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1.2 Literaturgeschichte und Kulturgeschichte

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Prinzipien der Darstellung

Damit ist der Zeitraum umrissen, dessen Literatur hier zum Gegenstand einer Einführung werden soll. Mit Einführung ist nun keineswegs gemeint – um noch einmal einige der Prinzipien in Erinnerung zu rufen, die im Vorwort zu Band 1 dieser Literaturgeschichte dargelegt worden sind – daß im folgenden auf eine besonders elementare Weise von der Literatur des 19. Jahrhunderts gehandelt werden soll; daß es nur um eine erste Orientierung und Basisinformationen für den Anfänger in der Wissenschaft gehen soll, etwa um einen Überblick über die wichtigsten Daten, Namen und Werke. Vielmehr soll versucht werden, möglichst viel von dem in den Blick zu bekommen, was diese Literatur „im Innersten bewegt“; was die Autoren und ihre Leser seinerzeit umgetrieben hat, was für sie die großen Themen, die entscheidenden Fragen und Probleme gewesen sind und was sie für deren Durchdringung und Bewältigung an formalen Lösungen gefunden haben. Der heutige Leser soll damit in die Lage versetzt werden, ein Verständnis, um nicht zu sagen: ein Gefühl für die Texte des 19. Jahrhunderts zu entwickeln, ein Gespür für ihre spezifischen thematischen Obsessionen und formalen Mittel; denn dessen bedarf er vor allem, wenn er mit ihnen ins Gespräch kommen will.

Das kann aber nur gelingen, wenn auf jeden Anspruch der Vollständigkeit verzichtet und eine Auswahl, eine Entscheidung für eine überschaubare Zahl von Autoren und Werken getroffen wird; nur so wird eine Intensität der Auseinandersetzung möglich, die in der Tat ins Zentrum der Verstehensprobleme führt. Dabei kann freilich davon ausgegangen werden, daß das, was sich in solch exemplarischen Studien in Erfahrung bringen läßt, dazu verhilft, auch mit anderen Autoren und Werken besser zurechtzukommen. Denn was den einen Autor umgetrieben hat, hat im allgemeinen auch die anderen beschäftigt, wie die Zeitgenossen überhaupt. Das gilt jedenfalls für die Autoren, deren Werke ein breiteres Publikum erreicht haben und in den Kanon der [<<10] Literaturgeschichte eingegangen sind; wenn sie nicht den Nerv der Zeit getroffen hätten, hätten sie kaum einen solchen Erfolg haben können.

Den Leser erwartet hier also kein lexikalischer Aufmarsch von literaturhistorischen Daten und Fakten, keine auf Vollständigkeit angelegte Aneinanderreihung von Stichwortartikeln zu literarischen Bewegungen, Autoren und Werken. Er wird nicht über alle literarischen Erscheinungen, Strömungen und Gruppierungen informiert werden, mit denen sich die Literaturwissenschaft beim Blick auf das 19. Jahrhundert zu befassen pflegt und die sie unter diesem oder jenem Gesichtspunkt als bedeutsam einstuft. Wer Vollständigkeit sucht, der möge zu einem der vielen Handbücher greifen, die Entsprechendes bieten, zu Autoren-, Werk- und Begriffslexika. Hier soll es vor allem darum gehen, dem Leser einen Zugang zu dem zu eröffnen, was die Literatur des 19. Jahrhunderts „im Innersten bewegt“, ihm möglichst viel von dem mitzugeben, was es ihm erlaubt, ein Verständnis für ihre Texte zu entwickeln und auf eigene Rechnung in das Gespräch mit ihnen einzutreten.

Literatur- und Kulturgeschichte

Dem wird eine Einführung wie diese aber nur genügen können, wenn sie sich an etwas versucht, das man eine Kulturgeschichte der Literatur nennen könnte, oder auch eine Literaturgeschichte der Kultur, genauer: wenn sie beides in einem zu geben versucht, eine Geschichte der Kultur, wie sie sich in der Literatur bezeugt, und eine Geschichte der Literatur, wie sie sich an den kulturgeschichtlichen Gegebenheiten abarbeitet. Denn die Literatur bezieht ihre Stichworte, ihre Motive und Fragen sowie die Möglichkeiten zu deren Verhandlung weithin aus den geschichtlich-gesellschaftlichen Verhältnissen, in die sie eingelassen ist, und aus dem Repertoire von Vorstellungen, von Diskursen, die ihr die zeitgenössische Kultur zur Verfügung stellt. Insofern läßt sich Literaturgeschichte nur als Kulturgeschichte schreiben; ohne das Eingehen auf die weiteren kulturgeschichtlichen Zusammenhänge, in die die Autoren und ihre Werke eingebettet sind, würde die Auseinandersetzung mit ihnen zu einem windigen Unternehmen, bliebe sie notwendigerweise beliebig und oberflächlich.

Die anthropologische Dimension der Literatur

Dabei ist allerdings zu bedenken, daß die Literatur nicht völlig in der Kulturgeschichte und den historischen „Diskurskonstellationen“ aufgeht. Es bleibt immer ein Rest, jedenfalls bei den Werken von Bedeutung, und gerade dieser Rest ist für den Leser im allgemeinen [<<11] von besonderem Interesse. Nicht alle Fragen der Literatur sind gleichermaßen kulturgeschichtliche Fragen. Die Literaturgeschichte weiß von einer Fülle von Themen, die den geschichtlichen Wandel überdauern, von einem Grundbestand an Fragen, die mit dem Menschsein überhaupt zu tun haben, die von anthropologischer Bedeutung sind. Gerade diese hat die Literatur seit jeher mit Vorliebe aufgesucht, wie immer die geschichtlich-gesellschaftlichen Verhältnisse ausgesehen haben mögen, unter denen sie ihnen Ausdruck zu verleihen suchte.

Man denke nur an Themen wie Liebe und Tod, wie Begehren, Sehnsucht, Hoffnung, Erfüllung und Enttäuschung, wie Freundschaft und Rivalität, Macht und Ohnmacht, Glück und Unglück, Erfolg und Scheitern, Schuld und Unschuld. Was heißt es, Kind zu sein, heranzuwachsen, sich einen Platz im Leben zu suchen, sich mit anderen Menschen und mit einem gesellschaftlichen Umfeld ins Verhältnis zu setzen, Anerkennung zu gewinnen, Anerkennung zu verlieren, alt zu werden und sein Leben hinter sich zu haben? Was heißen Schicksal, Freiheit, Gerechtigkeit? Was ist der Mensch und was ist ihm die Welt? Die Reihe der Fragen, die die Literatur zu allen Zeiten und in allen Weltgegenden gleichermaßen beschäftigt haben, ließe sich unschwer verlängern.

Der literarische Text als Dokument und Monument

Gerade um solcher und ähnlicher Fragen willen sind literarische Texte der Vergangenheit nicht nur für den Historiker interessant, zählen sie nicht nur als Dokumente, als historische Quellen für die Erkenntnis bestimmter kulturgeschichtlicher Verhältnisse und Entwicklungen, gewinnen sie vielfach darüber hinaus auch die Qualität von Monumenten, von Werken, die die Menschen über allen Wandel der Verhältnisse hinweg immer wieder neu anzusprechen und zu erreichen vermögen, kann es zum Beispiel für uns als Menschen des 21. Jahrhunderts interessant sein, uns Werke des 19. Jahrhunderts zu Gemüte zu führen. Solches Dauern-Können, solches Interessant-bleiben-Können verdankt die Literatur vor allem ihren ästhetischen Qualitäten; diese machen es ihr möglich, jene ewigen Probleme des Menschen so auszuarbeiten, daß ihre Werke über den Wechsel der Zeiten hinweg faszinierend und aufschlußreich bleiben.

Es ist freilich nicht allein der „monumentale“ Charakter, der uns die Literatur des 19. Jahrhunderts nahebringt; es sind durchaus auch die Züge, die sie zu einem Dokument der geschichtlichen Verhältnisse [<<12] und Prozesse machen. Denn diese markieren Stationen eines Wegs, auf dem wir heute noch immer begriffen sind. Sie bezeichnen nämlich Etappen in dem Prozeß, den die moderne Sozialwissenschaft Modernisierung nennt. Die geschichtlich-gesellschaftlichen Verhältnisse und Prozesse, die sich in der Literatur des 19. Jahrhunderts bezeugen und mit denen sie sich auseinandersetzt, ergeben sich wesentlich aus dem Projekt und den Problemen der Modernisierung, und diese sind heute im Prinzip noch dieselben wie im 19. Jahrhundert.

Geschichte der deutschen Literatur Band 4

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