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2 Die Krise der Ethik: Wie die Eliten unsere Werte missbrauchen

Politik: ein Streit der Interessen, der sich als Wettstreit der Prinzipien ausgibt. (Ambrose Bierce)

Die Ethik, wie wir sie kennen, ist überholt. Sie wurde von Instanzen geprägt, die sie täglich verraten: von der Kirche ad absurdum geführt, von der Politik verkauft, und in der Wirtschaft von Marketingstrategen zum Feigenblatt pervertiert. Sie ist nicht mehr die Quelle, sondern das Grab der Werte, für die sie einmal stehen sollte – aufgeklebt, antrainiert, extrinsisch motiviert. Die Ethik ist eine Schimäre: ein überholtes, sinnentleertes Denkmodell, ein leeres Gefäß, das die Lobbyisten und Vatikane dieser Welt mit ihrem autoritären Rhetorikarsenal befüllen und eigennützig und aufwieglerisch gegen die Interessen der Gemeinschaft einsetzen, die sie eigentlich befrieden sollte. Sie ist missbraucht und pervertiert worden. Sie ist zum Opfer und zum Instrument der Mächtigen geworden. Die Ethik unserer Zeit ist ein einziger gewaltiger Irrtum.

Der Großteil der deutschen Bevölkerung hat keinen oder wenig direkten Bezug zu den Kreisen, die unsere bestehenden Wertevorstellungen prägen: zu Kirche, Politik und Wissenschaft. Dementsprechend haben auch die wenigsten von uns das Gefühl, an der Prägung gesellschaftlicher Werte teilzuhaben oder auch nur eine Chance zu einer solchen demokratischen Mitsprache zu besitzen. Wohl aber hat jeder von uns ein mehr oder weniger ausformuliertes persönliches Verhältnis zu den Werten, für die er ganz individuell steht: in der Familie, im Beruf, in der Beziehung und in jeder anderen Form von Gemeinschaft, in der unsere Werte täglich auf dem Prüfstand stehen. Eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen wir als Bürger unmittelbaren Einfluss auf die Zusammensetzung jener Instanzen und der Werte haben, für die Politiker einstehen, sind Wahlen. Schaut man sich Parteiprogramme gezielt daraufhin an, welche Parteien für welche Werte stehen, und misst man diese Werte an der Realpolitik ihrer gewählten Vertreter, ist es kein Wunder, dass die Bevölkerung an ethische Versprechen schon längst nicht mehr glauben mag. Ähnlich verhält es sich mit den Werten der Kirche, dem ursprünglichen Epizentrum der westlichen Werteprägung. Würden wir uns als Einzelne so verhalten wie so mancher Vertreter dieser hohen Häuser, wäre Gomorrha inzwischen zum Urlaubsparadies avanciert.

Während die selbsternannten Verkünder des Wertekanons unverdrossen an ihrem Machterhalt arbeiten, ist den Menschen durch den Werteverfall ein gewaltiger Verlust entstanden: Sie finden keinen moralischen Halt und – mindestens genauso dramatisch – keine Vorbilder mehr dort, wo ihre Werte früher eine Heimat hatten: in der Kirche, beim Staat, an ihren Arbeitsplätzen. Sie haben keinen Grund mehr, jenen über den Weg zu trauen, die ihnen unverzagt erklären wollen, nach welchem Wertekodex sie sich zu richten haben, um glücklich und im besten Falle auch noch erfolgreich zu werden – oder doch zumindest ein einigermaßen unbeeinträchtigtes Leben führen zu können.

Der Grund für all das ist so simpel wie erschreckend und in den letzten Jahren an jedem beliebigen Tag und mit stetig steigender Frequenz aus den Schlagzeilen ablesbar: Politiker, Bischöfe und andere Personen der öffentlichen Wahrnehmung predigen in der Öffentlichkeit vermeintlich populäre Werte und haben gleichzeitig einen regelrechten Sport daraus gemacht, diese Werte nach allen Regeln der Kunst mit Füßen zu treten.

Das liegt daran, dass – im Gegensatz zu werteprogressiven Trends in der Gesellschaft – verwaltete Interessengruppen wie die Kirche oder ein auf überholten bürokratischen Strukturen beruhender Apparat wie die Bundesregierung mit ihren Ministerien in ihrer ideologischen Grundausrichtung stehengeblieben sind, weil jene alten Kodizes und föderalistischen Strukturen die Grundlage ihrer Macht bilden. Würden sie sich der Bevölkerungsdynamik und deren veränderten Wertvorstellungen in ihrer Entwicklung anpassen, kämen die meisten dieser Instanzen in ihrer derzeitigen Verfasstheit in ernsthaften Legitimationszwang.

Also tun sie das einzige, was ihnen im Sinne des Machterhalts übrig bleibt: Sie täuschen und mogeln, dass sich die Balken biegen. Wer sich einem neuen Wertebewusstsein nicht anpassen kann, ohne die eigene Existenzberechtigung in Frage zu stellen, gaukelt durch mehr oder weniger geschickte Öffentlichkeitsarbeit eben vor, am Puls der Zeit zu sein – nur um hinter den Kulissen genau so weiterzumachen wie seit Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten. Als hätte sich die deutsche Gesellschaft in ihrer demografischen Zusammensetzung seit der Gründung der Bundesrepublik nicht verändert. Als wäre die Globalisierung ein Mythos, der gar nicht stattfindet oder sich zumindest in seiner gesellschaftlichen Dynamik von Bürokraten steuern ließe. Als hätten die Deutschen nicht schon mehrfach unter Beweis gestellt, dass sie in der Lage sind, sich einem Wertediktat zu entziehen und ihre Gesellschaft auf demokratische Art und Weise zu erneuern.

Die Ethik hat sich längst dem Machterhalt unterordnen müssen. Sie ist zur bloßen Marketingstrategie verkommen, zum Feigenblatt der Wertemissbräuchler. Gepredigt wird sie in diesen Tagen, ganz besonders seit der Finanzkrise, mehr denn je. Vorgelebt wird sie uns nur noch äußerst selten. Die Haltlosigkeit, die das bei vielen in der Bevölkerung auslöst, kann gefährliche Blüten treiben – nicht jeder ist der Herausforderung gewachsen, sich enttäuscht von alten Vorbildern abzuwenden, ohne einem alternativen, vielleicht noch gefährlicheren Prediger zu verfallen.

Die vermeintliche Sehnsucht nach „alten Werten“

Thilo Sarrazin ist ein solcher Prediger – wenn auch nur einer von vielen. Er macht sich mit seinen Thesen den Werteverfall der Instanzen auf besonders perfide Weise zunutze: indem er den Werteverfall nicht den staatlichen Institutionen, für die nicht zuletzt er selbst steht, sondern der Bevölkerung unterstellt. Weil die Gemeinschaft als Ganzes anzugreifen unpopulär wäre, finden wir bei ihm allerlei krude Theorien über soziale Gruppen, die am wenigsten wehrhaft, weil aus der demokratischen Meinungsbildung weitgehend ausgegrenzt sind, und schiebt ihnen exemplarisch den schwarzen Peter unter.

Das ist keineswegs clever oder gar mutig, sondern ein Paradestück an Feigheit und Wahrheitsverdrehung. Aus Sicht der alten Schule, die sich unverändert im Besitz der ethischen Deutungshoheit glaubt, eine leichte Übung: Man nutze die Haltlosigkeit der Bevölkerung, indem man ihr ein Feindbild präsentiert und damit von den eigenen Versäumnissen ablenkt. Man argumentiere das ethische Vakuum, das man selbst mitverursacht hat, durch den blödsinnigen Vorwurf, dass Teile der Bevölkerung den alten Werten abgeschworen hätten. Man streiche für diese Diffamierung neben einer satten Entschädigung für den in peinlicher Berührtheit eilends entzogenen Bundesposten auch noch den Ruf eines Hohepriesters der Ethik ein, und mache sich somit zum moralischen Sieger in einer Debatte, die außer ihrem Initiator faktisch nur Opfer kennt. Sein Erfolg ähnelt dem eines heiligen Krieges: vorgeblich im Namen einer Religion alle anderen überrannt zu haben und das als moralischen Sieg auszugeben, weil in großen Buchstaben „Wertebewahrung“ auf der Fahne steht. Aber auch nur da.

Der perfideste Schachzug Sarrazins jedoch ist es, den Werteverfall jenen anzulasten, die seine eigentlichen Leidtragenden sind. Man muss ein sehr hohes Ross besteigen, um die tatsächlichen Mechanismen der Werteprägung zu ignorieren: Nicht die Bevölkerung muss jenen Werte vorleben, die sich ihrem Schutz verpflichtet haben, sondern umgekehrt. Wer von den Menschen, auf deren Wohlergehen er einen erheblichen Einfluss hat (oder haben könnte), verlangt, sie mögen im Winter die Heizung ausschalten und sich einen Pullover mehr anziehen, und dann mit allen Mitteln seine Entschädigung und eine horrende Beamtenrente aus Steuergeldern durchsetzt, der hat jegliches Wertebewusstsein längst verloren. Wenigstens, als er untragbar geworden war, hätte Sarrazin gehen können; doch er tat es erst, als die Bundesbank ihm den Rücktritt mit einer höheren Pension schmackhaft machte, wie die Zeit berichtete. Thilo Sarrazin ist das Inbild eines ethikfreien Demagogen, der Werte predigt und Werteignoranz vorlebt. Thilo Sarrazin ist ein Blender. Thilo Sarrazin ist ein Feind der Ethik.

Thilo Sarrazin ist letzten Endes harmlos. Denn er hat weder Werte im Angebot, noch lebt er den Menschen etwas vor, das nachzuahmen sich für sie lohnen würde. Er wird als Fußnote des Personality Marketings in die Geschichte eingehen, und das war’s dann. Folgen wird ihm niemand – wohin denn auch? Die Demokratie in Deutschland hält ein paar abgedrehte Thesen gut aus, wie Stephan Hebel in einem Leitartikel der Frankfurter Rundschau richtig feststellte.

Die vermeintliche „Sehnsucht nach alten Werten“ nämlich, die Menschen wie er sich zunutze machen, ist ein Mythos. Dass es so etwas wie „alte Werte“ nicht gibt, zeigt sich schon allein daran, dass scheinbar niemand in der Lage ist, an ihrer Stelle „neue Werte“ auszumachen. Die Menschen wünschen sich keine „alten Werte“ zurück; sie wünschen sich einfach, dass Grundwerte endlich gelebt werden. Genau das zu tun anstatt sie heimlich auszuhöhlen wäre in einer perfekten Welt zuallererst die gesellschaftliche Verantwortung derer, die öffentlich wahrnehmbar sind; die Verantwortung der selbsternannten, und noch viel mehr die der gewählten Eliten. Es wäre die Verantwortung gewesen – ja, auch von Thilo Sarrazin.

Nehmen Politiker und andere Amtsträger diese Verantwortung nicht wahr, finden die Menschen andere Wege, ihre Wertvorstellungen als Gemeinschaft zu leben und zu verteidigen – wenn nötig an den Scheineliten vorbei. Und das ist gut so, denn ohne diese antiautoritäre gesellschaftliche Dynamik hätten wir in Deutschland längst weit größere Probleme als Finanzkrisen oder überdimensionierte Bahnhöfe.

Schäfchen, allein unter Wölfen

Dass die Deutschen sich keineswegs scheuen, ethische Verstöße auf Instanzenseite abzustrafen, ist in aller Deutlichkeit an den Mitgliedsstatistiken der katholischen Kirche der Jahre 2009 und 2010 ablesbar. Seit der Aufdeckung des Missbrauchsskandals sind im Jahr 2010 47 Prozent mehr Menschen aus der katholischen Kirche ausgetreten als im Jahr zuvor. Erstmals verließen 2010 innerhalb eines Jahres mehr Angehörige die katholische Kirche, als im selben Zeitraum neu getauft wurden. Das ist nicht nur ein Signal für verfehlte Kirchenpolitik; es ist ein Zeichen eines wachsenden Wertebewusstseins.

Ein abstoßenderes Beispiel für den Missbrauch vermeintlicher moralischer Unantastbarkeit als der Missbrauch von Kindern und Jugendlichen ausgerechnet durch die Hüter der religiösen Moral ist nicht vorstellbar. Insbesondere gilt das im Fall führender Angehöriger einer Glaubensgemeinschaft, die vehement auf die Unantastbarkeit der sexuellen Normierung ihrer Gläubigen pocht. Wo die Mehrzahl der Katholiken sich längst der Wertedynamik einer durch soziale Vernetzung und Heterogenität gekennzeichneten Gesellschaft angeschlossen und nun täglich mit der religiösen Legitimation ihrer Lebensweise zu kämpfen hat, haben die Vorbilder jener Gemeinschaft jahrzehntelang und in massenhaftem Ausmaß selbst die grundlegendsten Werte, die sie ihren Schäfchen predigen, mit Füßen getreten. Es sind keine katholischen Werte, die hier verletzt wurden; es sind grundlegende Werte der Menschlichkeit. Und es sind Werte, die nicht zuletzt in jenen Gesetzen unseres Landes verankert sind, die über alle religiösen und politischen Fragestellungen hinweg zu Recht als unantastbar gelten dürfen.

Die Austrittszahlen aus den katholischen Kirchen könnten böse Zungen als ein weiteres Zeichen für den Werteverfall unserer Gesellschaft deuten. Dass die Zahlen in dieser Dramatik jedoch klar mit dem Missbrauchsskandal in Verbindung gebracht werden können, zeigt, dass es sich um das genaue Gegenteil handelt: Es ist ein Signal für das Wertebewusstsein in unserem Land, und in diesem Fall insbesondere für die Wertetreue einer bestimmten Glaubensgemeinschaft, die im Gegensatz zu ihrer geistigen Führer unkorrumpierbar zu sein scheint. Ähnlich wie bei der Debatte um Zuwanderung und demografische Entwicklungen im Zuge der Sarrazin-Affäre zeigt sich auch hier wieder: Der eigentliche Werteverfall hat nicht aufseiten der Bevölkerung stattgefunden, sondern aufseiten der Instanz, die tatsächlich einer bestimmten Ethik verpflichtet ist und diese aufs Schamloseste für Partikularzwecke missbraucht hat.

Und noch eines zeigt die Statistik: Gäbe es eine Sehnsucht nach „alten Werten“ in unserem Land, müssten die Mitgliedszahlen der katholischen Kirche, oder doch zumindest irgendeiner Kirche, durch die Decke gehen. Das Gegenteil ist der Fall.

Politik ist, wenn die Werte auf Eis liegen

Politische Ämter gehen mit einer klaren Verpflichtung, und nur dieser, einher: die Vielfalt der Bevölkerung eines Landes, von der sie gewählt wird, zu vertreten und die Rahmenbedingungen für ein friedliches gesellschaftliches Miteinander zu schaffen, das den Bewohnern einer freien Gesellschaftsordnung zusteht. Dazu gehört die Verantwortung, sich der werteprogressiven Dynamik zu stellen, die der demografische, soziologische und psychosoziale Wandel jener Gesellschaft mit sich bringt.

Mit anderen Worten: Wenn die Hälfte der Bewohner eines Landes plötzlich beschließt, sich rote Clownsnasen aufzusetzen, dann hat die Politik diese Entscheidung zu respektieren und die Rahmenbedingungen für das Tragen roter Clownsnasen im öffentlichen Raum zu schaffen. Und zwar für die Männer genauso wie für die Frauen.

Klingt banal? Schön wär’s. Das Maximum an Werteperversion, das die deutsche Politik aktuell zu bieten hat, ist der Missbrauch von Werten, die man sich vor Jahrzehnten auf die Fahnen geschrieben hat um zu verhindern, das ein ganz anderer Wandel politisch beachtet wird. Einer, der seitdem notwendig geworden ist, weil die Vorzeichen sich verändert haben. Im Fall der geschassten Gleichstellungsbeauftragten von Goslar wurden Werte, die man als progressiv betrachtet, dazu verwendet, die Beachtung noch weiter fortgeschrittener gesellschaftlicher Entwicklungen im Keim zu ersticken und die verantwortliche Politikerin mit dem Vorwurf der Werterückständigkeit aus dem Amt zu jagen. Klingt kompliziert? Ist es auch – geradezu lächerlich um die Ecke gedacht.

Die ehemalige Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Goslar, Monica Ebeling, hatte sich neben der Gleichstellung von benachteiligten Frauen nämlich auch der Gleichstellung von benachteiligten Männern verpflichtet gefühlt. Grunddemokratisch angesichts der Bezeichnung ihres Postens, sollte man meinen. Ihre Kolleginnen Frauenpolitikerinnen im Stadtrat von Goslar sahen das scheinbar etwas anders und erklärten, Ebeling wolle die „Benachteiligung von Männern aufzeigen und beseitigen – dies ist nicht unser politischer Wille“.

Man darf wohl fragen, was der politische Wille der Zepter schwingenden Politikerinnen von Goslar sein mag. Ein gesellschaftliches Klima, in dem die Männer den Frauen unterzuordnen sind? Das allerdings würde dem Wert der Gleichstellung vehement widersprechen.

Natürlich ist es den Politikerinnen in diesem wie in vielen anderen Fällen von weitaus größerer politischer Tragweite ein leichtes, ihre Handlungsweise pseudoethisch zu argumentieren: Der Wert der Gleichstellung gilt schließlich seit Jahrzehnten als unantastbar (gut soweit) und ist deshalb zum moralinsauren Totschlagargument avanciert. Augenfällig ist in diesem Fall jedoch der Eindruck, dass es bei der Entsorgung der ungeliebten Kollegin um ganz andere Dinge ging als um den Wert der Gleichstellung. Stattdessen ging es scheinbar um die Verhinderung von Gleichstellung so, wie sie im Jahre 2011 in der Stadt Goslar und vielen anderen deutschen Städten notwendig wäre. Gleichstellung, wie sie ethisch korrekt und der gesellschaftlichen Wertedynamik angemessen wäre – aber eben nicht so, wie sie politisch gewollt ist. Dass es bei der Kündigungsaffäre möglicherweise nicht einmal darum ging, sondern um persönliche Differenzen, die mittels politischer Gebietsbereinigung auf dem Rücken der Ethik ausgetragen wurden, spielt da schon beinahe keine Rolle mehr.

Abgeschafft wurde offiziell eine Gleichstellungsbeauftragte, die sich der Gleichstellung verpflichtet fühlte, weil sie gegen das Wertetikett der Gleichstellung aus jenen Zeiten verstoßen hat, in dem Gleichstellung als Legitimationsinstrument bestimmter politischer Gruppen etabliert wurde. Geradezu absurd kompliziert ist das. Geradezu absurd ist das, basta. Wie so viele Wertethemen hinkt eben auch die Gleichstellung in der Politik der gesellschaftlichen Realität um Meilen hinterher – wird aber noch immer inflationär als progressiver Wert hochgehalten, wenn es um die Legitimation von Partikularinteressen politischer Amtsträger geht.

Die Affäre um Monica Ebeling ist an dieser Stelle ein kleines Beispiel für den täglichen Ethikmissbrauch in der Politik. Natürlich gibt es genügend Beispiele mit weitaus dramatischeren Auswirkungen auf Bundesebene. Und doch ist der Fall Goslar in seinem Aberwitz besonders charakteristisch für den Missbrauch von Werten als Feigenblätter rückständiger Politik, weil hier Lokalpolitikerinnen weitgehend unmaskiert ihre Willkür auslebten, die – bis dahin – nicht so stark unter Beobachtung standen wie etwa Angehörige der Bundesregierung. Auf dieser Ebene freilich wird es noch ernster, wenn Werte missbraucht werden, um politische Macht zu legitimieren – denn genau das geschieht täglich, und immer öfter werden wir Zeugen solcher Skandale, von denen noch einige in diesem Buch Erwähnung finden.

Lobbyismus: Die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln

Nur am Rande sei an dieser Stelle erwähnt, was an anderer Stelle noch eingehend behandelt wird: Die Spitzen der deutschen Wirtschaft, insbesondere der Hochfinanz, haben sich bezüglich ihres Umgangs mit Werten im Zuge der Ausdifferenzierung der föderalistischen Strukturen in Deutschland über die letzten Jahrzehnte hinweg eine dicke Scheibe von der Politik abgeschnitten. Was heute Wirtschaftsethik heißt, darf getrost als Werkzeugkoffer des Lobbyismus betrachtet werden – nicht selten kommt Ethik inzwischen sogar als schamlos ausgeweidete Marketingstrategie daher. Der Milliardenkonzern BP etwa wirbt mit Floskeln wie „saubere Kraftstoffe“ und protzt allen Ernstes damit, in den „nächsten zehn Jahren insgesamt eine Milliarde US-Dollar“ in den Bereich Biokraftstoffe zu investieren. Allein im ersten Quartal 2010, noch in der Erholungsphase von der Finanzkrise, machte der Ölkonzern einen Gewinn von 5,6 Milliarden US-Dollar.

Auch hier ist der Eindruck nicht von der Hand zu weisen, dass sich hochrangige Vertreter der Wirtschaft an dem orientiert haben, was die Vertreter der Politik in unserem Land – wie in vielen anderen – vorleben. Die Mechanismen des Erfolgs gleichen nicht zufällig denen, die auch in der Politik wirksam sind. Viel zu häufig hat das eine sogar mit dem anderen zu tun.

Der Atomausstieg liefert dafür ein besonders plastisches Beispiel. Kaum hat nach den Vorfällen in Fukushima die Bundesregierung unter Zugzwang die Energiewende beschlossen, werden in den politischen Fraktionen die Gegenstimmen laut. Hier lässt sich gut nachvollziehen, wie stark Politik und Wirtschaftsmacht miteinander verkettet sind: Die Bundesregierung lässt sich vorgeblich von unabhängigen Experten beraten, um den Atomausstieg wirtschaftlich verträglich zu gestalten.

Ein Blick auf die Liste der Redner bei den ersten diesbezüglichen Anhörungen vor dem Kabinett im Juni 2011 lässt erahnen, um wessen Interessen es wirklich geht, wenn darüber verhandelt wird, wie die künftige Energiepolitik den Bürgern unter dem Deckmantel von Werten wie „Sicherheit“ und „Umweltschutz“ verkauft werden sollen: „In beiden Anhörungen sollen Stefan Kohler, Chef der halbstaatlichen Deutschen Energieagentur (Dena), und Hildegard Müller, Chefin des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW), Rede und Antwort stehen. Während bei Müller klar ist, dass sie Lobby-Interessen vertreten muss, gilt Kohler als unabhängiger Experte. Das stimmt für Kohler aber ebenso wenig wie für Joachim Knebel vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT), den die FDP geladen hat. Der Etat von Kohlers Dena wird nicht unwesentlich von den großen Energiekonzernen bestritten. Im Aufsichtsrat sind das Wirtschafts- und das Umweltministerium vertreten, doch Kohler hat in den vergangenen Jahren Positionen eingenommen, die seinen Geldgebern genutzt haben. … Der Experte Knebel wiederum spricht für das ehemalige Kernforschungszentrum Karlsruhe. Das KIT ist oder war Mitglied in nahezu allen Lobbyorganisationen der Atomwirtschaft.“

Geschickt vertuschter Lobbyismus ist nur eine von vielen ethischen Verfehlungen der Politik und der Wirtschaft gleichermaßen. Er ist jedoch eine, die in besonderem Umfang und unter dem Deckmantel des Schweigens stattfindet. Jeder weiß, dass es ihn gibt, und doch weiß kaum jemand, wie er funktioniert – weil Lobbyisten entweder ganz und gar unsichtbar bleiben, oder sich durch pseudoethisches Marketing in Wertediskussionen einbringen, die zur Ablenkung von ihren äußerst unethischen Geschäftspraktiken dienen. Wenn solche Praktiken gezielt durch die Politik befördert werden und ganze Konzerne zum Erfolg führen, ist es nicht verwunderlich, dass derartige Methoden sich noch bis in die kleinsten Verästelungen von Unternehmensstrukturen fortsetzen, unter denen letztlich noch der einzelne Angestellte zu leiden hat.

Was über Jahrzehnte hinweg unter dem Deckmantel des Schweigens im großen Stil betrieben werden konnte, kommt heute allerdings vermehrt ans Licht der Öffentlichkeit. Meldungen über Korruptionsskandale sind inzwischen auch im Wirtschaftsteil der Zeitungen an der Tagesordnung. Immer geht dabei der Schaden zu Lasten des gesellschaftlichen Wohlstands, oft genug aber auch zulasten der Wohlstands des Einzelnen; um individuelle wie gemeinschaftliche Sicherheit. Gespielt wird in jedem Fall mit den Werten, die die gesellschaftliche Aufgabe von Wirtschaft wie von Politik ausmachen.

So ist es nicht verwunderlich, dass die Wirtschaftsethik mehr noch als die Ethik anderer gesellschaftlicher Bereiche in diesen Tagen als Widerspruch in sich betrachtet wird: Wirtschaft und Ethik, das bringt in der Öffentlichkeit kaum noch jemand zusammen. Die Krise der Ethik findet ihr Epizentrum in der Krise der Wirtschaftsethik.

Und doch liegt meine Hoffnung für die Ethik inmitten ihrer Krise nicht zuletzt genau hier: in der Wirtschaft. Bevor wir uns jenen Funken der Hoffnung inmitten des Gerölls der Wirtschaft alter Schule zuwenden, gilt es allerdings noch genauer hinzuschauen, wie die Vertreter jener alten Schule unseren Unternehmen täglich Schaden zufügen. Das geschieht nämlich schon weit unterhalb der Ebene des wirtschaftspolitischen Lobbyismus, in Unternehmen aller Art, tagtäglich, in unser aller Umfeld, innerhalb unseres persönlichen Radars. Nur hinschauen müssen wir selbst.

Wir statt Gier

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