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|7| »Romeo und Julia« unter den Brücken von New York
ОглавлениеRund 350 Jahre nach William Shakespeares Tragödie Romeo and Juliet fanden vier amerikanische Bühnenkünstler zusammen, um aus der Renaissance-Vorlage ein aktuelles Zeitstück zu formen. In fast zehnjähriger Arbeit, von 1948 bis 1957, schufen der Autor Arthur Laurents, der Choreograf und Regisseur Jerome Robbins, der Songtexter und Komponist Stephen Sondheim und der Komponist Leonard Bernstein ein bewegendes Meisterwerk, das in den dauerhaften Bestand des internationalen Repertoires einging. Ausgehend von der Idee, den Familienkonflikt zwischen den adeligen Familien der Montagues und Capulets, wie ihn Shakespeare gestaltet hatte, nach New York zu verlegen, nunmehr ausgetragen von zwei Straßenbanden, gelang Laurents nicht nur eine kongeniale Adaption von Szene zu Szene, von Figur zu Figur, sondern die Autoren griffen auch das seinerzeit gravierende gesellschaftliche Problem der »Juvenile Delinquents« auf, der »Halbstarken«, wie es im Deutschen hieß. Filme wie The Wilde One mit Marlon Brando oder Rebel Without a Cause mit James Dean thematisierten dasselbe Thema mit den Mittel der cineastischen Kunst.
In der West Side Story prallen weiße, englischsprachige Kids und farbige Latinos aus Puerto Rico aufeinander, amerikanische Staatsbürger gleichermaßen. Eine dramatische Geschichte von Liebe, Hass und Hoffnung entfaltet sich, von Leidenschaft, Rache und Gewalt, in der zum Schluss das blutjunge puerto-ricanische Mädchen Maria die Aufgabe von Shakespeares Prinzen Escalus übernimmt und die verfeindeten Jugendbanden über dem toten Körper ihres Geliebten Tony versöhnt.
Alles an diesem Musical ist ungewöhnlich: Robbins hatte die Idee, der zudem bereits zu Anfang der Zusammenarbeit darauf verwies, dass nur der Tanz die aggressive Energie der jugendlichen Körper zum Ausdruck bringen kann. (Die Erwachsenen, deren Autorität von den Kids |8| nicht akzeptiert wird, bleiben ausgegrenzt: Sie erhalten weder Musik noch Tanz.) Laurents schrieb zum ersten Mal in der Gattungsgeschichte des Musicals eine Tragödie, die er bis in die kleinsten Details durchformte. Alle Bemühungen der beteiligten Personen, die Geschichte zu einem guten Ende zu führen, scheitern – scheitern an den gesellschaftlichen Umständen. Das Fatum ist zwar menschengemacht, doch unabwendbar. Sondheim verfasste Verse, die mit zum Besten gehören, was je für den Broadway geschrieben wurde. Und Bernstein komponierte eine Musik, die in das kollektive Liedgut der Kulturen rund um die Welt einging.
Gleichwohl: Als die West Side Story 1961 in einer originalen Tourneefassung in die Bundesrepublik kam, floppte die Produktion nicht nur beim Publikum, sondern auch das Feuilleton ließ kein gutes Haar an dem Werk; »Kitsch«, schrieb etwa angeekelt Joachim Kaiser. Doch nur zehn Jahre später, als die ersten deutschsprachigen Inszenierungen in den Theatern auf die Bühne kamen, fielen die Urteile völlig anders aus. Nun lobte man einhellig die Qualität von Text und Musik, erkannte die universelle Wahrheit des Konflikts, auch jenseits der Halbstarken-Krawalle, und stieß sich nicht länger an der tonalen und populären Musiksprache Bernsteins. Die gesellschaftlichen Entwicklungen in den 1960er-Jahren, zu denen Hippies, APO, Vietnam-Krieg und Studentenunruhen die Stichworte liefern, hatten die Rezeption grundlegend geändert. Aus dem Wagnis, als das die Autoren 1956 ihre Arbeit angesehen hatten, war ein Klassiker geworden, der seitdem von jeder nachwachsenden Zuschauergeneration aufs Neue mit Leben und Zeitbezügen aufgeladen wird. Heute ist man daher eingeladen, Zeuge einer anhaltenden Beschäftigung zu sein, die auch andere Genres wie Jazz, Rock und Pop sowie andere Medien wie das Fernsehen und den Film umfasst und unzählige Knotenpunkte im Word Wide Web bildet.
Dieses Buch entstand in Gemeinschaftsarbeit der beiden Autoren: Wolfgang Jansen verfasste die Kapitel »Das Creative Team«, »Die Entstehung« und »Vom Wagnis zum Klassiker«; von Gregor Herzfeld stammen die Abschnitte »Die dramaturgische und musikalische Gestaltung« sowie »Jenseits der Bühne«.