Читать книгу Stumme Gier - Günther Tabery - Страница 4
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ОглавлениеAls Martin zu Hause seinen Caro-Kaffee aufbrühte, dachte er an die Ereignisse der letzten Stunden. Die Bilder gingen ihm nicht aus dem Kopf. Unfassbar war die Tatsache gewesen, dass dieser Fremde gerade in sein Fotostudio hineinkam, um dort zu sterben. Mit seinem Chef hatte er bereits telefoniert und ihm die schreckliche Geschichte erzählt. Das Fotostudio wurde von der Polizei bis auf weiteres geschlossen. Martin bekam großzügigerweise bezahlten Urlaub, um sich von diesem Schock zu erholen. Er nahm einen großen Schluck Caro-Kaffee. Was sollte er nun anfangen? Wie konnte er einen Ansatzpunkt finden, um Näheres über den armen Mann und dessen Schicksal herauszufinden? Er erblickte eine Ausgabe der Badischen Neuen Nachrichten, die auf seinem Wohnzimmertisch lag. Da kam ihm dieser Zeitungsausschnitt in den Sinn, den er der Polizei unterschlagen und mitgenommen hatte. Dieser Ausschnitt, auf dem einige Verlobungs- und Heiratsannoncen abgedruckt waren. Er las nochmals diese, die mit einem Kreuz markiert war. `Charlotte Driesig und Rolf von Breidenfall´. Rolf von Breidenfall? Dieser Name war ihm ein Begriff. Er hatte ihn schon einmal gehört, da war er sich sicher. Martin stellte seine Kaffeetasse ab, holte seinen Laptop und fuhr ihn hoch. Neugierig googelte er den ihm bekannten Namen. Er fand in unzähligen Einträgen einiges Interessantes über diesen Mann heraus. Er war 1961 in Karlsruhe geboren, studierte Wirtschaftswissenschaften in Berlin und übernahm 2008 in zweiter Generation das erfolgreiche Familienunternehmen, die `Breidenfall GmbH´, welche sich mit Rohstoffen und deren Recycling im In- und Ausland beschäftigte. Die Breidenfall GmbH zählte in Karlsruhe zu den fünf einflussreichsten und erfolgreichsten Unternehmen. Rolf von Breidenfall war bereits verheiratet gewesen, jedoch starb seine Ehefrau 2011 an einem unheilbaren Lungenkrebs. Aus dieser Ehe gingen zwei Kinder hervor, Lena und Marcus von Breidenfall. Die Familie wohnte im Musikerviertel in Karlsruhe. Martin stieß einen Pfiff aus, als er las, dass das Vermögen der Familie auf mehrere Millionen Euro geschätzt wurde. Nicht schlecht, dachte er sich. Und weiter googelte er den Namen Charlotte Driesig. Jedoch fand er hier nichts Spektakuläres. Sie war weder bei Facebook noch bei anderen sozialen Netzwerken registriert. Von Beruf war sie Altenpflegerin. Er fand einen Bericht, in dem sie für ihre langjährige Arbeit in dem Altenheim „Altersresidenz Rheinstetten“ lobend erwähnt wurde. Laut der Suchmaschine „peoplecheck“ war sie in Mannheim geboren und hatte ebenso dort ihre Ausbildung absolviert. Mehr war nicht über sie zu finden.
Das klingt aussichtsvoll, dachte sich Martin. Und die Annonce war der einzige Anhaltspunkt, den er hatte. Er lehnte sich zurück und trank seinen Becher Kaffee leer. Ich muss diese Familie kennen lernen, sagte er sich. Seine Augen flackerten und er begann ein wenig zu schmunzeln.
Im örtlichen Telefonbuch gab es in Karlsruhe einen einzigen Eintrag unter dem Namen von Breidenfall. Das musste die richtige Nummer sein, dachte er. Er griff zum Telefonhörer und wählte.
„Bei von Breidenfall“, ließ sich eine klare Stimme vernehmen.
„Martin Fennberg hier. Ich bin Fotograf und arbeite für das Fotostudio „Foto-Schönit“ in Karlsruhe. Ich würde gerne mit Herrn von Breidenfall oder mit Frau Driesig sprechen, wenn das möglich wäre.“
„In welcher Angelegenheit kann ich Sie anmelden?“
„Ich möchte Ihnen meine Dienste anbieten und die im März geplante Hochzeit fotografieren.“
„Einen Moment bitte. Ich werde sehen, was ich für Sie tun kann.“ Das Mädchen legte den Hörer beiseite. Nach einigen Minuten Wartezeit meldete sich eine warme Stimme: „Driesig, was kann ich für Sie tun?“
„Guten Tag Frau Driesig, mein Name ist Martin Fennberg. Ich arbeite für das Fotostudio „Foto-Schönit“ in der Karlsruher Innenstadt. Wir haben Ihre Verlobungsannonce in der Zeitung gelesen und möchten Ihnen das Angebot unterbreiten, Ihre Hochzeitsfeierlichkeiten zu fotografieren.“
„Das ist aber etwas ungewöhnlich“, zögerte die Stimme, „dass ein Fotostudio ohne Anfrage seine Dienste anbietet.“
„Das stimmt. Aber für unser Fotostudio wäre es eine Ehre, Ihre Feierlichkeiten begleiten zu dürfen.“ Martins Stimme strahlte. „Die Familie von Breidenfall ist eine berühmte Familie in Karlsruhe.“
„Ja“, murmelte Charlotte Driesig etwas geschmeichelt, „aber sehen Sie, wir haben bereits einen Fotografen engagiert. Es tut mir sehr leid.“
„Ja, das dachten wir uns schon. Wir bieten Ihnen aber einen Komplettservice an. D.h. wir würden bereits vor den Feierlichkeiten Fotos im privaten Bereich aufnehmen, sowie eine eventuelle Verlobungsfeier begleiten und anschließend Fotobücher erstellen, die dann als Geschenke und Andenken verschickt werden könnten. Wissen Sie, es geht bei uns nicht nur um den Festakt und um das Brautpaar während und nach der Trauung, sondern wir dokumentieren den gesamten Prozess von der Planung bis zur großen Feier. Eingebunden würden bei uns ebenso Freunde und Verwandte. Ganz nach Ihren Wünschen.“
Es entstand eine lange Pause. Martin wartete gespannt ab, ob seine Rede überzeugend genug gewesen war, denn dieses Angebot war von ihm frei erfunden und nicht in den normalen Dienstleitungen inbegriffen.
„Nun gut, Herr Fennberg. Dann werde ich dieses mit meinem Verlobten nochmals besprechen und beide Angebote gegeneinander abwägen. Wir würden uns dann eventuell morgen bei Ihnen melden. Ist es so recht?“
„Aber sicher, selbstverständlich.“
Martin gab Frau Driesig seine Kontaktdaten, bedankte sich für ihre Aufmerksamkeit und legte den Hörer auf. Vielleicht habe ich eine Chance, dachte er. Vielleicht kann ich zu einer Vorbesprechung ins Haus gelangen und die Familie kennen lernen. Er lächelte in sich hinein. Vielleicht wollte der Tote auch an dieser Hochzeit teilnehmen? Vielleicht kannte er jemand aus der Familie? Das wollte er herausfinden. Zufrieden mit diesem ersten Schritt saß er auf der Couch und sah nachdenklich aus dem Fenster.
Der nächste Tag verlief in Punkto Verlobungsannonce ereignislos. Weder Frau Driesig noch Herr von Breidenfall meldeten sich zurück.
Stattdessen klingelte es und Kommissar Frank stand vor der Tür. Martin war sichtlich überrascht und begann gleich heftig mit dem Kopf zu zucken. Kommissar Frank lächelte freundlich und beobachtete Martin aus seinen intelligent blickenden Augen.
Martin führte den Kommissar ins Wohnzimmer. Nachdem er ihm etwas zu trinken gebracht hatte, setzte er sich ihm gegenüber auf die Couch. Er wartete höflich, was der Kommissar ihm zu sagen hatte. Dieser musterte ihn eingehend und begann dann ohne Umschweife: „Sehen Sie, Herr Fennberg, nachdem wir gestern die Leiche in dem Fotostudio gefunden hatten, in dem Sie arbeiten und Sie der letzte Mensch waren, der den Toten noch lebend gesehen hatte, gibt es nun für mich zwei Möglichkeiten zu überdenken. Entweder, Sie sagten mit Ihren Ausführungen gestern die Wahrheit und der Unbekannte kam tatsächlich zufällig zu Ihnen ins Studio oder Sie sagten die Unwahrheit, was bedeuten würde, dass Sie als Hauptverdächtigter in den Mittelpunkt der Ermittlungen rücken würden.“
Kommissar Frank machte eine Pause. Er bemerkte, wie unruhig Martin plötzlich geworden war. Dieser setzte sich ganz aufrecht hin und bekam einen starren Blick, der vermuten ließ, dass er fieberhaft nachdachte.
„Es könnte auch so sein“, fuhr Frank fort, „dass Sie den Toten kannten. Vielleicht hatten Sie beide noch eine Rechnung offen, vielleicht hat er Sie erpresst oder vielleicht geht es gar um eine Liebesgeschichte? Und nun musste dieser Mann sterben. Also was tun Sie? Sie bestellen ihn in Ihr Fotostudio und verabreichen ihm Gift. Es stirbt vor Ihren Augen. Dann rufen Sie die Polizei und erklären etwas von einem Fremden und vollkommen Unbekannten. Um sicher zu gehen, dass wir ihn vorerst nicht identifizieren können, entwenden Sie alle persönlichen Dinge.“
Wieder machte er eine Pause. Martin hörte aufmerksam zu und nickte.
„Ich verstehe“, sagte er matt.
„In vielen Fällen war derjenige der Täter, der den Toten als letztes lebend gesehen hat. Und das sind Sie.“ Frank hob die Augenbrauen. Er lehnte sich zurück und wartete, was Martin darauf antworten würde.
„Ich weiß nicht recht, was ich dazu sagen soll“, begann Martin. „Ich verstehe Ihre Gedankengänge und ja, es muss so ausschauen, dass ich als Täter in Frage komme. Dieser Gedanke war mir bis jetzt noch nicht gekommen. Ich kann leider auch nichts zu meiner Verteidigung beitragen. Ich kann nur so viel sagen, dass das, was ich gestern gesagt habe, die Wahrheit ist. Ich kann nicht beurteilen, wie glaubwürdig das ist. Aber gerne wiederhole ich nochmals, was ich gestern erlebt habe.“
Er blickte den Kommissar flehend in die Augen. Doch dieser winkte ab.
„Nein, das brauchen Sie nicht mehr zu wiederholen. Aber Sie bleiben dabei? Sie haben den Toten vorher nicht gekannt und standen in keiner Beziehung zu ihm?“ Er kniff die Augen zusammen.
Martin antwortete mit bestimmter Stimme: „Nein, weder noch.“
„Und Sie haben nichts entwendet, was auf die Identität des Toten hinweist?“
„Nein.“ Dabei versuchte er, so ruhig wie möglich zu bleiben. Hatte er doch tatsächlich den Zeitungsauschnitt an sich genommen, was er aber dem Kommissar verheimlichen wollte. Franks Augen zuckten kurz, als ob er Martins Unsicherheit bemerkte.
„Wir werden Ihre Personalien überprüfen müssen. Sobald wir den Toten identifiziert haben, werden wir herausfinden, ob es eine Verbindung gab. Bitte verreisen Sie nicht, solange der Fall nicht gelöst ist und bleiben Sie in der Stadt. Halten Sie sich bereit für weitere Gespräche. Gegebenenfalls werden wir Sie ins Präsidium bestellen.“
„Selbstverständlich.“
Frank erhob sich und ging sicheren Schrittes in Richtung Tür. „Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag, Herr Fennberg.“
„Vielen Dank, den wünsche ich Ihnen auch.“
Nach diesen Worten verließ der Kommissar die Wohnung. Martin schloss die Tür und atmete einmal tief durch. Die Polizei verdächtigte also ihn. Und nun hatte er sich tatsächlich strafbar gemacht, indem er die Annonce verheimlichte. Sollte er die Sache einfach auf sich beruhen lassen? Sollte er die Annonce vergessen und warten, was die Polizei in diesem Mordfall herausbrachte? Frau Driesig hatte sich sowieso nicht bei ihm gemeldet. Wahrscheinlich war es ganz unmöglich, an dieser Hochzeit teilzunehmen und etwas auf eigene Faust herauszufinden. Ganz in Gedanken versunken, unwissend, was er jetzt tun solle, entschied er sich, einen langen Spaziergang im Schlosspark zu unternehmen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen.