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Martin schaute Veronika mit einem vielsagenden Blick an. Dann setzte er sich an den Esszimmertisch und zählte das Geld. Es waren 1500 Euro in Einhunderteuroscheinen. Auf dem Zettel, der an das Geldbündel angeheftet war, standen fünf Monatsnamen, aufgelistet von Dezember 2016 bis April 2017. Martin konnte sich keinen Reim darauf machen. Er legte die Scheine zusammen mit dem Zettel wieder zurück auf den Tisch. Dann nahm er die Fotografie in die Hand. Darauf sah man zwei Männer, die eng beieinanderstanden und sich die Hände reichten. Einer schaute verschämt auf die Seite. So, als ob er nach irgendetwas Ausschau halte.

„Was meinst du?“, fragte er Veronika.

„Die Kleidung der Männer ist sonderbar. Sieht nach Einheitskleidung aus, findest du nicht?“

„Ja, stimmt.“ Dann ging Martin mit den Augen näher an das Bild heran. Er kniff die Augen zusammen. „Du, schau mal. Die beiden geben sich die Hand, aber etwas stimmt da nicht. Irgendetwas Weißes hat der eine in der einen Hand. Bei näherem Betrachten sieht es so aus, als ob der eine dem anderen etwas gibt. Heimlich. Siehst du?“

„Zeig mal her. Ja, stimmt. Die beiden überreichen sich etwas. Der eine schaut sich um, und hält Ausschau, ob sie dabei beobachtet werden.“

Martin drehte das Bild um. Auf der Rückseite war ein Name notiert: Walter Buchenhain.

Dann legte Martin das Bild wieder neben die Scheine auf den Tisch. Zuletzt blätterte Martin das Notizbuch auf. Ganz verwundert las Martin, was darin geschrieben stand. Es waren Namen. Namen mit Datum und Ortsangabe. Martin las einige vor: „Frederick, 02.04.2015, Güterbahnhof; Andreas 24.06.2015, Grünpresse; Maximilian 10.10.2016, Grünpresse.“ Er schaute Veronika fragend an. „Das geht nur so weiter. Chronologisch sortiert. Mehrere Seiten lang. Manche Namen sind mit einem Kreuzchen markiert. Ein Name ist mit rot eingekreist, so wie ich hier sehe, und ein kleiner Zettel liegt eingeklemmt zwischen den Seiten mit einer Adresse darauf.“

Veronika nahm das Notizbuch in die Hand und blätterte die beschriebenen Seiten durch. Dann schüttelte sie den Kopf. Was das zu bedeuten hatte?

„Ich weiß es auch nicht“, fasste Martin anschließend zusammen, „aber dieser Otto Dujardin hatte vielleicht doch ein Geheimnis. Jedenfalls hat er etwas Seltsames aufgeschrieben und vor anderen Leuten versteckt. Andere Leute sollten von dem nichts wissen, was hier aufbewahrt wurde. Da bin ich mir sicher.“

Veronika fragte: „Und, was willst du jetzt machen?“

„Erstmal nichts. Ich muss jetzt ins Bett, bin hundemüde. Morgen werden wir überlegen, was wir damit anfangen.“ Er stand auf, ging ins Bad und machte sich bettfertig. Veronika schaute sich nochmals das Foto an und folgte ihm.


Als Martin am nächsten Morgen neben Veronika erwachte, streichelte er ihr zärtlich die Wange. Mit einem Seufzer wachte sie auf. Er lehnte sich auf seinen rechten Arm und erzählte, dass er in der Nacht lange wach gelegen und über die Sache nachgedacht hatte. Veronika setzte sich aufrecht hin und wiederholte ihre Frage von gestern Abend: „Und, was willst du jetzt machen?“

„Ich werde Nachforschungen anstellen.“

Sie drehte den Kopf in Richtung Fenster, dachte einen Moment nach und meinte dann bittend: „Martin, in knapp drei Wochen heiraten wir. Wir müssen noch so viel organisieren. Und ich habe wirklich keinen Kopf für derlei Dinge. Ich wünschte, du auch nicht. Ich brauche dich in der nächsten Zeit, alleine schaffe ich es nicht.“

Er nahm ihre Hand. „Wir werden es schaffen und wir werden heiraten. Ich verspreche dir, ich werde mit all meiner Kraft bei dir sein.“ Nach einer kurzen Pause fügte er energisch hinzu: „Und die restliche Zeit werde ich damit verbringen, den Dingen auf den Grund gehen.“

Veronika wusste, dass sie es Martin nicht ausreden konnte. Wenn er es sich in den Kopf gesetzt hatte, konnte sie ihn nicht davon abbringen. „Gut, aber ich werde dich auf deine Aufgaben aufmerksam machen und ich erwarte, dass du sie dann auch erledigst. So wie wir es abgesprochen hatten.“ Ihre Stimme klang ungewohnt scharf. Martin pflichtete bei. Dann stand er auf und ging ins Bad, um sich zu waschen. Veronika blieb gedankenversunken im Bett liegen. Anschließend kam er wieder ins Schlafzimmer und zog sich an. „Ich werde das Geld zurückbringen“, begann Martin. „Diese Frau hat mir eine Visitenkarte von sich gegeben, als ich mit Gerald den Sekretär abgeholt habe. Vielleicht kann ich sie über Otto Dujardin ausfragen. Vielleicht erzählt sie mir etwas.“ Motiviert knöpfte er das Hemd zu. „Ich muss erst spät in den Laden heute, ich werde die Dame gleich besuchen.“

Veronika beobachtete Martin. Irgendwie bewunderte sie seine Begeisterungsfähigkeit, auch wenn jetzt ein ungeeigneter Zeitpunkt dafür war. Sie stieg aus dem Bett und umarmte ihn versöhnlich. „Pass auf dich auf“, flüsterte sie ihm zu. Er lächelte leicht, nahm das Geld vom Esszimmertisch, vergewisserte sich, dass er die Visitenkarte eingesteckt hatte und verließ das Haus.


Frau Futzel lebte in einer Wohnung im Herzen Bruchsals. Als Martin in die Amalienstraße einbog, fuhr gerade ein Auto aus einer Parklücke. Wie praktisch, dachte er. Das Haus mit der Nummer 84 lag am Ende der Straße, unweit vom Bahnhof. Martin nahm die Visitenkarte in die Hand und las die Klingelschilder. Als kurz darauf die Türe aufging, freute er sich. Offenbar war Frau Futzel zu Hause und noch nicht bei der Arbeit. Er stieg eine Treppe hinauf in das erste Obergeschoss. In der Tür stand Frau Futzel, die ihn überrascht ansah. Martin begrüßte sie und stellte sich vor. Er gab zu verstehen, dass er ihr etwas geben wolle, was er im Sekretär gefunden hatte. Sie bat ihn herein.

„Bitte, nehmen Sie doch Platz, Herr Fennberg. Also, worum geht es?“

Martin erzählte ihr vom Geheimfach und dem gefundenen Geld. Als ehrlicher Finder wollte er ihr es persönlich überreichen. Sichtlich erfreut nahm Frau Futzel das Geld entgegen. Martin wollte gerne mit ihr über den Toten sprechen, doch er wusste nicht recht, wie anfangen. Schließlich begann er: „Die Wohnung des Herrn Dujardin war sehr stilvoll eingerichtet. Er hatte offenbar sehr viel Geschmack.“

Frau Futzel grunzte. Sie war nicht seiner Meinung. Ihrer Meinung nach hatte die Wohnung alles andere als Stil. Billig und zusammengestückelt war sie. Sie hätte sich darin nicht wohlgefühlt. Martin schaute sich um. Ihm fiel auf, dass ihre Wohnung um einiges stilvoller und teurer eingerichtet war als die Wohnung des Toten. Kein Wunder, dass die Frau nichts von den Möbelstücken für sich selbst behalten wollte. Nichts hätte hier hereingepasst. Martin machte eine schmeichelnde Bemerkung über Ihren Einrichtungsstil. Er betonte, wie gut sich alles ineinanderfügte. Frau Futzel richtete sich auf und erklärte stolz, dass sie Innenraumausstatterin sei. Sie besaß ein eigenes Ladengeschäft in der Fußgängerzone in Bruchsal. Martin bekundete sein reges Interesse daran, mehr zu erfahren. Frau Futzel erzählte ihm eine ausführliche Geschichte über ihren beruflichen Werdegang und die Entwicklung ihres Geschäfts, angefangen von dem kleinen Büro, mit dem sie 1983 angefangen hatte, bis hin zur kleinen Firma mit sechs Angestellten, so wie es heute war. Die Geschichte hörte damit auf, dass sie erst kürzlich das neu eröffnete Café am Kübelmarkt ausgestattet hatte. Martin gab zwischendurch zustimmende Laute von sich. Er hatte den Eindruck, dass sich Frau Futzel entspannte und bereit war, mit ihm gelöst weiter zu erzählen. Sie hörte sich gerne selbst reden, vermutete er. Er hatte genau das Thema getroffen, das eine Stimmung und Vertrautheit hervorrief, die er benötigte, um die weit aus persönlicheren Themen zu besprechen, so wie er es geplant hatte.

Er tastete sich nach einer kurzen Pause voran, indem er fragte, in welcher Verbindung sie mit dem Toten gestanden hatte.

„Er war mein Bruder“, sagte sie.

Martin schaute sie mit Anteilnahme an. „Das tut mir leid, mein Beileid. Es muss Sie schwer getroffen haben, Ihren Bruder zu verlieren.“

Sie schaute ihm in die Augen und meinte: „Wir hatten keinen Kontakt, wissen Sie. Schon Jahre lang nicht mehr. Sein Tod kam sehr überraschend. Ich würde nicht sagen, dass ich trauere, ich bin eher überrascht.“

„Wie darf ich das verstehen?“

Wie mit einem Vertrauten sprach Frau Futzel weiter: „Otto war nicht der Typ, der aus einem Fenster fällt, wenn Sie wissen, was ich meine. Aber offenbar muss es so gewesen sein, denn die Polizei hat nichts Gegenteiliges herausgefunden.“

„Oh, ich wusste nicht, dass es ein Unfall war. Das ist ja schrecklich“, log Martin.

„Wie gesagt, er stand wohl am Fenster und rauchte, dann ist er hinausgefallen. Wir müssen es so hinnehmen.“

„Lebte er denn alleine?“

„Otto war verheiratet mit einer jungen Frau. Ich habe sie nur einmal gesehen.“

Martin stutzte. Otto Dujardin war verheiratet, aber auf der Beerdigung war nur eine einzige Person anwesend. Schließlich fragte er: „Waren Sie auf seiner Beerdigung?“

„Aber natürlich, welch seltsame Frage.“ Frau Futzel schüttelte verständnislos den Kopf.

Merkwürdig, dachte Martin. Wenn Frau Futzel auf der Beerdigung war, wo war dann die Ehefrau gewesen? Wieso war sie nicht da? Sofort kam ihm eine wichtige Frage in den Sinn: „Sagen Sie, haben Sie die Ausrichtung der Trauerfeier übernommen oder seine Frau?“

Frau Futzel schien irritiert. Dann sagte sie: „Die Ehefrau war nicht im Stande dazu. Und da ich seine nächste Verwandte war, habe ich die Aufgabe übertragen bekommen. Ich kümmere mich auch um alle offiziellen Abwicklungen.“

„Hatten Sie mit seiner Ehefrau keinen Kontakt?“, fragte er vorsichtig.

„Keinen.“ Wieder setzte sie zu einer langen Erzählung an: „Otto und ich lebten zwar beide in Bruchsal, aber gesehen haben wir uns praktisch nie. Sehen Sie, mein Bruder war kein Mensch, mit dem man gerne Kontakt haben wollte. Er war sehr egoistisch, handelte nur nach seinem Vorteil. Wenn er von jemanden nichts mehr erwarten konnte, ließ er ihn fallen. So war das. Familie war ihm schon immer lästig gewesen. Unsere Beziehung war ihm zu eng. Wir wussten zu viel voneinander und es gab zu viele Verbindlichkeiten. Otto tat nur das, wonach ihm der Sinn stand. Und wenn er etwas tat, was andere nicht für gut empfanden, dann log er einfach darüber hinweg.“

Martin war etwas peinlich berührt, dass sie so von ihrem Bruder sprach. Ungläubig sagte er: „Das kann ich mir gar nicht vorstellen.“

„Ich erzähle Ihnen einmal eine Geschichte: An meinem vierzigsten Geburtstag gab es zwölf geladene Gäste und es gab einen leckeren Kuchen mit zwölf Stückchen. Otto aß eines davon und wollte gleich darauf noch ein Zweites. Ich fragte ihn, ob er denn nicht ein anderes essen wolle, damit jeder etwas von dem leckeren Kuchen abbekommen konnte, doch Otto sagte nur: `Nein, mir schmeckt er gut und ich will gleich noch ein zweites Stück.´ So getan, musste ein anderer darauf verzichten. So war Otto, das ist ein gutes Beispiel für sein Handeln. Er war ein faules Ei, mit dem niemand näher zu tun haben wollte.“

Die Aussage von Frau Futzel schockierte Martin. So eine direkte und offene Ansprache hatte er nicht erwartet. Sie blieb emotional unbeteiligt, wenn sie sprach. Es schien so, als ob ihr Otto Dujardin vollkommen egal geworden war.

Martin fragte weiter: „Was war er denn von Beruf, Herr Dujardin?“

„Er war Vollzugsbeamter in der Justizvollzugsanstalt in Bruchsal.“ Nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu: „Das passte richtig gut zu ihm. Da konnte er mit den Insassen umspringen, wie er es wollte. Die konnte er herumkommandieren.“

„Das ist ja interessant.“

„Finden Sie? Ich fand es höchst beunruhigend. Was ist, wenn einer von denen mal herauskommt? Ich wäre ja an seiner Stelle meines Lebens nicht mehr froh geworden. Aber jeder, wie er möchte.“ Sie stand plötzlich auf. Es war ihr schlagartig bewusst geworden, dass sie ihm zu viele persönliche und intime Dinge ausgeplaudert hatte. Ihm, einem vollkommen Unbekannten. Wieder einmal hatte sie nicht an sich halten können und hatte getratscht. Sie nahm sich vor, in Zukunft vorsichtiger zu werden. Schließlich sagte sie: „Seien Sie mir nicht böse, Herr Fennberg, aber ich muss sie jetzt bitten zu gehen. Ich muss zur Arbeit.“ Sie reichte Martin die Hand. Er verabschiedete sich und verließ mit einem dumpfen Gefühl das Haus.


Faules Ei

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