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Pfarrer Rebler strahlte Martin und Veronika voller Freude an. Er mochte es immer gerne, wenn er verliebte Paare, die bald einen neuen gemeinsamen Lebensabschnitt beginnen wollten, begleiten durfte. In seiner langen Tätigkeit als Pfarrer in der Gemeinde Peter und Paul in Bruchsal hatte er unzählige Paare getraut. Viele Paare waren aktive Gemeindemitglieder und er war stolz darauf, dass diese Beziehungen, im Gegensatz zum allgemeinen Trend, immer noch glücklich waren. Er liebte Trauungen. Junge, verliebte Paare, die idealisiert und ohne Furcht der gemeinsamen Zukunft entgegensahen. Veronika hörte gespannt zu, als Pfarrer Rebler ansetzte, um eine lange Geschichte über seine erste Trauung zu erzählen, damals, als er noch Diakon in einer kleinen Gemeinde bei Freiburg gewesen war. Mit diesem Paar, so sagte er, verknüpfe er ein erhabenes und wohliges Gefühl, im christlichen Sinne Einfluss nehmen zu können. Annemarie und Hans-Jürgen, beide damals Anfang zwanzig, waren sehr engagiert als Lektoren, Kommunionshelfer und als Vorstände im Gemeinderat. Ihre christliche Erziehung fruchtete wunderbar: Ihre drei Kinder, allesamt Ministranten, nahmen im weitesten Sinne christliche Berufe an: als Religionslehrer, Kindergärtner und Grundschullehrer. Im Kreise der Familie war Pfarrer Rebler auch heute noch regelmäßig dort eingeladen. Er meinte, dass das erste Mal, die erste Trauung, immer etwas Besonderes wäre und man diese Erfahrung niemals vergessen würde.

Martins Gedanken schweiften ab. Er nahm Veronikas Hand und hielt einen Augenblick inne. Es waren nun schon acht Jahre, die er und Veronika zusammen waren. Vor acht Jahren hatte er sie in der Schubertstraße in Karlsruhe kennen gelernt, als er das Haus der Breidenfalls verließ und sie plötzlich im Garten vor ihm stand. Mit dem schönen, schulterlangen, wallenden Haar und ihren tiefblauen Augen strahlte sie ihn an. Es kam Martin vor, als sei es erst gestern gewesen, als er in diese Augen geblickt hatte und noch heute konnte er sich an jenen Moment entsinnen, als er dachte, dass dies die Frau für ihn war. Es war Veronika zu verdanken, dass sie sich ein paar Tage später tatsächlich kennen lernten, denn sie sorgte dafür, dass er als Fotograf im Hause Breidenfall eingestellt wurde, um eine geplante Hochzeit zu fotografieren. Die Umstände waren aber schlimm gewesen damals, denn es hatten sich zwei Morde ereignet und die Familie stand unter Verdacht. Es war fast schon ein Wunder, dass Raum blieb für das junge Paar, sich in einander zu verlieben. Und nachdem die Morde aufgeklärt waren, nicht zuletzt durch Martins Mithilfe, stand dem Kennenlernen nichts mehr im Weg. Nach vier Jahren gemeinsam verbrachter Zeit entschieden sie sich zusammen zu ziehen. Und da die Mieten in Karlsruhe sehr hoch waren und Martin Freunde in Bruchsal hatte, einer kleinen Stadt unmittelbar in der Nähe Karlsruhes, erweiterten sie ihren Suchradius und fanden dort tatsächlich eine schöne Wohnung. Aufregend und spannend, manchmal unfassbar traurig waren die Erlebnisse, die beide zusammenwachsen ließen. Nicht nur die Mordgeschichten, in die beide involviert wurden und die beide gemeinsam lösen konnten, sondern auch der Verlust von Angehörigen und Freunden schmiedete beide noch enger zusammen. Martin musste schmunzeln, als er an den verkaufsoffenen Sonntag dachte, auf dem Marktplatz in Bruchsal, als Veronika plötzlich aus heiterem Himmel einen Lachanfall bekam und alle Blicke auf sich zog. Sie bog sich vor Lachen und prustete laut heraus. Es war ihm fast nicht möglich gewesen, sie zu beruhigen. Sie konnte später selbst kaum erzählen, was sie so lustig fand. Komisch, dass er sich gerade daran erinnerte? Es war die Unberechenbarkeit, die Lebensfreude, die Kraft, die ihn an Veronika faszinierte. Es war niemals langweilig mit ihr, irgendetwas passierte immer, so wie damals, als sie urplötzlich die Wohnung umgestaltete. Mit Farbe und Tapeten und einem vollkommen anderen Einrichtungskonzept wartete sie auf und meinte, dass ihr der alte Trott auf die Nerven ginge.

Martin streichelte ihre Hand und erinnerte sich an seinen Heiratsantrag. Besonders romantisch war er nicht gewesen. Sie waren gerade in einem Supermarkt einkaufen, als Veronika ihn so rührend fragte, was sie am Abend für ihn kochen solle. Da kam es ihm über die Lippen und er fragte, ob sie ihn heiraten wolle. Sie überlegte nicht einen Moment, sondern sagte sofort: „Ja“. Sie nickte und bestätigte mit einem zweiten bestimmten: „Ja“. Mehr sagte sie nicht dazu und beide verrichteten weiter ihre Einkäufe. Die warmen Erinnerungen an die gemeinsam verbrachte Zeit wurden durch eine Frage von Pfarrer Rebler unterbrochen:

„Nun, wenn ich so neugierig sein darf, wann und wie haben Sie beide sich kennen gelernt?“

Veronika schaute Martin lächelnd an und erzählte daraufhin ausführlich ihre Kennenlerngeschichte. Hin und wieder nickte Pfarrer Rebler, manchmal stellte er auch Nachfragen, besonders, als es um Einzelheiten der Mordgeschichte ging. Er bemerkte, dass die Beziehung wohl schon eine lange Zeit andauerte und zusammengewachsen war und den Grundstock für eine glückliche und lebenslange Ehe bildete.

Anschließend ging er auf die christlichen Grundwerte und auf die Grundfesten der katholischen Kirche ein. Besonders die Treue war ihm ein wichtiges Anliegen. Eine Ehe würde nur dann lebenslang Bestand haben, wenn die Sexualität exklusiv den Ehepartnern vorbehalten bliebe. Von anderen, offeneren Konzepten hielt er nichts.

Als die Sprache auf Kinder kam, die Martin und Veronika in jedem Fall haben wollten, empfahl Pfarrer Rebler, diese ebenso im christlichen Sinne zu erziehen. Martin warf Veronika einen vielsagenden Blick zu. Sie wusste, dass Martin im Grunde nicht wirklich an die Kirche glaubte und dass die stark konservativen Werte und Lebensmuster nicht alle unbedingt den seinen entsprachen. Trotzdem nickte er Pfarrer Rebler hin und wieder zu und dachte sich im Stillen seinen Teil.

Nachdem diese inhaltlich wichtigen Themen besprochen waren, wandte sich Pfarrer Rebler dem Organisatorischen zu. Der Ablauf des Traugottesdienstes, der an einem Samstagnachmittag stattfinden sollte, wurde besprochen, die Auswahl der Lieder und die Texte der Lesung und der Fürbitten.

Am Ende des Traugespräches stand Pfarrer Rebler auf und holte seine in einem Bücherregal stehende Bibel zu sich. Er suchte einen bestimmten Vers, den er den beiden auf den Weg mitgeben wollte.

„Ah ja“, sagte er, „hier ist es: Prediger 4, Vers 9 bis 12.“ Er begann, Martin und Veronika vorzulesen: „So ist’s ja besser zu zweien als allein; denn sie haben guten Lohn für ihre Mühe. Fällt einer von ihnen, so hilft ihm sein Gesell auf. Weh dem, der allein ist, wenn er fällt! Dann ist kein anderer da, der ihm aufhilft. Auch, wenn zwei beieinander liegen, wärmen sie sich; wie kann ein Einzelner warm werden? Einer mag überwältigt werden, aber zwei können widerstehen, und eine dreifache Schnur reißt nicht leicht entzwei.“

Er nickte sanft, nachdem er die Bibel wieder zugeschlagen hatte. Veronika stand auf und bedankte sich für das offene Gespräch. Auch Martin erhob sich und gab Pfarrer Rebler die Hand. Nachdem die Tür des Pfarrhauses sich schloss und der Pfarrer verschwunden war, beugte sich Martin etwas nach vorne und atmete tief durch. Veronika legte ihre Hände auf die Hüften und schaute ihn fragend an: „Jetzt komm, Martin. Ich fand den Pfarrer sehr sympathisch. Und er war sehr engagiert und interessiert, das musst du zugeben.“

„Ja, das stimmt schon.“ Martin richtete sich wieder auf. „Er war sehr nett. Und es wird bestimmt eine wunderbare Hochzeit.“

„Aber?“

„Ich finde die Grundwerte des Glaubens auch richtig und gut. Nächstenliebe, Aufrichtigkeit, Gemeinschaft, Hoffnung und Liebe, nur um einige Grundfesten zu nennen, sind richtig und gut. Da will ich nichts sagen. Ich mag nur nicht richtig diese Institution, das, was die Kirche daraus macht. Für mich stimmt da etwas nicht. Es gibt oft eine Kluft zwischen Glaube und Kirche.“

„Das mag sein. Vielleicht ist nicht alles gut oder richtig. Aber es steht und fällt mit den Menschen, die die Kirche gestalten. An der Basis sind oft wunderbare Menschen, die vielen Gläubigen Halt und Hoffnung geben und gute Arbeit leisten. Denk an die gute Jugendarbeit. Vielen Jugendlichen gibt sie Orientierung.“

Martin konnte darauf nichts sagen. Er nickte und gab einen zustimmenden Laut von sich. Seine Familie war auch christlich geprägt. Mindestens an den Hochfesten ging man in die Kirche. Nur hatte er sich im Laufe der Zeit distanziert. Eigentlich war er sehr irritiert und er wusste nicht recht, woran er glauben sollte oder woran nicht. Das, was er über die Institution Kirche gehört und gelesen hatte, gefiel ihm jedenfalls nicht und weiter wollte er mit Veronika jetzt nicht über dieses Thema sprechen.

Veronika wollte unbedingt kirchlich heiraten, das war ein Muss für sie. Und auch ihm gefiel die Vorstellung, bei einer feierlichen Zeremonie als Paar verbunden zu werden. „Komm mit“, sagte Martin plötzlich begeistert und nahm Veronika an der Hand. Er führte sie zum Haupteingang der Peterskirche. „Lass uns schauen, ob die Kirche offen ist.“ Er versuchte die schwere Holztüre zu öffnen. Glücklicherweise war sie nicht verschlossen.

„Was möchtest du jetzt am Abend in der Kirche tun? Vielleicht ist gleich Gottesdienst.“

„Nein, die Kirche ist leer. Komm, wir proben unsere Heirat.“ Martin strahlte übers ganze Gesicht.

„Du bist verrückt!“

„Nein, komm. Stell dir folgendes vor!“ Martin wirkte jetzt wie ein Magier, der mit gehobenen Arm eine neue Szenerie erschuf und Veronika einlud, ihm zu folgen. „Es ist Samstagnachmittag, die Kirche ist voll mit Verwandten und Freunden und anderen Gästen. Du hast ein wunderschönes, bodenlanges Kleid an, blütenweiß mit einer langen Schleppe. Der Brautstrauß duftet süßlich und an deiner Seite steht dein Traummann. Der Mann, den du immer schon haben wolltest!“

„Na, aber … “, warf Veronika ein, doch sie konnte nichts weiter sagen, denn Martin ließ sie nicht zu Wort kommen.

„Gleich wird es losgehen. Gleich beginnt die Orgel zu spielen und eine engelsgleiche Stimme singt das `Ave Maria´ von Schubert. Es ist so weit. Unser Einsatz. Wir schreiten gemeinsam vor zum Altar, vorbei an den vielen gerührten und weinenden Menschen.“ Er nahm Veronika an der Hand und führte sie den Mittelgang entlang vor zum Altarraum. „Die Stimme verstummt. Pfarrer Rebler beginnt seine überschwängliche Rede und ehe wir uns versehen, werden wir die Ringe tauschen und uns ewige Liebe und Treue schwören.“ Er nahm ihre rechte Hand, steckte ihr pantomimisch einen Ring an und küsste sie. Dann verstellte er seine Stimme und mimte den Pfarrer: „Möchten Sie, Herr Martin Fennberg, Veronika Schönlein zu ihrer angetrauten Ehefrau nehmen, so antworten sie klar und deutlich mit: Ja.“ Dann kniete er sich vor sie hin und wiederholte mit seiner eigenen Stimme flüsternd: „Ja, ich will.“

Veronika schüttelte lachend den Kopf und sagte nur: „Oh, du verrückter Mann! Du bist ja wahnsinnig!“

In diesem Moment öffnete sich die Eingangstüre. Martin und Veronika brachen sofort ihr Spiel ab und setzten sich verschämt in die erste Reihe. Es trat eine Frau ein, die schwarz gekleidet war und ein Kopftuch auf hatte. Sie ging gebeugt und andächtig nach vorne rechts neben den Altar, wo ein Kerzenständer aufgebaut war, auf dem bereits einige Kerzen brannten. Martin und Veronika beobachteten sie. Die Frau warf Geld in ein Kästchen und anschließend zündete sie zwei Kerzen an. Als die beiden Kerzen brannten, kniete sie sich hin und senkte den Kopf.

„Was tut sie?“, flüsterte Martin.

„Sie betet für die Toten. Die Gläubigen zünden ein Licht an, um der Toten zu gedenken.“

Martin nickte und beobachtete die Frau weiter. Nach ein paar Minuten machte sie das Kreuzzeichen, drehte sich wieder um und verschwand.

Martin stand auf und wiederholte nochmals seinen Trauschwur, doch Veronika winkte ab und meinte, dass sie lieber auf die richtige Hochzeit warten wolle. „Lass uns gehen“, sagte sie und lächelte den noch immer knieenden Martin an.

Gerade als die beiden gehen wollten, öffnete sich die Eingangstüre und Pfarrer Rebler kam mit einem Stapel Gotteslobbücher herein, die er in ein dafür vorgesehenes Behältnis legte. Als er aufblickte und Martin und Veronika sah, lächelte er überrascht. Veronika erklärte ihm, dass sie sich noch einmal die Kirche anschauen wollten und sich über Blumenschmuck und dergleichen Gedanken gemacht hatten. Sie wollte auf keinen Fall vom wahren Grund des Kirchenbesuchs erzählen. Das schien ihr etwas peinlich. Martin pflichtete ihren Worten bei.

Pfarrer Rebler sagte: „Das ist aber schön, dass ich Sie hier wiedersehe. Meine Haushälterin richtet gerade das Abendessen und wenn Sie nichts vorhaben, dann sind Sie herzlich zum Essen eingeladen. Was meinen Sie?“

Veronika schaute Martin an und sah wohl in seinen Augen, dass er wenig Lust dazu hatte. Trotzdem nahm sie die Einladung dankend an und sie wusste, dass sich Martin bestimmt ihrem Wunsch fügen würde. Das tat er auch und bestätigte: „Sehr gerne.“

Die drei gingen hinüber zum Pfarrhaus. In der Eingangshalle duftete es nach frisch gebackenem Brot. Nachdem Pfarrer Rebler mit seiner Haushälterin die Änderung besprochen hatte, führte er Martin und Veronika ins Esszimmer. Dieses war groß mit dunkel gehaltenen Bildern an der Wand und einer eher nüchternen Einrichtung. Veronika wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Es herrschte eine höfliche Ruhe. Nachdem die Haushälterin das Vesper auf dem Tisch angerichtet hatte, lud Pfarrer Rebler ein: „Bitte, bedienen Sie sich. Es ist reichlich vorhanden.“

Martin nahm sich eine Scheibe Brot mit Lachs und Meerrettich, dazu ein paar Radieschen.

Pfarrer Rebler bekräftigte nochmals, wie schön er es fand, verliebte Paare zu sehen, die den Bund der Ehe eingehen wollten. Liebe sei das kräftigste Band, das es gäbe, befand er. Er kannte nichts Stärkeres und Schöneres.

Veronika fühlte sich zunehmend wohler. Die anfängliche Schüchternheit war verflogen. Sie fragte den Pfarrer, wie er denn in jungen Jahren zu seinem Beruf gekommen war. Ob es eine Kopfentscheidung gewesen war oder Berufung? Dankend nahm Pfarrer Rebler den Impuls auf und berichtete ausführlich von seiner Kindheit und seinen Eltern. Die Eltern waren Bauern gewesen und hatten eine große Landwirtschaft und einige Nutztiere. Er wuchs in Mitten von Kühen, Schweinen und Hühnern auf. Sehr naturverbunden waren sie. Er war froh, in der damaligen Zeit aufgewachsen zu sein, denn die heutige Kindheit mit den vielen modernen elektronischen Geräten konnte er nicht recht verstehen. Als er neun Jahre alt war, verstarb seine Mutter an Krebs. Das war für ihn eine einschneidende und richtungsweisende Erfahrung. Er haderte als kleiner Junge mit Gott. Warum hatte er ihm seine Mutter weggenommen? Wie grausam konnte er nur gewesen sein? Er kam zu keiner Lösung, außer, dass Gott wohl Größeres mit ihr vorhatte. Er nahm sie willentlich zu sich, damit sie bei ihm ein schöneres und größeres Leben hatte. Das gab ihm Glaube und Hoffnung. Bereits damals als kleiner Junge hatte er den Entschluss gefasst, Gott dienen zu wollen. Seine tote Mutter bestärkte ihn als Patin. So entschloss er sich, Theologie zu studieren und den lebenslangen Bund mit Gott einzugehen. Und es war die richtige Entscheidung, befand Pfarrer Rebler. Er hatte wunderbare Jahre verbracht und vielen anderen Menschen Glaube, Hoffnung und Trost gegeben.

Veronika wollte wissen, welche Aspekte seines Berufs, oder besser gesagt seiner Berufung die schönsten waren.

Natürlich waren es die Hochzeiten und die Taufen, die ihm am angenehmsten waren. Junges Glück und neues Leben zu segnen, das waren seine befriedigendsten Aufgaben. Dafür lohnte es sich, diesen Weg gegangen zu sein. Dann wurde er nachdenklicher und er sagte langsam: „Angehörige zu beerdigen und den Trauernden Trost zu spenden, das ist nicht immer leicht. Menschen zu begleiten, die gerade einen ihrer Liebsten verloren haben, ist eine große und wichtige Aufgabe, die nicht spurlos an einem vorübergeht. Sehen sie, erst heute Vormittag hatte ich ein recht trauriges Erlebnis, das ich so noch nie zuvor erfahren habe.“

Veronika bekräftige ihn, von diesem Erlebnis zu berichten. Er hob die Augen und begann: „Heute Mittag wurde ein Mann beerdigt. Er war Mitte fünfzig. So jung!“ Er schüttelte den Kopf. „Das ist kein Alter, in dem man sterben sollte. Und der Arme kam zu Tode, als er zu Hause in seiner Wohnung am Fenster stand und eine Zigarette rauchte. Gott weiß, warum er das Gleichgewicht verlor und aus dem Fenster fiel. Er musste etwas erblickt und sich weit nach vorne gebeugt haben. Passanten haben ihn dann im Garten liegend gefunden. Schrecklich, so plötzlich aus dem Leben gerissen zu werden.“

Martin sah Veronika interessiert an.

„Aber das Unglaubliche heute Mittag bei der Beerdigung war“, Pfarrer Rebler beugte sich nach vorne, „dass bei der Beerdigung nur eine Person anwesend war, die Abschied nehmen wollte. Nur eine Person! Diese kümmerte sich um alles.“ Er schüttelte resigniert den Kopf. „Ich frage mich immer wieder, wie der Mann gelebt haben musste, dass ihn niemand auf dem letzten Weg begleiten wollte. Ich meine, man hinterlässt doch Spuren in seinem Leben. Man hat Familie, Freunde und Bekannte?“

„Das ist allerdings seltsam“, warf Martin ein. „Das muss sehr ernüchternd für Sie gewesen sein.“

„Ja, das war es auch. Sehen Sie, das sind die Momente, bei denen auch ich resigniere.“ Sein Gesicht veränderte sich und bekam etwas Trauriges und hoffnungsloses.

Veronika hatte vollstes Verständnis. Sie senkte die Augen. Wie einfühlsam Pfarrer Rebler war, dachte sie, und wie schön, dass er seine Berufung, seine Lebensaufgabe gefunden hatte.

Nach dem Abendessen verabschiedeten sich Martin und Veronika. Sie bedankten sich für die Gastfreundschaft. Nachdem sie ein paar Schritte gegangen waren, fragte Martin: „Ist das nicht seltsam?“

„Was meinst du?“

„Na, diese Geschichte, die der Pfarrer vorhin erzählt hatte. Von diesem Mann und seiner Beerdigung.“

„Ja, traurig, nicht?“

„Ich finde sie eher erstaunlich. Was für ein Mensch muss das gewesen sein, wenn heute niemand zu seiner Beerdigung kam? Ich meine, jeder normale Mensch hat irgendwelche Bezugspersonen, Freunde, Familie. Man hinterlässt doch etwas. Man geht doch nicht und hat nichts bewegt im Leben?“

„Vielleicht war er neu hier in der Gegend? Oder vielleicht hatte er außer dieser Person keine Verwandte mehr?“

„Möglich.“ Martin nickte. Zu gern hätte er mehr über die Umstände und den Mann erfahren. Da nahm er Veronika an der Hand. Er führte sie zu einem gläsernen Kasten, der an der Außenwand der Kirche hing. Im Inneren war das Pfarrblatt und ein Infoblatt mit kirchlichen Terminen ausgehängt. Er brauchte nicht lange zu suchen, schon fand er die heute Mittag stattgefundene Trauerfeier. Er las den Namen, der dort geschrieben stand: „Otto Dujardin.“


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