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1 Die alte Schule ist vor allem eines: alt

Das typisch Menschliche: sich aus Angst vor einer unbekannten Zukunft an die bekannte Vergangenheit klammern. (John Naisbitt)

Unsere Wirtschaft ist ein Spiegel der seelischen Verfasstheit unserer Gesellschaft. Je nach Blickwinkel kann das eine fröhliche oder eine ziemlich düstere Botschaft sein: Eine Wirtschaft ist immer nur so beseelt, wie der Antrieb der Menschen es zulässt, die an ihrem Gelingen arbeiten.

Blicken wir uns auf der ökonomischen Landkarte des Jahres 2011 um, stellen wir schnell fest, dass der Erfolg in der Tat dort ist, wo es jenseits des pekuniären Erfolgs ideell am meisten zu gewinnen gibt. China erlebt das lange prognostizierte Wachstum, angetrieben von der Hoffnung seines Volkes wie seiner Mächtigen, sich von seiner globalpolitischen Außenseiterstellung zu befreien. Die japanische Wirtschaft dreht nach langem Abschwung wieder auf, weil sie eine Katastrophe zu bewältigen hat. Die USA dagegen erleben ein wirtschaftliches Debakel und steuern mit Macht auf den Staatsbankrott zu, nachdem der Schwung einer politischen Neuorientierung der Ernüchterung über die Grenzen des Möglichen gewichen ist. Und Deutschland? Deutschland hat sich weitgehend von der letzten Finanzkrise erholt und hat in Erwartung besserer Zeiten endlich mal wieder Gas gegeben – droht aber bereits wieder über seine politischen Bremsklötze zu stolpern und der Gier der Hochfinanz ins Fangseil zu torkeln. „Etwa 200 Banker aus Kreditinstituten mit Staatshilfe kämen wieder auf ein Jahreseinkommen von mehr als 500.000 Euro“, wusste die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung schon im September 2010 zu berichten. Von wirksamen politischen Eingriffen, wie sie im Nachgang der Krise angekündigt wurden, keine Spur.

Der gehemmte Aufschwung

Dabei könnten wir längst viel weiter sein. Der Aufschwung, den wir in den letzten Jahren gesehen haben, war nur ein Bruchteil des Erfolgs, zu dem wir eigentlich in der Lage wären. Die Gründe dafür sind unendlich komplex und doch ganz simpel: Wir leben im 21. Jahrhundert, doch unsere Wirtschaft agiert unter der Oberfläche in weiten Teilen noch immer mit dem ethischen (oder unethischen) Instrumentarium der Feudalwirtschaft – und das ist schon optimistisch gedacht. Erfolg, in diesen Zeiten, war gesetzt, in aller Regel vererbt. Das Hauptansinnen der Erfolgreichen war deshalb der Machterhalt – und damit einhergehend die Erfolgsverhinderung bei anderen, um Meutereien auszuschließen. Heute ist es nicht viel anders, nur viel hübscher: Vieles, was möglich wäre, wird im Sinne des Machterhalts einzelner, fest installierter Instanzen verhindert, um eine Neudefinition der Wirtschaftslandschaft und letztlich der Gesellschaft als Ganzes zu unterbinden, die die ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse verschieben würde.

Dieses defensive Gebaren der Macht kommt nicht von ungefähr: Die Möglichkeiten der Instanzen sind den Möglichkeiten der gesellschaftlichen Erneuerung längst nicht mehr gewachsen. Starre Apparate wie Regierung (Ämtermonopoly), Verwaltung (Beamtenbürokratie), Kirche (codehafte Regularienverwaltung mit mangelndem Realitätsbezug) oder Großkonzerne (Sklaven der Hochfinanz mit unentwirrbaren politischen Verstrickungen) versuchen angestrengt, von den Manövern ihres Machterhalts mit pseudoethischen Mitteln abzulenken – oder, wenn keine öffentlichkeitswirksame Naturkatastrophe zur Verfügung steht, ihre Verfehlungen zumindest unter der Decke zu halten. Es gelingt ihnen immer seltener. Macht hat keine Chance, wenn die Machthelfer den Dienst verweigern. Den neuen Möglichkeiten sozialer Vernetzung sei Dank: Immer mehr tun es.

Das möchte ich von Anfang an klarstellen: Mit der Kritik an Obrigkeiten allein und der Aufforderung, sie mögen ihren Aufgaben effektiver nachkommen, ist noch gar nichts erreicht. Gesellschaftlicher Dialog, wirtschaftlicher Erfolg, Unternehmenskultur, sogar Politik werden letztendlich von der Gesamtheit der Menschen gemacht, die sich daran beteiligen. Wer sich nicht daran beteiligt, sondern nur von außen nörgelt – obwohl auch das wichtig und notwendig ist im gesellschaftlichen Diskurs –, der verändert gar nichts. Und wer nichts verändert, darf auch keine Veränderung erwarten. Jeder Einzelne von uns, wirklich jeder Einzelne – und sei sein Beitrag noch so klein – kann an gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Erneuerung teilhaben. Wer das nicht wahrhaben will, kann aufhören, auf Verbesserungen zu hoffen. Er verdient sie nämlich gar nicht.

Die neue Aufklärung

Zum Glück beteiligen sich immer mehr von uns, und legen den Finger in die Wunde gesellschaftlicher Missstände. Die Zahl der Offenbarungen wächst täglich: Von scheinbar ethikfreien Politikern wie zu Guttenberg oder Koch-Mehrin über die gänzlich unchristlichen Deckelungsversuche bei den Skandalen der katholischen Kirche bis hin zu den schlichtweg egogetriebenen Pokertricks von Imperiumslenkern wie Zumwinkel oder auch Blatter.

Nötig ist es allemal, die Bosse der alten Schule bei den Schultern zu packen und kräftig durchzurütteln. Der Erfolg, den die bestehende so genannte Wirtschaftselite sich erarbeitet hat, ist ganz und gar nicht selten auf unethischem Weg entstanden und in aller Regel in irgendeiner Form erkauft. Es ist ein Erfolg der Partikularinteressen. Es ist der Erfolg nicht einer Gesamtwirtschaft, sondern einzelner gesellschaftlicher „Pockets“, die in ihren Nischen sitzen wie angeklebt und nicht nur das Kapital kontrollieren, sondern auch die Quantität und Qualität des gesellschaftlichen Fortschritts steuern.

Der Erfolg all jener hingegen, die tatsächlich alltäglich zum Wohle der Wirtschaft und damit der Gemeinschaft ackern, wächst weitaus langsamer und in streng begrenztem Ausmaß. Jene Gruppen, die sich selbst gern als Eliten inszenieren, werden durch ihre Marktmacht und ihren politischen Einfluss zu Instanzen, die die Frequenz der gesellschaftlichen Erneuerung vorgeben. Sie tun das, indem sie Wertediskussionen prägen – nicht im Sinne der Gemeinschaft, als deren Vordere sie per Definition die Rolle einer Avantgarde übernehmen sollten, sondern im Sinne ihres Machterhalts. Da Fortschritt im System aber nicht ohne Kompromisse auf der Individualebene möglich ist, müssen sie sich vorwerfen lassen, dass sie gezielt gegen den natürlichen Lauf der Dinge arbeiten: gegen machbare Innovation, gegen notwendige Perspektivwechsel, gegen die maximal mögliche Freiheit der Gemeinschaft.

Gemeinschaft ist das Zauberwort

Gemeinschaft ist wohl das am meisten unterschätzte Wort der Gegenwart – insbesondere in der Wirtschaft. Das Problem besteht darin, dass die Gesamtheit der Betroffenen auch im größten Konzern noch hinter den Partikularinteressen einzelner Entscheider anstehen, wenn es hart auf hart kommt. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Egothemen auch vor den höchsten Positionen in der Wirtschaft nicht Halt machen. Und diese Erkenntnis ist nicht einmal im entferntesten neu: „Der ökonomische Mensch im allgemeinsten Sinne ist … derjenige, der in allen Lebensbeziehungen den Nützlichkeitswert voranstellt. Alles wird für ihn zu Mitteln der Lebenserhaltung, des naturhaften Kampfes ums Dasein und der angenehmen Lebensgestaltung.“ Der homo oeconomicus, der Eduard Spranger im Jahre 1914 vorschwebte, als er diesen Typus charakterisierte, war eine fiktive Entität: Der Mensch, der so ist wie alle Menschen innerhalb der gleichen Wirtschaftsordnung. Der homo oeconomicus ist ein kleinster gemeinsamer Nenner. Diese Definition erlaubt es, jedes beliebige Partikularinteresse im Sinne der Lebenserhaltung und eines „naturhaften Kampfes“ um dieselbe zu rechtfertigen.

Es ist ein gesellschaftliches Armutszeugnis, dass sich die „Eliten“ der großen Wirtschaftsnationen, deren Partikularinteressen sich weit über diesen Kampf erhoben haben, bis heute moralisch auf dieser Survival-Logik ausruhen. Sie verpassen die Möglichkeit etwas zu schaffen, das anderen, aufstrebenden Ländern ein Vorbild im ursprünglichen, moralischen Sinne des Wortes sein könnte: Eine Form von Erfolg, die nicht allein die Erfüllung von Eigeninteressen, sondern von gemeinschaftlichen Interessen zum Ziel hat. Gemeint sind gemeinschaftliche Interessen, die eben nicht verordnet sind (wie im Fall von China), sondern aus dem Inneren der Gemeinschaft erwachsen. Alles andere ist gefährlich und freiheitsfeindlich. Doch die Politik vergibt die Chance, Bedrohungen der Freiheit und Menschenrechtsverletzungen durch undemokratische Länder von der glaubwürdigen Position dessen zu geißeln und gegebenenfalls sogar abzustrafen, der ein intaktes Wertegerüst vorlebt.

Stattdessen pochen Politiker auf die Einhaltung von Werten, deren Bedeutung sie selbst längst verlernt haben. Gleichzeitig verdienen machtnahe Wirtschaftszweige Billionen damit, Terroristen mit Waffen zu beliefern und menschenrechtsfeindliche Systeme im Sinne der „Entwicklungshilfe“ zu unterstützen – im Glauben, ihnen die eigenen Vorstellungen von Erfolg aufdrücken zu können. Wir sind betriebsblind geworden: Unser im Ursprung christliches Wertesystem, das in Wahrheit längst im Sinne vielfältiger Partikularinteressen pervertiert worden ist, gilt als gesetzt und unantastbar. Wir vertreten unsere Position mit der agitatorischen Arroganz der Unfehlbarkeit, die historisch betrachtet jenen Regimes innewohnte, die dem Absturz geweiht waren. Wir haben allen Grund, alarmiert zu sein.

Wer dem Wandel trotzt, verliert

Ich bin froh darüber. Auf lange Sicht betrachtet ist Unglaubwürdigkeit die ultimative Suizidstrategie überkommener Machtstrukturen. Die Sklaverei wurde (weitgehend) ausgelöscht, weil sie mit dem Common Sense der postfeudalen Epoche nicht mehr vereinbar war. Diejenigen, die auf ihr vermeintlich angeborenes Recht beharrten, andere Menschen zu unterdrücken und zu instrumentalisieren, hatten am Ende das Nachsehen. Die Intelligenz der Masse setzt sich durch; wer auf der Unveränderbarkeit der Welt beharrt, wird scheitern. Es klingt banal, und doch ist es das Gesetz der Geschichte: Die von der Masse der Menschen ersehnte Revolution kommt immer, und wer sich ihr in den Weg stellt, wird früher oder später scheitern.

Mit solchen suizidalen Tendenzen haben wir es nicht nur in Regierungskreisen, sondern auch in anderen gesellschaftlichen „Pockets“ der Macht zu tun: Es ist jener Anspruch auf Deutungshoheit in Kombination mit einer schockierenden Fahrlässigkeit im Umgang mit Werten, die neben der Politik auch den Klerus, die Medien, die Gewerkschaften und andere vermeintlich werteprägende Instanzen unserer Gesellschaft dominiert. Wir finden sie überall, wo „Werte“ auf dem Etikett steht und bei genauerem Hinsehen Machterhalt drin ist. Doch auch hier gilt: Wer sich dem Wandel verweigert, wird scheitern. Immer – mal früher, mal später.

Children of the Revolution

Inzwischen mehren sich täglich die Anzeichen, dass eine Werterevolution nicht nur bevorsteht, sondern bereits begonnen hat. Die Produktivwirtschaft übernimmt dabei einmal mehr eine Vorreiterrolle und entwickelt gegen alle Widerstände Erneuerungstendenzen. Noch sind die Blockaden massiv: Die selbsternannten Bewahrer der Marktwirtschaft sind in Wahrheit ihre größten Feinde. Jene, die immer wieder neu über Werte diskutieren wollen und auf Nebenkriegsschauplätze ausweichen, um sich in eine ethisch unangreifbare Position zu bringen, sind in Wahrheit die größten Feinde jedes freiheitlichen Systems, das auf Werten basiert.

In Wahrheit geht es nämlich gar nicht darum, über Werte zu diskutieren – sondern über den Umgang mit ihnen. Unsere Grundwerte, die über die Kulturgrenzen hinweg weitgehend homogen sind, haben sich durchaus bewährt und eine Renaissance nach der anderen erlebt: Es sind gute Werte, die wir von Kindesbeinen an verinnerlichen. Woran wir immer wieder scheitern ist, dass wir die Deutungshoheit an diesen Werten, die eigentlich der Gemeinschaft dienen sollten, den selbsternannten Eliten ihrer Zeit überlassen. Wir haben sie zurückerobert, jedes Mal – doch der Zyklus Werte-Deutung-Macht-Machtmissbrauch-Revolution war immer wieder der gleiche.

Die ersten explizit formulierten Werte dienten – salopp formuliert – in grauer Vorzeit dazu, einen Haufen Wilder zu domestizieren, die sich noch schwer damit abfinden konnten, den evolutionären Schritt vom Tier zum Menschen geschafft zu haben. Kaum waren diese ersten „Etikette“ etabliert und eine Entwicklungsstufe geschafft, gingen die Stammesoberen daran, diese Errungenschaft für ihre Zwecke einzusetzen: Hierarchien wurden gebildet, in denen der Stärkere mit dem Schwächeren prinzipiell machen konnte, was er wollte – er hatte ja die Werte für sich gepachtet und war also grundsätzlich moralisch unantastbar. Bis zur nächsten Entwicklungsstufe, in der die Macht jener Eliten infolge massiven Missbrauchs von der Gemeinschaft wieder eingeschränkt wurde. Die Elite scheiterte, weil sie an ihrem Anspruch festhalten anstatt unter Einschränkung ihrer Macht die nächste Entwicklungsstufe erklimmen wollte. Macht gibt man nicht gern auf; deswegen muss sie in der Regel scheitern, um sich zu entwickeln. In der Wirtschaft ist es nicht anders.

Macht: ein zivilisatorischer Denkfehler

An der Tendenz der Instanzen, auf der bestehenden Entwicklungsstufe stehenzubleiben und ihre Macht verwalten zu wollen, hat sich bis heute wenig geändert. Ebenso wenig erodiert ist jedoch die Kraft der Gemeinschaft: Veränderungen, die eine Mehrheit der Bevölkerung für notwendig hält, werden früher oder später eintreten. Zivilisatorischer Fortschritt ist unausweichlich. Eine Nummer kleiner: Die Erneuerung eines Systems wie der Wirtschaft eines Landes lässt sich nicht dauerhaft aufhalten. Dennoch verwenden die „Stammesoberen“ all ihre Energie darauf, sie zu verhindern oder doch zumindest zu verzögern. Eliten sind vermeintlich die Avantgarde der Gesellschaft; wir vertrauen jeweils für eine begrenzte Zeit darauf, dass sie uns tragende Wände bauen werden. Wir orientieren uns an ihnen als Boten des Fortschritts, wir folgen ihnen als Leitwölfe der Veränderung. Und laufen gegen Wände, ein ums andere Mal, wenn sie erkennen, dass Veränderung die Gefahr des Machtverlusts birgt, und kräftig auf die Bremse treten.

Die bittere Moral von der Geschicht‘: Macht ist nicht fortschrittlich, sondern per Definition fortschrittsfeindlich, weil auf ihren Erhalt ausgerichtet. Macht ist rückwärtsgewandt. Macht ist agitatorisch. Macht ist opportunistisch. Macht ist unethisch. Wir folgen den Falschen. Der homo oeconomicus ist streng genommen ein ziemlicher Neandertaler.

Die Selbstreinigungskraft der Gemeinschaft

Eines jedoch hat sich gewaltig verändert: Die Zyklen von Macht verkürzen sich mehr und mehr. Ungeachtet aller Bremsmanöver der jeweils herrschenden Schicht findet Fortschritt statt – wenn auch weit unter unseren Möglichkeiten. Immerhin hat der Emanzipationswille der Masse uns inzwischen auf ein Niveau gehievt, das uns erlaubt, uns unabhängig von elitären Informationsmedien und Deutungsmustern auf ungeahnte Weise miteinander zu vernetzen. Die Schwarmintelligenz, die sich im Internet und in sozialen Netzwerken bündelt, ist die größte Bedrohung, die Macht jemals hatte. Damit gehen zweifellos große Risiken einher; vor allem aber ist die globale Vernetzung eine gar nicht zu überschätzende Verheißung von Freiheit. Sie ist die ultimative Chance der Gemeinschaft, ihre Werte gegen den Missbrauch durch gesellschaftliche Instanzen zu verteidigen.

Zum ersten Mal in der Geschichte hat die Wertegemeinschaft – im Sinne der Weltgemeinschaft wie auch jeder kleineren, konkreten Werten folgenden Gemeinschaft – die Möglichkeit, sich vorbei an jeder Zensur oder anderweitigen Filterung von Kritik ihrer größten Selbstreinigungskraft zu bedienen: Information und deren grenzenlose Verbreitung. Und es gibt Anlass zur Hoffnung, denn wir machen zunehmend regen Gebrauch von dieser Chance. Mit der Möglichkeit, der gezielten Informationsverbreitung der etablierten Meinungsmacher unabhängige, allein der Aufklärung verpflichtete Informationsströme entgegenzusetzen, wächst auch der Mut, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen. Damit allein ist die Welt noch nicht gerettet, denn zur Selbstreinigungskraft des Systems ist neben der Information auch die Komponente der Interpretation vonnöten. Zum ersten Mal in der Geschichte jedoch hat jeder vernetzte Mensch der freien Welt von Abu Dhabi bis Zürich die Möglichkeit, diese Interpretation ohne die vorgeschaltete Selektion durch machtorientierte Instanzen selbst vorzunehmen, anstatt sie sich – alten Bildungsmustern entsprechend – durch tendenziöse Auslassungen und Priorisierungen als vermeintliche Information gleich mit andrehen zu lassen. Endlich liegt uns die Art von Information vor, die wahre Aufklärung braucht: diversifizierte Information, die wir selbst empfangen, priorisieren, kombinieren und in ihrer Gesamtheit interpretieren können. Diese Interpretationsfähigkeit zu schulen ist deshalb der vordringliche Auftrag von Bildung – hier und heute. Vor allem aber ist die Beteiligung an diesem Prozess Bürgerpflicht.

Die ethische Renaissance der Information

Die neue Aufklärung ist bereits in vollem Gange. Inzwischen erreicht uns täglich eine Flut von Meldungen, die den Missbrauch der Deutungshoheit seitens jener zum Gegenstand haben, die qua Definition explizit eben jenen Werten verpflichtet sind, die sie in der Praxis unablässig mit Füßen treten. Noch vor wenigen Jahren wären diese Verstöße gegen die ethischen Verpflichtungen von Macht in den meisten Fällen unentdeckt geblieben. Dank der technischen und sozialen Vernetzung der Wertegemeinschaft finden sie heute immer schneller den Weg an eine immer breiter werdende Öffentlichkeit. Die implizite Warnung der Gemeinschaft an die Zirkel der Macht ist unüberhörbar geworden: Machtmissbrauch bleibt kein Geheimnis mehr. Er wird aufgedeckt, er findet die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, er lässt sich nicht mehr unter den Teppich kehren. Und er wird geahndet: Wer die Werte mit Füßen tritt, für die er steht, muss sich immer öfter an ihnen messen und von der betrogenen Gemeinschaft abstrafen lassen. Die globalen Protestaktionen gegen Banken und Wirtschaftspolitik im Herbst 2011 sind ein Indiz dafür.

Die Krise der Ethik liegt offen auf dem Tisch. Sie wurde herbeigeführt durch jene Instanzen, die eigentlich ihrem Schutz und ihrer Pflege verpflichtet sind. Die Folgerung liegt nahe, dass die Ethik, wie wir sie kannten, nichts anderes mehr ist als ein Konstrukt der Eliten – bis zur Unkenntlichkeit abstrahiert von den freiheitlichen, demokratischen und humanistischen Werten, denen sie eigentlich dienen sollte. Es wird höchste Zeit, dass wir als soziale Gemeinschaft im Kleinen wie im großen Ganzen unsere ureigenen Werte aus jenem schadhaften, machtbesetzten Konstrukt von Ethik zurückerobern.

Die härtesten aller Erfolgsfaktoren

Die Bedeutung von Werten wird besonders in der Wirtschaft aufgrund ihres Interpretationsspielraums gern als weiches Thema abgetan und ist innerhalb ihrer verschiedenen Reibungsflächen in Unternehmen zum Spielplatz für alle möglichen Installationen und Experimente geworden. Im Unternehmenskontext gelten Werte viel zu oft noch immer als Erfolgsfaktor zweiter Klasse. Aus der Unternehmenskommunikation sind sie inzwischen nicht mehr wegzudenken, doch im Kontext von Führung dienen sie meist eher als Feigenblätter denn als definierende Motivatoren: Beinahe jedes Unternehmen hat sich inzwischen ein Leitbild angeklebt, das statistisch ermittelte Kunden- und Mitarbeiterwünsche befriedigen soll. Die Werte, die dort propagiert werden, sind jedoch viel zu häufig dehnbar und unkonkret und entziehen sich der Überprüfbarkeit. Im schlimmsten Fall dienen sie dazu, von Missständen oder gar Machtmissbräuchen in der Unternehmensführung abzulenken. Viel zu selten werden sie tatsächlich gelebt, prägen die Leitgedanken von Management und Führung oder definieren gar bis ins Detail Kernprozesse.

Womit die „alte Schule“ der Wirtschaft beschrieben wäre: Sie schert sich einen Dreck um das wahre Potenzial von Werten, denn sie hat sich der bequemen Steuerung durch manipulierbare Kennzahlen verschrieben. Sie begeht die gleichen Fehler wie jene Politik, die den Missbrauch der Werte vorlebt. Das liegt in erster Linie daran, dass die Vertreter dieser alten Businessethik der Macht sehr nahestehen. Entweder arbeiten sie unmittelbar in ihrem Sinne und Auftrag, oder sie orientieren sich an deren „elitären“ Methoden.

Vom Ende der alten Schule

Doch auch in der Wirtschaft sind die ertragreichen Zeiten der Wertemanipulation endlich. Unternehmen, die sich auf so errungenen Erfolgen ausruhen und die Kernaufgaben von Wirtschaft – gesellschaftlichen Wohlstand und Fortschritt – vernachlässigen, vergeben damit ihre Chance, an den Märkten der Zukunft zu bestehen oder überhaupt nur anzukommen. Diese Schule der Unternehmensführung, die es offiziell nie gegeben hat und die in der Masse der Unternehmen dennoch bis heute federführend ist, ist dem Untergang geweiht.

Die erfreuliche Nachricht ist also: Mit dem Ende der Ära der Geheimniskrämer wird auch die alte Schule der machtmissbräuchlichen Unternehmensführung zu Grabe getragen werden. Ihr Untergang geht Hand in Hand mit dem Verlust der Glaubwürdigkeit jener, deren Methoden des Wertemissbrauchs sie folgen. Korruption, Lobbyismus und Egospielchen sind nichts anderes als Symptome eines falschen oder gar eines fehlenden Wertebewusstseins.

Keinesfalls der Skepsis anheim geben müssen wir dagegen den Kapitalismus und die Marktwirtschaft. Im Nachgang der Finanzkrise wurden besonders hierzulande schnell Stimmen laut, die ein Maximum an Regulierung einforderten. In Amerika stellt man dieser Generalkritik jedoch die Alternativlosigkeit des Kapitalismus und dessen Potenzial auch zu tugendhaften Erneuerung gegenüber: „Wir müssen den modernen Kapitalismus nicht bremsen oder verändern, damit er gut wird“, zitierte das Handelsblatt noch im Verlauf der Krise die Ökonomin, Historikerin und Philosophin Deidre McCloskey aus Chicago.

Die folgenden Kapitel beleuchten, welchen Schaden die Wertemanipulatoren an der Ethik angerichtet haben und zeigen, wie sich dieser Schaden auf die Gesellschaft im Ganzen, aber auch auf die Zentren der Wirtschaftskraft ausgewirkt haben. Sie decken auf, wie jeder Einzelne von uns unter der Wertearmut der Systeme leidet. Im Zeichen der neuen Aufklärung, die die Vernetzung der Wertegemeinschaft ermöglicht, werde ich Ihnen anhand von Beispielen zeigen, wie wir von der Manipulation unserer Grundwerte beeinflusst werden und unwissentlich an den Spielchen der Macht teilhaben.

Denn auch diese Erkenntnis gehört zu den Grundbedingungen jeder Erneuerung: Nur wenn wir erkennen, wie wir selbst ein korruptes System unterstützen, können wir damit aufhören. Nur, wenn wir damit aufhören, können wir an der ethischen Erneuerung teilhaben. Nur, wenn wir an ihr teilhaben, können wir weiterhin jene Werte für uns in Anspruch nehmen, die durch vielfältigen Missbrauch akut bedroht sind und die den Kern der freien Wirtschaft und des Unternehmertums bilden: Freiheit, Fortschritt, Selbstverwirklichung. Diese Werte werden sich durchsetzen, und der Wandel ist bereits im Gange. Wer ihn mitgestaltet, genießt alle Erfolgschancen der freien Marktwirtschaft. Wer sich ihm widersetzt, wird scheitern. Mancher Politiker, mancher Kirchenobere, mancher Konzernboss jedoch verhält sich noch immer, als hätte er sich bereits für den Untergang entschieden.

Die folgenden Kapitel singen das Grablied der alten Schule.

Wir statt Gier

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