung. Spielt das für Sie keine Rolle?
John weiß nicht, was er sagen soll, weil er nicht weiß, was hier welche Rolle spielen soll.
Es scheint komplizierter zu sein, als er bisher dachte, und es erscheint auch so, dass die Sache aus der Ferne nicht zu regeln ist. Zumindest nicht zufriedenstellend, so der Agenturmitarbeiter am Telefon. Er rate John, sich die Sache selbst anzusehen, sich ein Bild zu machen. Vielleicht könnte er einige Tage in die Gegend investieren, um die Angelegenheit vernünftig zu lösen.
Dann hatte John seine Sachen fürs Wochenende gepackt. Seine Unterlagen hatte er in den alten Koffer mit den vielen Fächern gegeben, ebenso den Computer. Er hatte noch überlegt, ob er erst am nächsten Tag morgens fahren sollte, sich jedoch besonnen und alles ins Auto geräumt.
Ob sie mitfahre, hörte er sich fragen. Aber es schien ihm ohnehin sinnlos.
Sie blickte zu ihm.
Nein! Wie er ohnehin wisse, habe sie schon was anderes vor.
Das weiß er eben nicht.
Es sei besser, sie halten Abstand zueinander, meinte sie. Sie sei durcheinander, sie habe das Gefühl für ihn verloren, füreinander.
Er kannte diesen Satz, diese Botschaft, seit einiger Zeit, seit den letzten Monaten. Auf dieser Ebene verkehrten sie inzwischen. Distanziert beurteilten sie ihre Beziehung, ihre Frustration, ihre Sackgasse.
Was sie denn vorhabe, wollte John wissen.
Sie fuhr ihn an. Kontrollierst du mich? Sie werde den gemeinsamen Sohn besuchen, er sei mit seiner Freundin zusammengezogen, vor Kurzem.
Er wisse darüber Bescheid, antwortete er ihr reflexartig und geflissentlich, er habe ja mit ihm gestern telefoniert. Er wollte eigentlich, dass er mit zur Lodge fährt. Aber er habe Prüfungen, auf die er sich vorbereiten müsse, so der Sohn. Durch den Umzug habe er Zeit verloren, er müsse sich konzentrieren. Er fehlt mir, sagte John abschließend. Er dachte daran, wie sich ihr Sohn vor ein paar Monaten zurückgezogen hatte, als sie beide vergeblich versucht hatten, ihn jeweils auf ihre Seite zu ziehen, ihn jeweils für sich zu gewinnen. Doch er spielte nicht mit.
Werdet erwachsen, sagte ein 22-Jähriger zu seinen Eltern.
Und nun fährst du zu ihm?
Er bemerkte das irritiert und eifersüchtig.
Aber da war sie schon weg.
Es musste sich zwingen, Schritt für Schritt ein Ding nach dem anderen zu tun, sich nicht fallen zu lassen. Aber warum eigentlich nicht? Warum sich nicht einfach der Verzweiflung hingeben und einfach gehen lassen?
Danach hatte ihn ein Schwall an Einsamkeit und ein verzweifeltes Beharren auf ein entspanntes Wochenende befallen. Als er sich durch den frühabendlichen Verkehr gekämpft hatte, hinaus in den Wald, in die Natur. Als er sich im Haus am See eingenistet, ein Bier geöffnet und versucht hatte, auf dem Sofa entspannt die Unterlagen zu sichten, die er in den folgenden Tagen in Ergebnisse verwandeln sollte. Als er gemerkt hatte, dass er dazu nicht in der Lage war. Als er den Computer eingeschaltet und begonnen hatte, gedankenlos herumzusurfen, auf der Suche nach Neuigkeiten auf den üblichen Filmportalen, um sich im Wald auf der Couch zu zerstreuen.
Beim Laufen kann er seine Gedanken in Fluss bringen. Aber er soll nicht immer nur denken, nicht so viel. Aber nun geht ihm die Sache wieder durch den Kopf, um die er sich kümmern sollte. Dieses Haus, quasi über Nacht geerbt. Und sofort kostet es Geld, so wie es aussieht. Als er noch einmal genauer nachgefragt hatte, teilte ihm der Agenturmitarbeiter mit, dass die langjährigen Mieter ausgestiegen seien, dass kein Geld mehr hereinkomme. Einerseits sei das Haus in diesem Zustand kaum mehr zu vermieten, so dessen Einschätzung. Andererseits wäre da auch noch eine Kleinigkeit. Ein alter Streit sei offensichtlich wieder aufgeflammt, wovon sie gar nichts gewusst hätten. Verwandte seien aufgetaucht, sie würden Anteile beanspruchen, falls das Haus verkauft werde. Die seien zwar nicht im Grundbuch verankert. Aber das müsse trotzdem geklärt werden. Die laufenden Kosten konnten bisher über die Vermietung hereingebracht werden. Aber nun müssten sie verrechnet werden, das müsse geregelt werden, darum müsse man sich eben kümmern, das heißt: Er, der neue Eigentümer, müsse das tun.
Nun läuft er eine andere Strecke als die vielen sonstigen Male. Er biegt rechts ab, entfernt sich vom See und läuft in den Wald hinein.
Was tun?
Einfach verkaufen, warum geht das nicht?
Das Problem sei, so der Agenturmitarbeiter, dass die Verwandten – Kennen sie die gar nicht? – einen Rechtsanwalt beauftragt hätten, sich mit der Sache zu befassen, soviel er gehört habe. Es wundere ihn, dass sich dieser bei ihm noch nicht gemeldet habe. Aber sie wussten nach dem Tod der Großmutter wahrscheinlich gar nicht, mit wem sie wie in Kontakt treten sollten. Sie behaupten, ihnen stünde ein Erbteil zu. Das müsse geklärt werden.
Ob er auch einen Rechtsanwalt beauftragen solle?
Das könne er nicht sagen, es liege ihm fern und er fühle sich dazu auch nicht in der Lage, ihm Empfehlungen zu machen, außer, dass er sich darum kümmern sollte. Es werde ihm nicht viel anderes übrig bleiben, als sich direkt ein Bild zu machen, sich der Sache anzunehmen, sich vielleicht mit den unbekannten Verwandten an einen Tisch zu setzen, wenn das gehe.
Nach einer Weile findet John einen Rhythmus, seine Gedanken verlieren sich zwischen Blättern, Sonnenstrahlen und Bäumen. Er läuft und er lässt es laufen, bis zur kleinen Lichtung mit einer Hütte. Er verlangsamt das Tempo, dann bleibt er stehen, an dieser Stelle, wo sich der Weg gabelt, wo eine Forstschneise schnurgerade vorbeiläuft, wo diese schäbige Hütte mit teilweise zugenagelten Fenstern steht. Einige davon erlauben Einblicke, obwohl fast schwarz vor Staub auf der Innenseite. Er drückt sein Gesicht an eine Scheibe und versucht, irgendetwas zu erkennen. Nur schemenhaft sieht er Umrisse, einen umgestürzten Stuhl, eine offene Innentür, leere Regale, einen Tisch, Dreck auf dem Boden, er nimmt einen modrigen Geruch wahr, der ihm sogar auf der Außenseite noch in die Nase fährt. Er erinnert sich, wie ihm ein Freund einmal von dieser Hütte erzählt hatte. Früher waren sie gelegentlich daran vorbeigelaufen und ihn überkam stets ein unheimliches Gefühl. Er habe Geschichten darüber gehört, so sein Freund, über Leute, die sich hierher zurückzogen hatten und langsam dem Wahnsinn der Einsamkeit und einer isolierten Beziehung verfallen waren, bis es Tote gab.
Du schaust zu viele Filme an, hatte John ihm damals ausgerichtet.
Ein merkwürdiger Schauer erfasst ihn. Er umschleicht die Hütte. Wer möchte schon mit derartigen Dingen zu tun haben? Dann läuft er ein Stück den unbekannten Weg weiter, der jedoch ins Nichts führt. Dann kehrt er um, kommt wieder an der Hütte vorbei und in Richtung See und Licht zurück.
Er denkt an das ihm unbekannte Haus seiner Großmutter, einer fahrigen alten Dame, die mit scheinbarer Wehmut vor sich hinlebte. Ihre Distanziertheit allen gegenüber hatte er Zeit ihres Lebens nie verstanden. Er verstand sie auch im Nachhinein nicht. In seiner Kindheit und Jugend, auch später, war ihm ihre Haltung nicht als etwas Besonderes erschienen, sondern einfach als ihr persönlicher Charakter. Menschen sind halt so, dachte er immer, auch seine Großmutter. Aber wie denn genau und warum? Darüber hatte er sich nie Gedanken gemacht, er hatte nie Interesse daran gezeigt, es erscheint ihm nun merkwürdig, dass sie ihm in dieser Situation einfällt.
Nach der Seeumrundung denkt er auf dem Sofa nach und trinkt Bier. Eine Entscheidung beginnt in ihm zu reifen.
Ich muss weg. Ich muss da hin.
Er ruft seinen Partner an, zunächst vergeblich, er spricht auf seinen Anrufbeantworter, später am Abend ruft ihn dieser zurück. John erläutert ihm die Sache, er bittet ihn, vorläufig die Leitung seiner Projekte zu übernehmen, es laufe ohnehin alles gut. Er habe viel vorbereitet und vorgearbeitet. Er werde in der nächsten Woche noch alle laufenden Arbeiten abschließen, aber er müsse wegfahren für rund zwei Wochen und etwas regeln.
Du brauchst eine Auszeit, oder? Du bist unkonzentriert und überbelastet. Ich verstehe das, ich merke das. Dir geht es nicht gut, also tu das bitte, wir bringen das schon hin.
John erzählt ihm vom geerbten Haus, aber es sei doch mehr als das. Er müsse einfach wegfahren, er müsse raus, ein wenig flüchten aus seiner Situation, nachdenken.
Warum?
Sie haben Probleme, er und seine Frau, miteinander. Das belaste ihn und nun gibt es auch noch diese Angelegenheit mit der Erbschaft. Er müsse das in Ordnung bringen, bevor es Geld kostet, so wie sich das anhört. Am besten, er fährt hin, das schafft Abstand, genau das, was er brauche.
Sein Partner sichert ihm zu, er werde ein paar Leute organisieren und ein paar Termine nach hinten schieben, dafür solle er sich um seine Dinge kümmern. Vielleicht tue ihm das gut, einmal aus allem auszusteigen. Und was er von seiner Großmutter wisse?
Er habe mit ihr Zeit ihres Lebens kaum über das Haus und diesen Ort gesprochen.
Warum nicht?
Ich bin nicht auf die Idee gekommen. Und sie hat nicht gerne darüber geredet. Aber mehrere Male war sie dort.
Warum sie das Haus nicht verkauft habe?
Ich weiß es nicht, sie hat es Freunden, einer damals jungen Familie, langfristig zur Miete überlassen, erzählte mir die Mutter einmal. Aber das ist sehr lange her. Alle paar Jahre habe sie nach dem Rechten gesehen, alte Kontakte geknüpft. Dann ist sie gestorben, sie war zwar schon sehr alt, aber es kam doch überraschend. Meine Eltern hat das Haus nicht interessiert, die Mutter hat davon gesprochen, dieses Haus so rasch wie möglich zu verkaufen, aber sie kam nicht mehr dazu. Du weißt, der Unfall. Vor zwei Jahren ist meine Großmutter verstorben, meine Eltern vor einem Jahr, und nun bin ich dran, mich darum zu kümmern.
Es ist das erste Mal, dass er ein Wochenende allein in der komfortablen Lodge verbringt. Bisher waren sie stets gemeinsam an diesem Platz gewesen, oft mit befreundeten Familien, mit gemeinsamen Einkäufen für das Wochenende, mit Schachteln voller Dosenbier und was sonst noch alles an Freizeit-, Wochenend- und Outdoor-Material hineinpasst in einen Van oder und in einen umgebauten Pick-up. Mit Fischen, Kanufahren, Grillen und all den anderen Dingen, die hier alle tun. Vor vielen Jahren hatten sie mit Freunden gemeinsam die Gelegenheit genutzt, die Lodge zu erwerben und zu adaptieren, heute beinahe unbezahlbar.
Ich kann das nicht, nicht mehr. Wir müssen klären, wie es mit uns weitergeht, sagte sie, nicht zum ersten Mal.
Sie hatte sich von ihm distanziert, immer mehr. Lange war es ihm nicht aufgefallen. Die Unzufriedenheit. In der Geschäftigkeit seines Berufes, in den Wochenenden mit Arbeit, in den abendlichen Überstunden, in ihren immer unterschiedlicheren Interessen. In Phasen, wo sie ihn gebraucht hätte und auf ihn gewartet hatte und er nicht da war, obwohl es möglich gewesen wäre.
Du hast nie Zeit. Du kümmerst dich nicht um mich! Was tun wir schon gemeinsam? Wir reden ja kaum mehr. Du bist immer auf der Flucht. Flüchtest du vor mir? Wo ist deine Fürsorglichkeit, deine Zärtlichkeit, deine Aufmerksamkeit von früher?
Es beginnt eine Zeit, in der ihm zunehmend ihre Gemeinsamkeit und ihre Vertrautheit verloren gehen. Als sie beginnt, in Kurse zu gehen. Als sich daraus eine Freundesgruppe bildet, mit der sie unterwegs ist, immer regelmäßiger und häufiger. Bis sie ihm eröffnet, klar und direkt, dass ihre Beziehung und ihr Zusammenleben nicht selbstverständlich seien, nicht mehr. Dass sie es infrage stelle.
Zuerst nimmt er das nicht ernst.
Du bist übersteuert! Was hast du? Du hast eine schlechte Phase, lass uns doch einmal gemeinsam mehr Zeit nehmen.
So sein Versuch, ihre Aussagen abzuwehren, sich einzureden, dass es weniger an ihrer Beziehung, sondern nur an ihrer persönlichen Tagesverfassung und Befindlichkeit liege. Aber schon, als ihm diese Dinge quasi aus dem Mund fallen, hätte er sie lieber gar nicht ausgesprochen.
Sie reagiert heftig.
Es ist doch grundsätzlicher. Du weißt es. Was redest du da? Um dich zu beruhigen? Nur ein Kratzer? Nichts Ernstes? Es ist tiefer und ernster. Ich spüre dich nicht mehr, manchmal ertrage ich dich nicht mehr. Auch müsse sie ihm mitteilen, dass sie einen anderen Mann kennengelernt habe, der vieles davon mitbringe, was sie an ihm inzwischen vermisse.
Als er sie eines Abends anblickt. Als sie ihn anblickt. Als er merkt, dass etwas passiert, etwas Entscheidendes, dass nun etwas anders ist. Als ihm ein Schrecken durch die Glieder fährt und ihn erstarren lässt. Als er versucht zu reden, zu argumentieren. Als er versucht, Druck auf sie auszuüben, obwohl er weiß, wie widersinnig das ist, dass es nicht ums Überreden geht, nicht mehr, er fühlt es. Bis ihn ein Gefühl unendlicher Einsamkeit überkommt, wie er es noch nicht gekannt hat.
Es lähmt ihn, auch jetzt an diesem Wochenende, das er nun alleine verbringt, alleine verbringen muss. Er hatte sich gezwungen, laufen zu gehen, einen Rhythmus zu finden.
Aber nun? Allein im sinnlos erscheinenden gemeinsamen Wochenendparadies? Er kann es sich nicht vorstellen, ohne sie in diesem Haus, an diesem Platz, den sie sich stets so gewünscht hatte, wo sie oft glücklich gewesen waren. Sie will nicht mehr. Er wird verlassen werden, so fürchtet er, und er kann und will es nicht begreifen.
Nur diese stille und noch halbgefrorene Natur beruhigt ihn, gibt ihm ein Gefühl des Trosts, den Hauch einer Geborgenheit, er fühlt sich nicht mehr allein und verlassen. Er hat einiges erreicht, er hat eine Familie, noch. Ein Haus, ein bisschen Vermögen, einen Platz am See, eine kleine Agentur mit einem Partner. Er erzählt und verkauft Geschichten oder er hilft, diese zu verkaufen. Er ist müde, er fühlt sich ausgelaugt, Routine plagt ihn. Obwohl er alles hat, was er offensichtlich zum Leben braucht, reicht es nicht.
Hier in der Lodge, ohne Wochenend- und Familienroutine, ohne Männerfreundschaften und Familiengeplauder. Ohne Gespräche über Menschen, die es geschafft haben, oder über jene, die es nicht mehr schaffen, deren Leistungsbereitschaft nachgibt, die sich zurückziehen, ihre Jobs verlieren, sich verschulden, nicht mehr mitgehen und nicht mehr mitkommen. Nun sitzt er allein da und Zweifel ziehen auf wie der Bodennebel im Herbst.
Am nächsten Morgen bereitet John ein Solo-Frühstück vor, vom Fenster aus sieht er zwischen den Birken hindurch den See glitzern. Dann setzt er sich an den Computer und sucht Flüge nach Europa.