Читать книгу Hamburgische Dramaturgie - Г. Э. Лессинг, Gotthold Ephraim Lessing - Страница 19

Erster Band
Achtzehntes Stueck Den 30. Junius 1767

Оглавление

Den einundzwanzigsten Abend (mittewochs, den 20. Mai) wurde das Lustspiel des Marivaux "Die falschen Vertraulichkeiten" aufgefuehrt.

Marivaux hat fast ein ganzes halbes Jahrhundert fuer die Theater in Paris gearbeitet; sein erstes Stueck ist vom Jahre 1712, und sein Tod erfolgte 1763, in einem Alter von zweiundsiebzig. Die Zahl seiner Lustspiele belaeuft sich auf einige dreissig, wovon mehr als zwei Dritteile den Harlekin haben, weil er sie fuer die italienische Buehne verfertigte. Unter diese gehoeren auch "Die falschen Vertraulichkeiten", die 1736 zuerst, ohne besonderen Beifall, gespielet, zwei Jahre darauf aber wieder hervorgesucht wurden, und desto groessern erhielten.

Seine Stuecke, so reich sie auch an mannigfaltigen Charakteren und Verwicklungen sind, sehen sich einander dennoch sehr aehnlich. In allen der naemliche schimmernde und oefters allzu gesuchte Witz; in allen die naemliche metaphysische Zergliederung der Leidenschaften; in allen die naemliche blumenreiche, neologische Sprache. Seine Plane sind nur von einem sehr geringen Umfange; aber, als ein wahrer Kallipides seiner Kunst, weiss er den engen Bezirk derselben mit einer Menge so kleiner und doch so merklich abgesetzter Schritte zu durchlaufen, dass wir am Ende einen noch so weiten Weg mit ihm zurueckgelegt zu haben glauben.

Seitdem die Neuberin, sub auspiciis Sr. Magnifizenz des Herrn Prof. Gottscheds, den Harlekin oeffentlich von ihrem Theater verbannte, haben alle deutsche Buehnen, denen daran gelegen war, regelmaessig zu heissen, dieser Verbannung beizutreten geschienen. Ich sage, geschienen; denn im Grunde hatten sie nur das bunte Jaeckchen und den Namen abgeschafft, aber den Narren behalten. Die Neuberin selbst spielte eine Menge Stuecke, in welchen Harlekin die Hauptperson war. Aber Harlekin hiess bei ihr Haenschen, und war ganz weiss, anstatt scheckicht gekleidet. Wahrlich, ein grosser Triumph fuer den guten Geschmack!

Auch "Die falschen Vertraulichkeiten" haben einen Harlekin, der in der deutschen Uebersetzung zu einem Peter geworden. Die Neuberin ist tot, Gottsched ist auch tot: ich daechte, wir zoegen ihm das Jaeckchen wieder an.—Im Ernste; wenn er unter fremdem Namen zu dulden ist, warum nicht auch unter seinem? "Er ist ein auslaendisches Geschoepf", sagt man. Was tut das? Ich wollte, dass alle Narren unter uns Auslaender waeren! "Er traegt sich, wie sich kein Mensch unter uns traegt":—so braucht er nicht erst lange zu sagen, wer er ist. "Es ist widersinnig, das naemliche Individuum alle Tage in einem andern Stuecke erscheinen zu sehen." Man muss ihn als kein Individuum, sondern als eine ganze Gattung betrachten; es ist nicht Harlekin, der heute im "Timon", morgen im "Falken", uebermorgen in den "Falschen Vertraulichkeiten", wie ein wahrer Hans in allen Gassen, vorkoemmt; sondern es sind Harlekine; die Gattung leidet tausend Varietaeten; der im "Timon" ist nicht der im "Falken"; jener lebte in Griechenland, dieser in Frankreich; nur weil ihr Charakter einerlei Hauptzuege hat, hat man ihnen einerlei Namen gelassen. Warum wollen wir ekler, in unsere Vergnuegungen waehliger und gegen kahle Vernuenfteleien nachgebender sein, als—ich will nicht sagen, die Franzosen und Italiener sind—sondern, als selbst die Roemer und Griechen waren? War ihr Parasit etwas anders, als der Harlekin? Hatte er nicht auch seine eigene, besondere Tracht, in der er in einem Stuecke ueber dem andern vorkam? Hatten die Griechen nicht ein eigenes Drama, in das jederzeit Satyri eingeflochten werden mussten, sie mochten sich nun in die Geschichte des Stuecks schicken oder nicht?

Harlekin hat, vor einigen Jahren, seine Sache vor dem Richterstuhle der wahren Kritik, mit ebenso vieler Laune als Gruendlichkeit, verteidiget. Ich empfehle die Abhandlung des Herrn Moeser ueber das Groteske-Komische allen meinen Lesern, die sie noch nicht kennen; die sie kennen, deren Stimme habe ich schon. Es wird darin beilaeufig von einem gewissen Schriftsteller gesagt, dass er Einsicht genug besitze, dermaleins der Lobredner des Harlekins zu werden. Itzt ist er es geworden! wird man denken. Aber nein; er ist es immer gewesen. Den Einwurf, den ihm Herr Moeser wider den Harlekin in den Mund legt, kann er sich nie gemacht, ja nicht einmal gedacht zu haben erinnern.

Ausser dem Harlekin koemmt in den "Falschen Vertraulichkeiten" noch ein anderer Bedienter vor, der die ganze Intrige fuehret. Beide wurden sehr wohl gespielt; und unser Theater hat ueberhaupt an den Herren Hensel und Merschy ein paar Akteurs, die man zu den Bedientenrollen kaum besser verlangen kann.

Den zweiundzwanzigsten Abend (donnerstags, den 21. Mai) ward die "Zelmire" des Herrn Du Belloy aufgefuehret.

Der Name Du Belloy kann niemanden unbekannt sein, der in der neuern franzoesischen Literatur nicht ganz ein Fremdling ist. Des Verfassers der "Belagerung von Calais"! Wenn es dieses Stueck nicht verdiente, dass die Franzosen ein solches Laermen damit machten, so gereicht doch dieses Laermen selbst den Franzosen zur Ehre. Es zeigt sie als ein Volk, das auf seinen Ruhm eifersuechtig ist; auf das die grossen Taten seiner Vorfahren den Eindruck nicht verloren haben; das, von dem Werte eines Dichters und von dem Einflusse des Theaters auf Tugend und Sitten ueberzeugt, jenen nicht zu seinen unnuetzen Gliedern rechnet, dieses nicht zu den Gegenstaenden zaehlet, um die sich nur geschaeftige Muessiggaenger bekuemmern. Wie weit sind wir Deutsche in diesem Stuecke noch hinter den Franzosen! Es gerade herauszusagen: wir sind gegen sie noch die wahren Barbaren! Barbarischer, als unsere barbarischsten Voreltern, denen ein Liedersaenger ein sehr schaetzbarer Mann war, und die, bei aller ihrer Gleichgueltigkeit gegen Kuenste und Wissenschaften, die Frage, ob ein Barde, oder einer, der mit Baerfellen und Bernstein handelt, der nuetzlichere Buerger waere? sicherlich fuer die Frage eines Narren gehalten haetten!—Ich mag mich in Deutschland umsehen, wo ich will, die Stadt soll noch gebauet werden, von der sich erwarten liesse, dass sie nur den tausendsten Teil der Achtung und Erkenntlichkeit gegen einen deutschen Dichter haben wuerde, die Calais gegen den Du Belloy gehabt hat. Man erkenne es immer fuer franzoesische Eitelkeit: wie weit haben wir noch hin, ehe wir zu so einer Eitelkeit faehig sein werden! Was Wunder auch? Unsere Gelehrte selbst sind klein genug, die Nation in der Geringschaetzung alles dessen zu bestaerken, was nicht geradezu den Beutel fuellet. Man spreche von einem Werke des Genies, von welchem man will; man rede von der Aufmunterung der Kuenstler; man aeussere den Wunsch, dass eine reiche bluehende Stadt der anstaendigsten Erholung fuer Maenner, die in ihren Geschaeften des Tages Last und Hitze getragen, und der nuetzlichsten Zeitverkuerzung fuer andere, die gar keine Geschaefte haben wollen, (das wird doch wenigstens das Theater sein?) durch ihre blosse Teilnehmung aufhelfen moege:—und sehe und hoere um sich. "Dem Himmel sei Dank", ruft nicht bloss der Wucherer Albinus, "dass unsere Buerger wichtigere Dinge zu tun haben!"

––Eu!

Rem poteris servare tuam!—

Wichtigere? Eintraeglichere; das gebe ich zu! Eintraeglich ist freilich unter uns nichts, was im geringsten mit den freien Kuensten in Verbindung stehet. Aber,

–haec animos aerugo er cura peculi Cum semel imbuerit—

Doch ist vergesse mich. Wie gehoert das alles zur "Zelmire"?

Du Belloy war ein junger Mensch, der sich auf die Rechte legen wollte oder sollte. Sollte, wird es wohl mehr gewesen sein. Denn die Liebe zum Theater behielt die Oberhand; er legte den Bartolus beiseite und ward Komoediant. Er spielte einige Zeit unter der franzoesischen Truppe zu Braunschweig, machte verschiedene Stuecke, kam wieder in sein Vaterland und ward geschwind durch ein paar Trauerspiele so gluecklich und beruehmt, als ihn nur immer die Rechtsgelehrsamkeit haette machen koennen, wenn er auch ein Beaumont geworden waere. Wehe dem jungen deutschen Genie, das diesen Weg einschlagen wollte! Verachtung und Bettelei wuerden sein gewissestes Los sein!

Das erste Trauerspiel des Du Belloy heisst "Titus"; und "Zelmire" war sein zweites. "Titus" fand keinen Beifall, und ward nur ein einziges Mal gespielt. Aber "Zelmire" fand desto groessern; es ward vierzehnmal hintereinander aufgefuehrt, und die Pariser hatten sich noch nicht daran satt gesehen. Der Inhalt ist von des Dichters eigener Erfindung.

Ein franzoesischer Kunstrichter11 nahm hiervon Gelegenheit, sich gegen die Trauerspiele von dieser Gattung ueberhaupt zu erklaeren: "Uns waere", sagt er, "ein Stoff aus der Geschichte weit lieber gewesen. Die Jahrbuecher der Welt sind an beruechtigten Verbrechen ja so reich; und die Tragoedie ist ja ausdruecklich dazu, dass sie uns die grossen Handlungen wirklicher Helden zur Bewunderung und Nachahmung vorstellen soll. Indem sie so den Tribut bezahlt, den die Nachwelt ihrer Asche schuldig ist, befeuert sie zugleich die Herzen der Itztlebenden mit der edlen Begierde, ihnen gleich zu werden. Man wende nicht ein, dass 'Zaire', 'Alzire', 'Mahomet' doch auch nur Geburten der Erdichtung waeren. Die Namen der beiden ersten sind erdichtet, aber der Grund der Begebenheiten ist historisch. Es hat wirklich Kreuzzuege gegeben, in welchen sich Christen und Tuerken zur Ehre Gottes, ihres gemeinschaftlichen Vaters, hassten und wuergten. Bei der Eroberung von Mexiko haben sich notwendig die gluecklichen und erhabenen Kontraste zwischen den europaeischen und amerikanischen Sitten, zwischen der Schwaermerei und der wahren Religion aeussern muessen. Und was den 'Mahomet' anbelangt, so ist er der Auszug, die Quintessenz, so zu reden, aus dem ganzen Leben dieses Betruegers; der Fanatismus, in Handlung gezeigt; das schoenste philosophische Gemaelde, das jemals von diesem gefaehrlichen Ungeheuer gemacht worden."

11

"Journal Encyclopedique", Juillet 1762.

Hamburgische Dramaturgie

Подняться наверх