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Leonard Bernstein, der Komponist

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Leonard Bernstein gehörte zu den prägnantesten Persönlichkeiten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er war ein internationaler Star der Musikwelt, er war der erste in den USA geborene und ausgebildete Musiker, der zum Leiter eines großen Orchesters ernannt wurde, und er war der erste amerikanische Komponist und Dirigent, der auch im Ausland ungeteilte Anerkennung fand. Sein Leben versinnbildlicht das, was man als den »amerikanischen Traum« bezeichnet. Es wirkt wie eine Bestätigung, dass es »jeder schaffen kann«, dass man sich vom »Tellerwäscher zum Millionär« emporarbeiten kann. Tatsächlich bietet Bernstein auch jenseits der klischeehaften Metaphern ein anschauliches Beispiel für mögliche Lebensläufe in einer offenen, demokratischen und schichtendurchlässigen Gesellschaft.

Dabei entsprach Bernstein zeitlebens keineswegs den eher konservativen Traditionen und Gepflogenheiten des Konzertsaals. Er folgte vielmehr seinen eigenen Vorstellungen, auch wenn diese ihn in Konflikt brachten mit den arrivierten Kreisen der internationalen Orchesterwelt. Viele Ratschläge wohlmeinender und einflussreicher Kollegen, die Bernstein insbesondere in der Frühzeit seiner Karriere etwa eine Entscheidung zwischen Dirigieren und Komponieren, zwischen Konzertsaal und Broadway nahelegten, stießen bei ihm auf taube Ohren. Er konnte oder wollte sich nicht festlegen. So entfaltete Bernstein im Laufe seines Lebens ein Kaleidoskop an musikalischen Berufsfeldern.

Aufgrund dieser unglaublichen Vielfalt fallen die publizierten Biografien zwangsläufig höchst unterschiedlich aus. Kaum ein Biograf kann dem Zwang, Schwerpunkte auf bestimmte berufliche Aspekte zu setzen, entgehen. Dies betrifft insbesondere den gemeinhin als Gegensatz verstandenen Unterschied zwischen Konzertsaal und Broadway, zwischen |10| »High-« und »Low-Brows«, oder wie es im Deutschen heißt: zwischen »E-« und »U-Musik«. Dies betrifft aber auch den Geschäftsmann Bernstein, der – wenn überhaupt – nur am Rande Erwähnung findet. Dabei begann Bernstein schon in jungen Jahren die aufblühende Medienwelt der 1950er-Jahre zu nutzen, um seinen Namen als »Marke« aufzubauen.

Leonard Bernstein über seine Berufsauffassung

»Es ist mir unmöglich, ausschließlich Dirigent, Komponist, Theaterautor oder Pianist zu sein. Das, was mir in einem bestimmten Augenblick als richtig erscheint, ist genau das, was ich tun muss. Das geschieht natürlich auf Kosten einer eindeutigen Einordnung oder einer sonstwie ausschließlichen Beschäftigung mit Musik. Wenn ich in einer Saison dirigiere, kann ich nicht eine Note komponieren; wenn ich das Gefühl habe, dass ich einen Song schreiben muss, kann ich nicht Beethovens Neunte dirigieren. Das alles hat seine besondere Ordnung, die sehr schwer zu planen ist, wie ich zugeben muss; ich muss mich jedoch streng an diese Ordnung halten. Denn das Ziel ist die Musik und nicht die Konventionen des Musikgeschäfts.«

Geboren wurde er am 25. August 1918 in Lawrence, Massachusetts, etwa 40 Kilometer nördlich von Boston. Er erhielt den Vornamen »Louis«, den er im Alter von 16 Jahren in »Leonard« änderte, da seine Eltern ihn ohnehin nie anders gerufen hatten. Seine Mutter war 1905, sein Vater 1908 aus dem zaristischen Russland in die USA eingewandert, 1917 hatten sie geheiratet. Nach der Geburt des Sohnes blieb die Mutter Charna (woraus in den USA »Jennie« wurde) zu Hause und versorgte den Haushalt, während der Vater Schmuel Josef (der sich in den USA »Samuel« bzw. »Sam« nannte) in das Friseurgeschäft seines Onkels einstieg und sich langsam nach oben arbeitete. Kunst und Musik hatten in der Familie kaum Platz. Leonards frühe musikalische Eindrücke bildeten die Gesänge in der Synagoge und die populären Schlager, die auf Schallplatten zu hören waren.

Der Junge entwickelte indes ein frühes und hartnäckiges Interesse an der Musik, trotzte seinen Eltern das Geld für Klavierstunden ab und begann erste Kompositionen zu notieren. Gegen den anhaltenden Widerstand seines Vaters studierte Bernstein von 1935 bis 1939 Musik an der Harvard-Universität. In dieser Zeit lernte er den Komponisten Aaron Copland und den griechischen Dirigenten Dimitri Mitropoulos kennen, die beide nachhaltigen Einfluss auf den jungen Musiker ausübten. Unter |11| den Studenten befand sich auch Adolph Green, mit dem Bernstein später mehrfach bei Broadway-Produktionen zusammenarbeiten sollte und lebenslang befreundet blieb.

1939 wechselte er für zwei Jahre an das Curtis Institute in Philadelphia, wo er unter anderem bei Fritz Reiner studierte. 1940 kam er zum ersten Mal an die Sommerschule des Berkshire Music Center in Tanglewood in Massachusetts. Dort besuchte er Klassen des russischen Dirigenten Serge Koussevitzky, der zu den Gründern des Sommercamps gehörte, sich trotz unterschiedlichen Alters und Temperaments mit Bernstein befreundete und zu einem wichtigen Förderer seiner Karriere werden sollte. Tanglewood nahm in Bernsteins Leben eine ganz besondere Stellung ein: Nicht nur dirigierte er dort im Sommer 1940 sein erstes Konzert und trat in den folgenden Jahrzehnten immer wieder als Dozent in Erscheinung, sondern in Tanglewood dirigierte er auch am 19. August 1990, gut zwei Monate vor seinem Tod, mit dem Boston Symphony Orchestra sein letztes Konzert. Tanglewood war der Ort, wo die Musikwelt zum ersten Mal auf das junge Talent aufmerksam wurde, auch wenn noch nicht klar war, ob er nun Pianist, Komponist oder Dirigent werden wollte.

Nach Abschluss seines Studiums am Curtis Institute ging er 1941 nach New York, schlug sich dort mit verschiedenen Jobs durch, wurde von Green, der mittlerweile zusammen mit Betty Comden und anderen Freunden musikalische Comedy-Programme in kleinen Theatern in Greenwich Village aufführte, in die New Yorker Theater- und Ballettszene eingeführt, arbeitete 1942 als Assistent von Koussevitzky in Tanglewood und komponierte seine erste Sinfonie: Jeremiah.

Dann folgten die beiden entscheidenden Jahre 1943 und 1944. Wie in einem Brennglas konzentrierte sich in dieser kurzen Zeitspanne all das, was den späteren Weltstar einmal auszeichnen sollte. Es begann damit, dass er von Artur Rodziński zum stellvertretenden Dirigenten des New York Philharmonic Orchestra ernannt wurde. Als solcher hatte er einzuspringen, wenn aus irgendwelchen Gründen der vorgesehene Dirigent verhindert war. Der 14. November 1943 wurde zum Schicksalstag: Der fast 70-jährige Bruno Walter fiel aufgrund einer ernsten Erkältung für ein Konzert in der Carnegie Hall aus, das vom Rundfunk landesweit live ausgestrahlt werden sollte. Ohne jede Orchesterprobe musste Bernstein die Aufgabe übernehmen. Ohne Dirigierstab, wie er es bei Mitropoulos gesehen hatte, trat der 25-Jährige vor New Yorks bedeutendsten Klangkörper, gespannt erwartet von den Fachjournalisten, die natürlich zuvor über den Personalwechsel informiert worden waren. Das Wunder geschah: Nicht nur akzeptierten ihn die Musiker sofort als Autorität, sondern auch das |12| Publikum und die Kritiker waren sich über die außergewöhnliche Leistung dieses jungen, eingesprungenen Dirigenten mit seinen unordentlich gekämmten Haaren und seinem expressionistischen Körpereinsatz einig. Die New York Times jubelte: »Es ist eine echte amerikanische Erfolgsstory. Die warmherzige Begeisterung darüber erfüllte die Carnegie Hall und wurde über den Äther hinausgetragen.«

Am 28. Januar 1944, nur gut zwei Monate später, dirigierte Bernstein die Uraufführung seiner ersten Sinfonie Jeremiah. Die Komposition bezieht sich auf die Geschichte des alttestamentarischen Propheten Jeremias, von Bernstein anlässlich der Uraufführung in den aktuellen zeitgeschichtlichen Kontext gestellt. Der 3. Satz »Lamentation«, so Bernstein gegenüber der Presse, beklage zwar die Zerstörung Jerusalems, doch beziehe er sich gleichzeitig auf die »Probleme meines eigenen Volkes« in Europa, also auf den Holocaust (soweit man in der amerikanischen Öffentlichkeit zu jener Zeit bereits davon wusste).

Zur gleichen Zeit saß Bernstein schon über einer weiteren Komposition, dieses Mal zu einem Ballett, das vom American Ballet Theatre an der Met uraufgeführt werden sollte. Der gleichaltrige Tänzer und Choreograf Jerome Robbins hatte ihn für die Idee gewinnen können, als an die Vertretung für Walter noch nicht zu denken war. Jetzt konnte sich Bernstein einer erhöhten Aufmerksamkeit für seine neue Arbeit sicher sein. Am 18. April 1944 war es so weit: Fancy Free, ein gut 25-minütiges Ballett über drei amerikanische Matrosen in einer New Yorker Bar, die sich um zwei Mädchen bemühen, dabei aber untereinander in Streit geraten, feierte seine Premiere. Robbins selbst tanzte einen der Matrosen. Hatte vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund des Eintritts der USA in den Zweiten Weltkrieg Agnes de Mille mit ihrer Choreografie Rodeo kurz zuvor die glorreiche amerikanische Historie beschworen, praktisch das tänzerische Gegenstück zum Musical Oklahoma! von Richard Rodgers und Oscar Hammerstein, so blieben Bernstein und Robbins ganz der Gegenwart verpflichtet, zumal die US-Marine kurz zuvor auf dem pazifischen Kriegsschauplatz die militärische Wende herbeigeführt hatte. Robbins arbeitete bei seiner Choreografie mit Jitterbug-Schritten und Bewegungsmustern aus zeitgenössischen Gesellschaftstänzen; Bernstein gab ihm dazu eine Partitur an die Hand, die von Jazz-, Blues-, American-Waltz- und Marschmelodien lebte und den Hörern einen Klangraum anbot, den sie sofort als akustischen Ausdruck des Handlungsorts New York erkannten. Ein »perfektes amerikanisches Charakterballett« urteilte die Presse wohlwollend.

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Mitte der 1940-Jahre: Nach seinem Sensationsdebüt mischt der junge Bernstein die amerikanische Kulturszene auf.

|14| Die Aufführung war so erfolgreich, dass sie nicht nur jahrelang im Repertoire des American Ballet Theatre verblieb, sondern dass Choreograf und Komponist auch umgehend darüber nachzudenken begannen, ob und wie man ihren Erstling zu einem abendfüllenden Musical erweitern könnte. Sie zogen Adolph Green und Betty Comden für das Buch und die Gesangstexte hinzu, die schließlich aus der Grundidee eine irrwitzige, zweistündige Verfolgungsstory durch die City von New York machten, bei der jeder Matrose zum Schluss eine, wenn auch kurzzeitige Partnerin im Arm hält. Mehr als 24 Stunden währt ihr Landurlaub nicht. Im rasenden Tempo vollendeten die Autoren ihr Werk. Bereits am 28. Dezember 1944, nur acht Monate nach der Premiere des Balletts Fancy Free und gerade einmal 13 Monate nach dem Dirigat für Bruno Walter kam das Musical unter dem Titel On the Town im Adelphi Theatre am Broadway zur Uraufführung. George Abbott führte Regie, Robbins choreografierte, auf der Bühne agierten Green und Comden, und Bernstein hatte eine Musik geschrieben, die erneut die Klänge und die Atmosphäre der amerikanischen Metropole beschwor. Das Publikum war hingerissen. Mit rund 450 Aufführungen en suite war ihr Erstling ein beachtlicher Erfolg. Bernstein schien einfach alles zu gelingen.

Gegen alle Konventionen des Musikgeschäfts, auch in den USA, begann Bernstein eine Crossover-Karriere zwischen den großen Konzertsälen dieser Welt, den renommierten Opernhäusern, der Komposition anspruchsvoller Orchesterwerke und den Broadway-Theatern mit ihren populären Melodien. Darüber hinaus entwickelte er sich zum leidenschaftlichen Pädagogen, zum Erklärer von Musik. Im Zentrum seines Berufslebens stand indes immer das Dirigieren. Sofort nach dem Erfolg von 1943 setzte die nicht mehr abreißende Reihe von Anfragen zu Gastdirigaten ein, aus denen Bernstein nach Lust und terminlichen Planungen die interessantesten Orchester auswählen konnte. Eine ununterbrochene Reisetätigkeit führte ihn auf teils ausgedehnte Tourneen quer über den Globus. Am 15. Dezember 1971 dirigierte Bernstein mit den New Yorker Philharmonikern sein tausendstes Konzert.

Gleichwohl konzentrierte sich seine berufliche Tätigkeit bis dahin weitgehend auf die USA. 1958 hatte er die musikalische Direktion der New Yorker Philharmoniker übernommen, in der Nachfolge von Mitropoulos. Bis 1969 übte er die Funktion aus, mit großem Erfolg beim Publikum, guten Auslastungszahlen der Konzerte, einer Präferenz für lebende amerikanische Komponisten und für die Musik des österreichischen Juden Gustav Mahler, mit der sich Bernstein gewissermaßen seelenverwandt fühlte und der er erst eigentlich zum weltweiten Durchbruch verhalf.

|15| Nach Aufgabe seiner Position bei den New Yorker Philharmonikern erweiterte Bernstein sein Tätigkeitsfeld auf den europäischen Kontinent. War seine Karriere bis dahin vorwiegend eine amerikanische Angelegenheit gewesen, so avancierte er in den 1970er-Jahren zu einer internationalen Ausnahmegestalt. 1966 hatte er zum ersten Mal als Gast die Wiener Philharmoniker und an der Wiener Staatsoper eine Falstaff-Inszenierung dirigiert. Daraus entstand alsbald eine anhaltende Verbindung, die Bernstein immer häufiger nach Österreich und in die Bundesrepublik brachte. Erst spät, 1979, dirigierte er die Berliner Philharmoniker. Herbert von Karajan, der so ganz andere Weltstar unter den Dirigenten, hatte lange gezögert. Erstmals nach Deutschland war Bernstein aber bereits 1948 gekommen. Auf Einladung von Georg Solti gastierte er in München, in der amerikanischen Besatzungszone. Neben dem Konzert im Prinzregententheater besuchte er zwei Aufnahmelager für Displaced Persons, in dem auch ehemalige KZ-Insassen lebten. Mit den verbliebenen Musikern des »Dachauer Symphonieorchesters« (Bernstein) bestritt er zwei Konzerte, begleitete jüdische Solisten und spielte Gershwins Rhapsody in Blue.

Bernstein sah sich zeit seines Lebens als politischer Mensch, der seine künstlerische und gesellschaftliche Position auch einsetzte, um kritische Kommentare abzugeben oder demokratische Initiativen zu unterstützen. So beteiligte er sich bereits als Harvard-Student an der Aufführung von Marc Blitzsteins Agitprop-Oper The Cradle Will Rock, dirigierte 1947 ein Konzert in Palästina zur Unterstützung des jüdischen Kampfes um einen eigenen Staat, 1962 beteiligte er sich an Demonstrationen gegen die Wiederaufnahme von Atombombentests durch die amerikanische Regierung, 1967 leitete er nach dem Sechs-Tage-Krieg die Israelischen Philharmoniker zur Feier der Besetzung Ost-Jerusalems, von israelischer Seite als »Wiedervereinigung« angesehen, 1970 organisierte er auf seinem Privatgrundstück eine Benefizveranstaltung zugunsten der Black Panther, 1979 dirigierte er zwei Konzerte mit den Berliner Philharmonikern zugunsten von Amnesty International, und Weihnachten 1989, kurz nach dem Fall der Mauer, kam er zu zwei Konzerten nach Berlin, um anlässlich der aktuellen Weltereignisse Beethovens Neunte zu dirigieren. Zu diesem Anlass veränderte er den zentralen Vers des Textes und machte aus der »Ode an die Freude« eine »Ode an die Freiheit«. Per Satellit und Nachrichtenkabel wurde das zweite Konzert am 25. Dezember live in 20 Ländern ausgestrahlt. Es erreichte mehr als hundert Millionen Hörer, die Welt nahm Anteil am Ende des Kalten Krieges und der Spaltung in Ost und West, »der absolute Höhepunkt im öffentlichen Leben des Weltbürgers Leonard Bernstein«, wie es sein Biograf Humphrey Burton formulierte.

|16| Schon immer besaß Bernstein eine besondere Affinität zu den enormen Vermittlungsmöglichkeiten von Musik durch die elektronischen Medien. Es war zwar Zufall, dass sein entscheidendes Konzert mit den New Yorker Philharmonikern von 1943 live vom Hörfunk übertragen wurde, kann jedoch auch als bezeichnend angesehen werden. Bernstein dürfte zumindest aus der großen Resonanz auf die Live-Ausstrahlung die unglaubliche Breitenwirkung von Hörfunk und Fernsehen begriffen haben. Entsprechend organisierte er auch in späteren Jahrzehnten immer wieder die Ausstrahlung seiner Konzerte, um die Beschränkungen von Konzertsälen aufzuheben und die Musik zu einer unbegrenzten Anzahl von Hörern zu tragen. Die elitäre Veranstaltung eines klassischen Konzerts verwandelte sich durch das demokratische Medium des Hörfunks zu einem Instrument breiter ästhetischer Musikerziehung.

Die Medien und Bernsteins »pädagogischer Instinkt«, so er selbst, »dieser alte, quasi-rabbinische Instinkt, anderen etwas beibringen und mit Worten erklären zu können«, fanden in den 1950er-Jahren in der boomenden »Welt des Fernsehens ein wahres Paradies«. Paul Feigay, einer der Produzenten von On the Town, war zehn Jahre später für das Fernsehen tätig. Man konzipierte eine Reihe unter dem Titel Omnibus, eine Art Magazinsendung mit Bildungsanspruch. Man wollte eine Sendung über Beethovens 5. Sinfonie machen. Als Erklärer rief Feigay Bernstein an, der nach einigen Überlegungen zusagte. Am 14. November 1954 erfolgte die Ausstrahlung. Sie lief so gut, dass man eine längerfristige Zusammenarbeit mit Bernstein verabredete, die bis 1958 anhielt. Der Effekt der Sendungen war enorm: War Bernstein vorher eine Persönlichkeit des inneren Musiklebens gewesen, so erlangte er durch die Fernsehpräsenz eine Popularität auch in Kreisen der Bevölkerung, die sich ansonsten nicht für Strukturen und Inhalte von Orchestermusik interessieren und Konzerthäuser kaum je besuchen. So war es kein Wunder, dass Bernsteins Sendungen schließlich in einem Buch zusammengefasst und 1959 unter dem programmatischen Titel The Joy of Music publiziert wurden. Auch nach dem Ende der Omnibus-Reihe nutzte Bernstein das Medium, nun zur Übertragung der Young People’s Concerts der New Yorker Philharmoniker. Dieses Mal erstreckte sich die Serie über 53 Folgen und lief bis 1972. Wieder gab es eine Publikation mit beispielhaften Sendungen der Reihe, die 1970 erschien. In den Sendungen machte Bernstein die Zuschauer mit den unterschiedlichsten musikalischen Bereichen vertraut: »von exotischen Musikinstrumenten und der Akustik von Konzertsälen bis hin zu einer ersten Einführung in Tonarten, musikalische Formen und Instrumentierung; von der Musik Amerikas und anderer Nationen bis zum Jazz |17| und zu Volksmusik im symphonischen Gewand; von Bach und Beethoven bis zu Strawinsky, Copland, Hindemith und Mahler.«

Jamie Bernstein über die pädagogische Leidenschaft ihres Vaters

»Fast jedes Gespräch im Haus drehte sich um Musik. Und alles, was er tat, hatte in irgendeiner Form mit Lehren zu tun. Ob er nun vor Publikum dirigierte, mit einem Orchester probte oder uns die Bedeutung des Blues für einen Beatles-Song erklärte, der gerade im Autoradio lief. Musikunterricht im klassischen Sinne gab es aber nicht zu Hause. Er hat mir zum Beispiel nie das Klavierspielen beigebracht. Das hat er anderen überlassen.«

Als Bernstein Anfang der 1970er-Jahre seine berufliche Situation neu justierte, war er praktisch mit allen Bereichen des Musiklebens vertraut und gut vernetzt: der bekannteste Künstler der amerikanischen Musikwelt. Er kannte eine große Zahl von Orchestern in aller Welt, hatte die New Yorker Philharmoniker über mehr als ein Jahrzehnt geleitet, hatte Kompositionen für die Bühne, den Film und die Konzertsäle geschrieben und durch die TV-Sendungen praktische Erfahrungen in der Produktion von Fernsehbildern gesammelt. All dies floss nun in der Neuaufstellung seiner beruflichen Existenz zusammen.

1959 hatte Bernstein bereits seine Firma Amberson Enterprises gegründet, die für seine weitgespannten beruflichen Aktivitäten das Management übernahm. Nun kamen Aufgaben wie die Zusammenführung, Auswertung und Verwaltung seiner Rechte hinzu. Der Name leitet sich aus der englischen Übersetzung des deutschen Worts »Bernstein« ab. Als Tochtergesellschaft entstand 1970 Amberson Productions. Zusätzlich zu den selbstverständlichen Schallplatteneinspielungen sollten Filme produziert, Opern aufgezeichnet und von den Bernstein-Konzerten Filmmitschnitte erstellt werden, um sie TV-Sendern anzubieten oder als Video-Kassetten auf dem Markt zu vertreiben. Zu diesem Zweck trennte sich Bernstein auch von seiner langjährigen Schallplattenfirma Columbia und schloss mit der Deutschen Grammophon einen neuen Vertrag ab. Diese hatte bereits Herbert von Karajan als ihr musikalisches »Aushängeschild«, doch hoffte man mit Bernstein auf dem amerikanischen Markt besser Fuß fassen zu können. Darüber hinaus schloss Bernstein bzw. Amberson Productions mit dem Münchner Filmkaufmann Leo Kirch bzw. dessen Firma Unitel 1971 einen Exklusivvertrag. Mitte der 1980er-Jahre lagen bereits |18| mehr als 30 Produktionen vor. Die Diskografie Bernsteins wuchs. Schließlich gründete er noch die Firma Jalni (ein Akronym aus den Anfangsbuchstaben seiner Kinder), um diese an den Gewinnen aus seinen Unternehmungen künftig zu beteiligen.

Sein kompositorisches Schaffen war umfangreich und vielgestaltig und ist in dieser biografischen Skizze kaum angemessen zu schildern. Es umfasst Bühnenwerke für Ballett, Oper und Musical, Orchesterwerke für den Konzertsaal, Chormusik für Synagoge und Kirche sowie Kammer-, Vokal- und Klaviermusik. Entgegen den landläufigen Dichotomien lassen sich Bernsteins Kompositionen kaum in »hoch« und »niedrig«, »ernst« und »leicht«, in »seriös« und »kommerziell« unterteilen. Nicht nur in seiner Person und seiner beruflichen Praxis vereinte er die verschiedenen Aspekte, sondern auch nach seinem Musikverständnis verbindet seine kompositorischen Arbeiten so etwas wie eine universelle Musiksprache. 1970, anlässlich des 200. Geburtstags von Beethoven, äußerte Bernstein seine diesbezüglichen Überzeugungen: »In diesen Tagen, in dieser Welt voll Hoffnungslosigkeit, Qualen und Hilflosigkeit brauchen wir seine Musik, die wir so lieben. […] Diese Musik wird nicht nur in alle Ewigkeit bestehen, sondern ist auch von aller Musik dem Universellen am nächsten gekommen. […] Das fragwürdige Klischee von der Musik als einer Sprache der gesamten Menschheit wird bei Beethoven beinahe zur Wahrheit. Niemals hat es einen anderen Komponisten gegeben, der so unmittelbar zu so vielen Menschen spricht, jungen und alten, gebildeten und unwissenden, zu Amateuren und Berufsmusikern, zum anspruchsvollen wie zum naiven Gemüt.« Beethovens Musik habe ihren Ankergrund in einem zutiefst humanen Bereich. »Die Musik zeugt von einem universellen Denken, von menschlicher Brüderschaft, Freiheit und Liebe.«

Die Idee des Universellen tauchte bei Bernstein bereits früher auf. Bereits in seinen Fernsehsendungen in den 1950er-Jahren trat er der Unterscheidung zwischen Kunstmusik und den Formen der populären Musik entgegen. So wie er apodiktisch feststellte: »Jazz ist Kunst«, so hob er in seiner Sendung über das Musical auch die Trennung zur Oper auf, indem er Annie Get Your Gun mit den Singspielen der Mozart-Zeit verglich. Es fehle zur Schaffung einer neuen Zauberflöte nur ein neuer Mozart. Doch »dieses Ereignis kann jeden Moment eintreten«. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass Bernstein sich in späteren Jahren enttäuscht zeigte über die Gattungsentwicklung des Musicals. Für ihn bedeutete die Transformation des Pop- und Rock-Idioms in Theatermusik zu Beginn der 1970er-Jahre einen Rückschritt, der von dem Stand wegführte, den er mit Candide und der West Side Story erreicht zu haben meinte.

|19| Zeit seines Lebens blieb Bernstein der tonalen Musik verbunden; sie war für ihn mit der Vorstellung einer universellen Musiksprache verbunden. Setzte er atonale Formen ein, so dienten die entsprechenden Passagen durchweg der Gestaltung des Negativen, des Schädlichen und Bösen. So verwendet Bernstein etwa die Zwölftonmusik im Ballett Dybbuk nur dann, wenn er den Teufel beschwören will; die Reinheit der jungen Frau findet in tonalen Melodien ihren Ausdruck. Insofern war es kein Wunder, dass Bernstein ab den 1960er-Jahren, als auch in den USA die atonale Kompositionsweise als zeitgenössische Musik zunehmend an Bedeutung gewann, als »Reaktionär« (so sein Biograf Humphrey Burton) abgetan wurde.

Bernstein war Jude. Wenn er auch ein durchaus laxes Verhältnis zu den religiösen Vorschriften besaß, so verleugnete er seine Wurzeln dennoch nicht. Anders etwa als Robbins und Laurents änderte er auch seinen Namen nicht. Gleichwohl waren die Sorgen um Diskriminierung und berufliche Nachteile vor dem Hintergrund eines weitverbreiteten Antisemitismus in den USA nur zu berechtigt. Er speiste sich teils aus der Tradition des europäischen Anti-Judaismus, wurde aber auch durch aktuelle Entwicklungen wie etwa die Wirtschaftskrise in den 1930er-Jahren gefördert, da man sie den jüdischen Industriellen und Bankiers in die Schuhe schob. Ohne vordergründige Effekte hinterließ Bernsteins jüdische Herkunft tiefgreifende Spuren in seinen Kompositionen. Wenn man nämlich in der gesamten Bandbreite seines Schaffens nach wiederkehrenden Themen Ausschau hält, dann fallen die vielen jüdischen Bezüge ins Auge: In seiner ersten größeren Komposition, der Jeremiah-Sinfonie, vertonte er hebräische Verse über Schmerz und Leid aus den biblischen Klageliedern. Seine großen Chorwerke, die Kaddish-Sinfonie, die Chichester Psalms und Mass enthalten allesamt Vertonungen liturgischer Texte aus dem Hebräischen und Aramäischen, und die Musik zu dem Ballett Dybbuk lotet die mystischen Aspekte des jüdischen Glaubens aus.

Zudem durchzieht seine Werke, in alter Klezmer-Tradition, eine unauflösliche Nähe von Leiden und Freude, von Trauer und Hoffnung, von Abschied und Begegnung. Sie sind getragen von einer grundlegenden Zuversicht, die an das theologische Theorem denken lässt, dass trotz allen Leids Gottes Bund mit dem jüdischen Volk fortbesteht und das Gute am Ende triumphieren wird. In Bernsteins Äußerungen taucht diese Gewissheit in dem eher neutestamentarischen Begriff der Liebe auf, den er ohne klebrige Sentimentalität benutzte. Das Finale der West Side Story ist somit nicht nur die adäquate Übertragung von Shakespeares Tragödie, sondern entspricht auch der grundlegenden Welt- und Menschensicht |20| des Komponisten: »Somewhere, there’s a place for us.« Diese Zeile kennt keinen Zweifel.

Das Lied »Somewhere« erhielt 1986 für Bernstein auch noch eine andere, persönliche Bedeutung. Bernstein war schwul. In seiner Jugend war Homosexualität in den Vereinigten Staaten strafbar und fiel unter die Bezeichnung »sodomy«. Die Entkriminalisierung vollzog sich langsam, erst im Jahr 2003 sollten die letzten Strafgesetze aufgehoben werden. Bernsteins Schweigen entsprang also einer durchaus naheliegenden Furcht (wenn sie seine Lebensweise auch nicht behinderte). Er hatte 1951 zwar die chilenische Schauspielerin Felicia Montealegre geheiratet, mit der er drei Kinder bekam, doch entsprang die Ehe wohl eher gesellschaftlichen Konventionen als sexueller Leidenschaft. Die biografische Literatur ist voll von Anekdoten, die sich auf sein Liebesleben mit anderen Männern beziehen. Unter ihnen ragte Thomas Cothran hervor, den Bernstein 1971 in San Francisco kennenlernte. Bernstein holte den 24-Jährigen in das Vorbereitungsteam für die Uraufführung von Mass, mit der das Kennedy-Center in Washington eröffnet wurde. 1976, nach 25 Ehejahren, trennte er sich aus Liebe zu Cothran von seiner Frau. Auf dem Höhepunkt der Gay Movement in den USA bekannte sich auch Bernstein öffentlich zu seiner Homosexualität. Er bezog mit Cothran zusammen eine Wohnung. Nur wenige Monate später diagnostizierten die Ärzte bei seiner Frau Krebs. 1977 kehrte er zu ihr zurück, um sie bis zu ihrem Tod im Juni 1978 zu betreuen. Im Jahr darauf verließ Cothran die Staaten, um durch Südostasien zu reisen, auf der Suche nach spirituellen Antworten. 1981 kehrte er krank zurück. Die AIDS-Epidemie war ausgebrochen. Im November 1986 machte Bernstein einen schmerzlichen Besuch an Cothrans Krankenbett. Erschüttert angesichts des sterbenden Freundes organisierte er noch im Dezember ein Benefiz-Konzert zugunsten der American Foundation for Aids Research. Am Ende des Abends stand das gesamte Publikum auf und sang gemeinsam mit den Solisten:

Somewhere …

There’s a place for us,

A time and place for us,

Hold my hand and we’re halfway there.

Hold my hand and I’ll take your there

Someday, Somehow,

Somewhere!

Im Februar 1987 starb Cothran. Drei Jahre später, am 14. Oktober 1990, verschied auch Leonard Bernstein.

Bernstein. West Side Story

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