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Das Orchester lichtet sich

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Kiesbankgrashüpfer


Der Pfynwald bei Leuk (VS) beherbergt eine der fünf letzten Populationen des Kiesbankgrashüpfers in der Schweiz. Christian Roesti kennt die arttypischen Gesänge der Heuschrecken. Doch der Kiesbankgrashüpfer macht es ihm nicht leicht: Er singt selten – und leise.

«Aha, da singt ein Steppengrashüpfer», bemerkt Christian Roesti. «Hört ihr ihn?» Leider nein. Der Fotograf verweist auf die vielen Rockkonzerte, die seine Ohren geschädigt hätten, und der Journalist auf sein umfangreiches Unwissen: Er hört zwar eine ganze Menge an Geräuschen in dieser Waldlichtung, auch viel Gezirpe, kann den Gesang des Steppengrashüpfers aber nicht erkennen, weil er ihn schlicht nicht kennt. Christian Roesti greift zu seinem Handy, öffnet eine App und spielt ein 20 Sekunden-Muster des Spontangesangs von Chorthippus vagans ab, aufgenommen in Castaneda (GR) an einem sonnigen Tag bei 20 Grad. Ein ganz normales Heugümpergezirpe – ohne die geringste Besonderheit. «Achtet auf die Tonhöhe, auf das Anschwellen des Gesangs, den Rhythmus», fordert uns Roesti auf und drückt ein zweites Mal auf die Abspieltaste. Ich versuche mir die Sequenz einzuprägen und dann mit den Geräuschen in der Lichtung abzugleichen. Einen Treffer aber kann ich beim besten Willen nicht verbuchen.

Christian Roesti schreitet nun mit dem Kinderwagen und Tochter Flurina zielstrebig auf eine sandige Fläche zu, vielleicht 15 Meter von unserem Standort entfernt. Wir sehen, wie er sich bückt und nach etwas greift. «Kommt her und schaut euch das Prachtexemplar an», ruft der Biologe. Nun, von der Pracht ist, jedenfalls auf den ersten Blick, wenig zu sehen: Der knapp 1 Zentimeter kleine, bräunlich-graue Steppengrashüpfer wäre uns nie aufgefallen, hätte uns nicht ein Kenner auf ihn aufmerksam gemacht. Immerhin wissen wir nun, dass wir auf dem richtigen Weg sind, denn der Steppengrashüpfer ist eine Begleitart des äusserst seltenen Kiesbankgrashüpfers, den wir an diesem Junitag im Pfynwald im Kanton Wallis suchen. Beide Arten leben in warmen, trockenen Habitaten mit spärlicher niedriger Vegetation und einem hohen Anteil an offenem Boden.

Und der Pfynwald ist reich an solchen Lebensräumen. Durch diesen grössten Föhrenwald der Alpen breitet die Rhone zwischen Leuk und Siders auf sieben Kilometer Länge und 350 Hektaren Fläche ihre Inseln, Arme, Auenwälder und trockenen Buschlandschaften aus. Mehrmals im Jahr bringt der Fluss neues Geschiebe aus dem Illgraben, der zu den aktivsten Murgängen Europas zählt. Bei Leuk hat der Illbach im Laufe der Zeit einen mächtigen Kegel geschüttet, der die Rhone nach Norden abgedrängt und das Gefälle zwischen Leuk und Siders auf 90 Meter erhöht hat, was eine grosse Fliessgeschwindigkeit erzeugt. Die regelmässigen Murgänge und die Wucht des Wassers verunmöglichten es den Ingenieuren, die Rhone auf diesem Abschnitt vollständig zu zähmen. Es wurden zwar nordseitig etliche Kilometer Schutzdämme errichtet, aber eine Kanalisierung liess sich nicht realisieren. Und so sucht sich hier die Rhone bei Hochwasser immer wieder neue Wege und schafft Lebensräume für Pionierarten wie den Kiesbankgrashüpfer.

Noch aber bleibt unsere Suche nach Chorthippus pullus erfolglos. Wir folgen Christian Rösti durch die Waldlichtung, die Augen auf den kargen Boden gerichtet, die Ohren gespitzt. «Der Kiesbankgrashüpfer singt vergleichsweise selten», erklärt Roesti. «Und sein Gesang ist leise, man überhört ihn leicht.» Unsere Zuversicht schwindet. Ohne akustische Hilfe wird es schwierig: Der 12 bis 20 Millimeter kleine, grau-braun gefärbte Grashüpfer ist auf grau-braunem Untergrund nahezu unsichtbar. Hoffnung keimt auf, als wir miterleben, wie Christian Roesti scheinbar mühelos auch gut getarnte Heuschrecken zu entdecken vermag. Immer wieder bückt er sich, zeigt auf eine Schrecke, die wir erst erkennen, wenn sie sich bewegt. So wie jene Rotflügelige Ödlandschrecke, die sich mit dem steinigen Untergrund quasi vereint hat. «Die Körperfärbung ist bei den Heuschrecken nicht immer genetisch festgelegt», erklärt der 36-jährige Biologe. «Sie kann sich während der Entwicklung verändern und ihre Färbung der Umgebung anpassen.» Die vor uns sitzende Ödlandschrecke sei grau, ausgewachsene Individuen derselben Art, die an Buchenwaldrändern siedelten, hätten oft eine rostbraune Färbung, wie die abgefallenen Blätter der Buchen. Die auffällig roten Flügel zeigen sich erst, wenn die Schrecke auffliegt.

Ein paar Meter weiter bekommen wir Anschauungsunterricht in die verschiedenen Entwicklungsstadien einer Heuschrecke. Je nach Art machen sie 5 bis 12 Häutungen durch, erst nach der letzten Häutung bilden sich die Flügel und Geschlechtsorgane vollständig aus. Auf einem Stein sitzen gleich drei Exemplare der Italienischen Schönschrecke, und alle drei befinden sich in unterschiedlichen Entwicklungsphasen. Christian Roesti greift nach dem ältesten der drei Tiere, einem bereits ausgewachsenen Weibchen, und zieht ganz vorsichtig dessen Flügel wie einen Fächer auseinander. Jetzt erst erfassen wir, warum die Art «Schönschrecke» genannt wird: Ihre Flügel leuchten in einem umwerfend zarten Rosarot.

Wo aber stecken die Kiesbankgrashüpfer? «Letztes Jahr habe ich hier zusammen mit ein paar Studenten einen gefunden», sagt Roesti. «Aber wir mussten ziemlich lange suchen.» Vor 12 Jahren habe er in dieser Lichtung das Wanderverhalten von Chorthippus pullus untersucht, im Rahmen einer Diplomarbeit an der Universität Bern. In jener Zeit galt die zirka 70 mal 100 Meter grosse Lichtung als letzter Standort des Kiesbankgrashüpfers im Pfynwald. Mittlerweile aber hat sich die Lichtung stark verändert. Sie ist mit Bäumen, Büschen und Moos eingewachsen – «das mögen die Kiesbankgrashüpfer nicht», sagt Roesti. «Sie benötigen offene Bodenstellen, wo sie ihre Eier in zirka 1,5 Zentimeter Tiefe ablegen können. Ist der Boden grossflächig von dickem Moos bedeckt, müssen die Weibchen ihre Eier in die Moospolster legen, die auf dem mineralischen Untergrund und mit dem wenigen Regen in dieser Gegend zumeist sehr trocken sind. Die Eier müssen während ihrer Entwicklung aber Feuchtigkeit aufnehmen können, sonst reifen sie nicht.»

Damals schon erkannten die Biologen der Universität Bern, dass die Bedingungen in der Lichtung nicht mehr die besten sind und dass der Kiesbankgrashüpfer bald gezwungen sein würde, sich einen neuen Lebensraum zu erschliessen. Aber wie? Rund um die Lichtung war alles zugewachsen. Und der Kiesbankgrashüpfer kann nicht fliegen, seine kurzen Flügel dienen ihm allein noch als Instrument, das er mit den Beinen zum «Singen» bringt. Nur selten, wenn auch regelmässig, entwickelt sich ein flugfähiges Exemplar, das es über die dichte Vegetation oder über fliessendes Wasser hinweg in neue Gebiete schafft. Und nur mit viel Glück trifft es dort auf ein weiteres Individuum und kann sich vermehren. Also entschieden sich die Biologen, den eingeschlossenen Grashüpfern einen Ausweg zu ermöglichen und schlugen eine 30 Meter breite Schneise zu einer nahegelegenen Schwemm- und Schotterfläche.

Christian Roesti wollte daraufhin untersuchen, ob die Schneise tatsächlich als Wanderkorridor genutzt wird. Um dies herauszufinden, markierte er rund 400 Individuen mit winzigen Leuchtreflexfolien an den Hinterbeinen und mit einem individuellen Farbcode am Halsschild. Nachts dann streifte er mit einer Stirnlampe durch das Areal und konnte mithilfe der Reflexionen die Tiere relativ einfach wiederfinden. Dabei kam ihm zugute, dass sich die Kiesbankgrashüpfer nachts nicht verstecken, sondern auf Grashalmen 30 bis 40 Zentimeter über dem Boden schlafen. «Sie haben gelernt, mit periodischem Hochwasser umzugehen», erklärt Roesti. «Und wahrscheinlich versuchen sie sich so auch vor Fressfeinden zu schützen.» Was aber nicht immer gelingt. Regelmässig fanden die Biologen im Kot von Mäusen die Überreste markierter Heuschrecken.

Und – haben die Kiesbankgrashüpfer den Korridor genutzt? «Oh ja», meint Roesti. «Sie haben das super gemacht. Manche sind in wenigen Tagen über 200 Meter weit gewandert.» Das erstaunt, gilt doch der Kiesbankgrashüpfer als äusserst ortstreu und sesshaft; sein Leben spielt sich zumeist im Umkreis von wenigen Metern ab. Offenbar aber waren die Bedingungen in der Lichtung bereits so schlecht, dass sich die Heuschrecken zu einer Wanderung gezwungen sahen.

«Hinten auf der Schotterfläche werden wir sicher ein Exemplar entdecken», sagt Roesti und schnappt sich den Kinderwagen. Die Schneise ist mittlerweile ziemlich eingewachsen, man kommt mit dem Wagen nicht mehr so einfach durch. Flurina scheint das nicht zu kümmern, ihr gefällt es, wenn der Wagen über Wurzeln, Büsche und Wasserläufe gehoben wird. Bald hören wir ein lautes Gequake und stehen vor Teichen, die der Kanton für gefährdete Wasser- und Tümpelfrösche angelegt hat. Gleich dahinter breitet sich eine Schotterebene aus mit jungen Föhren, Lavendelsträuchern, Sanddorn und Esparsetten-Tragant. Es herrscht also genau jenes «mittlere Sukzessionsstadium» vor, wie es der Kiesbankgrashüpfer mag.

Leider ist das Gequake der Frösche ziemlich laut und der Hauptstrom der Rhone ziemlich nahe. Wie kann man da den leisen und dazu noch seltenen Gesang des Kiesbankgrashüpfers heraushören? Ausserdem ist es heiss, sehr heiss. Das war es schon in der Waldlichtung, aber hier auf der offenen Schotterfläche fühlt man sich wie in einer Steinwüste ausgesetzt. Gerne würde man jetzt in die Rhone springen. Christian Roesti kommt nun aber erst richtig auf Touren; mit der Freude eines Kindes, das am Strand auf Stein- und Muschelsuche geht, streift er über die Schotterebene und macht alle 30 Sekunden eine interessante Entdeckung. Und dann: «Ein Pullus! Ein Weibchen!». Der Fotograf eilt mit mir zum Fundort, als könnte der Grashüpfer gleich davonfliegen.


Eine perfekt getarnte Ödlandschrecke. Die Körperfärbung ist bei den Heuschrecken nicht immer genetisch festgelegt. Sie kann sich während der Entwicklung verändern und der Umgebung anpassen.

Als ich das Insekt dann von Nahem betrachte, meinen ersten Kiesbankgrashüpfer, stellt sich nach kurzer Freude rasch wieder der Ruhepuls ein, was mich selbst etwas überrascht. Hatte ich mir denn etwas Spektakuläreres vorgestellt? Oder haben wir den Schatz zu einfach, zu schnell gefunden? Christian Roesti, der regelmässig Studierende, Heuschrecken-Liebhaberinnen und Naturfotografen auf Exkursionen begleitet, bleibt dies nicht verborgen: «Ihr Journalisten seid echt nüchterne Kerle», meint er und lacht. «Heugümpeler wären total ausgeflippt.»

Roesti ist seit seiner Kindheit ein «Heugümpeler». Zusammen mit seinem Vater, einem Biologielehrer und leidenschaftlichen Insektenkundler aus dem Emmental, ging er auf Bestimmungs- und Beobachtungsausflüge. «Als ich zehn Jahre alt war, kannte ich bereits alle 110 Heuschreckenarten der Schweiz», erinnert sich Roesti. Während des Studiums an der Universität Bern bekam er von Peter Detzel, einem deutschen Heuschreckenspezialisten, sämtliche Original-Zeichnungen von Kurt Harz geschenkt, die dieser für seine Bestimmungsbücher «Die Orthopteren Europas» erstellt hatte. Von diesem Moment an war für Christian klar: Früher oder später würde er einen aktualisierten «Harz II» herausgeben, der sämtliche Heuschrecken-Arten Europas abdeckt.

Noch ist dieses Grosswerk nicht vollbracht. Zwei Bände aber liegen bereits vor: 2006 veröffentlichte der Haupt Verlag «Die Heuschrecken der Schweiz», ein Exkursionsführer und Nachschlagewerk, das Christian zusammen mit seinem Vater Daniel und den Co-Autoren Hannes und Bertrand Baur realisiert hat. 2017 folgte ein Bestimmungsband über die Heuschrecken Frankreichs (in französischer Sprache), an dem Christian Roesti massgeblich beteiligt war. Für beide Bücher hat er neben Texten und Fotografien auch Tuschezeichnungen beigesteuert. «Eine gute Zeichnung zeigt viel mehr als ein Foto», erklärt Roesti. Mithilfe eines Binokulars und eines integrierten Zeichenspiegels liessen sich selbst die kleinsten Details aufs Papier bringen. Aber kann das nicht auch ein Makro-Fotoobjektiv? Nur beschränkt, meint Roesti. Glänze zum Beispiel ein Insektenkörper stark, könne der Zeichner diesen Glanz in der Zeichnung dämpfen und so etwa Vertiefungen sichtbar machen, die sonst verborgen blieben. Gute Zeichnungen seien zudem aussagekräftiger und verständlicher als ein Foto. Der Zeichner konzentriere sich auf das Wesentliche, immer mit dem Ziel, dass der Betrachter die Details verstehe, das Arttypische sehe und die Form begreife.

Und weil sich das Arttypische bei den Heuschrecken auch im Gesang wiederfindet – jede Art hat ihren eigenen Rhythmus und «singt» in einem bestimmten Frequenzbereich – hat Christian Roesti zusammen mit Bruno Keist 2009 ein Buch über «Die Stimmen der Heuschrecken» publiziert. Darin sind die arttypischen Gesänge aller in der Schweiz vorkommenden Heuschrecken beschrieben und mithilfe von Oszillogrammen bildlich dargestellt. Man kann sich die Gesänge auch anhören, auf der DVD, die dem Buch beiliegt, oder über die Orthoptera-App. Hier finden sich über 950 Beispiele von Lautäusserungen. «Warum so viele?», will ich von Christian Rösti wissen. Reichen denn 110 nicht aus, jeweils eine typische Gesangssequenz für jede unserer heimischen Arten? «Die Heuschrecken machen es uns nicht so einfach», erklärt Roesti schmunzelnd. «Ihre Lautäusserungen unterscheiden sich auch noch je nach Situation und Stimmung der Tiere. Es gibt Spontan-, Rivalen-, Werbe- und Wechselgesänge. Auch die Aussentemperatur trägt zum Variantenreichtum bei. Ist es kühl, drosseln die wechselwarmen Heuschrecken das Tempo der vorgetragenen Verse und Strophen.» Verse und Strophen? Ist das, mit Verlaub, nicht etwas hoch gehängt? «Es ist Musik, Mathematik», sagt der Kenner und erklärt: «Fährt ein Bein einmal über den Flügel hoch und runter, ergibt das eine Silbe, mehrere Silben hintereinander formieren sich zu einem Vers und mehrere Verse zu einer Strophe.» Nicht alle Arten aber trügen ganze Strophen vor. Der Kiesbankgrashüpfer etwa belasse es bei Versen, die in unregelmässigen Abständen vorgetragen würden, beim Spontangesang dauerten sie zwei bis vier Sekunden, beim Rivalengesang etwas kürzer.

Kaum hat er mir das Muster erklärt, registriert Roesti ebenjenen Spontangesang. «Ein Männchen. Es lockt mit seinem Gesang die Weibchen an.» Bald darauf findet er den paarungswilligen Kiesbankgrashüpfer in erhöhter Position auf einer Esparsette. Nun haben wir in wenigen Minuten bereits zwei Exemplare entdeckt. Und es sollten bald ein halbes Dutzend weiterer Funde folgen. «Der Bestand hat in den letzten zehn Jahren eindeutig zugenommen», sagt Roesti. «Mit dem Kiesbankgrashüpfer geht es wieder aufwärts im Pfynwald.» Das ist erfreulich, denn die Bestände von Chorthippus pullus sind in der Schweiz seit den 1950er-Jahren und dem nahezu kompletten Verbau der grossen Alpenflüsse massiv geschrumpft, ja regelrecht eingebrochen. Viele Standorte sind inzwischen verwaist. Halten konnte sich die Art gerade mal an fünf Orten: im Bündner Rheintal, am Inn im Unterengadin, im Sensegebiet zwischen Bern und Fribourg, im Val Ferret (VS) und im Pfynwald. Die Standorte befinden sich allesamt an unverbauten und ungenutzten Flussabschnitten mit angrenzenden Auenwäldern oder in vegetationsarmen Schutt- und Geröllfeldern (Bergsturzgebiet im Val Ferret).


Freiheit auf sieben Kilometern: Zwischen Leuk und Siders konnte die Rhone nie vollständig gezähmt werden. Mächtige Wasser- und Geschiebemassen bringen immer wieder neue Sandbänke, Strände und Schwemmebenen hervor. Davon profitieren viele seltene Arten, die auf vegetationsarme Standorte angewiesen sind.

Nicht nur der Kiesbankgrashüpfer leidet unter dem Verbau der Flüsse. Wie aus der Roten Liste der Heuschrecken (2007) hervorgeht, sind alle Pionierarten entlang von Gewässern vom Aussterben bedroht. Die Pioniere gelten zusammen mit den Arten der Flach- und Hochmoore gar als «am stärksten gefährdet». Und die Autoren der Roten Liste stellten fest, dass sich die Situation der bereits 1994 stark gefährdeten Pionierarten «weiter verschlechtert hat». Der Grund: Es wurden weitere Ufer verbaut und noch mehr Kraftwerke gebaut, welche die natürliche Dynamik der Flüsse unterbinden. Unter Druck sind aber auch die Arten des Grünlands, insbesondere die Bewohner von Trockenwiesen und -weiden sowie der dazugehörenden Säume. Diese Arten sind Kulturfolger und auf eine extensive Bewirtschaftung des Grünlands angewiesen. Ausserdem benötigen sie eine hohe Strukturvielfalt (u.a. offene Flächen für die Eiablage, wärmespeichernde Steine) auf kleinem Raum, da ihre durchschnittliche Ausbreitungsdistanz weniger als einen Kilometer beträgt.

In der Gesamtbilanz ergibt das ein tristes Bild: Von den 105 untersuchten Heuschreckenarten der Schweiz sind fast Prozent bedroht. Drei dieser Arten, zwei Auen- und ein Wieslandbewohner, konnten bei den Recherchen für die Rote Liste überhaupt nicht mehr gefunden werden und gelten als ausgestorben.

Dass es mit dem Kiesbankgrashüpfer und vielen weiteren Pionierarten im Pfynwald wieder aufwärts geht, ist, so unglaublich es auch klingen mag, dem Bau einer – weitgehend unterirdisch geführten – Autobahn durch ebendiesen Pfynwald zu verdanken. Das 1999 bewilligte (und später abgeänderte) Strassenbauprojekt enthielt mehrere Wiederherstellungs- und Ersatzmassnahmen. So sollten Dämme zurückversetzt, neue Seitenarme ausgehoben, Kiesinseln aufgeschüttet und Auenwälder wieder an die Dynamik der Rhone angeschlossen werden. Mehrere Kompensationsmassnahmen wurden bereits umgesetzt, obschon bis heute noch keine Bewilligung für den Bau dieses letzten, noch fehlenden Autobahnstücks im Wallis vorliegt.

Christian Rösti will uns zu einer künstlichen Aufschüttung an der Rhone führen, wo er weitere Kiesbankgrashüpfer vermutet. Doch Flurina vermisst ihren Nuggi. Vater Christian durchsucht seine Taschen, den Kinderwagen, die nähere Umgebung – erfolglos. Wo zum Teufel steckt das Ding? Leider gibt er keine typischen Geräusche oder Spontangesänge von sich. Also machen wir uns gesenkten Hauptes auf den Rückweg zur Lichtung. So weit müssen wir aber nicht laufen, nach knapp 100 Metern findet Roesti den knutschroten Nuggi auf dem Sandboden und wir drehen um in Richtung Fluss.

Auf dem vor wenigen Jahren aufgeschütteten Ufer ist die Vegetation noch spärlicher als auf der dahinterliegenden Schotterebene: Deutsche Tamarisken haben sich angesiedelt, Zwerg-Rohrkolben und Weiden. Ob sich der Kiesbankgrashüpfer auch hier wohlfühlt? Hören könnte ihn selbst der Experte nicht – die Rhone rauscht viel zu laut. Und doch findet Roesti bald ein Exemplar, hebt es vorsichtig auf und präsentiert uns das «typische orange-rötliche Füdli».

Als wir uns näher ans Wasser begeben, entdeckt Roesti im Sand noch eine weitere Rarität: eine Kiesbankdornschrecke. Auch sie ist in der Schweiz stark gefährdet; ihre Verbreitung ist fast deckungsgleich mit derjenigen des Kiesbankgrashüpfers. Im Unterschied zu diesem bevorzugt sie die ganz frühen Sukzessionsstadien. Sie legt ihre Eier an feuchten Stellen in den Boden ab und ernährt sich vorwiegend von Algen und Moosen. «Die hohen Ansprüche an den Lebensraum machen diese Heuschrecke besonders anfällig», erklärt Roesti. «Die rücksichtslose Sand- und Kiesgewinnung, die Errichtung von Stauanlagen sowie umfassende Gewässerkorrekturen haben die Art an den Rand des Aussterbens gebracht.»


Kiesbankgrashüpfer (Chorthippus pullus)

Bereits über diesen Rand hinaus ist die Flussstrandschrecke (Epacromius tergestinus). Die Art besiedelt die sandigen, schlickigen Uferbereiche von natürlichen Bergflüssen. Im Lebensraum sind immer mehr oder weniger mit Vegetation überwachsene, schlickige Bereiche vorhanden. «Vermutlich kann sie ohne solche Bereiche nicht überleben und ist deshalb in der Schweiz ausgestorben», erklärt Roesti. Die letzten Populationen lebten in Graubünden, im Genferseebecken und im Pfynwald, wo 1989 das letzte Tier gesichtet wurde. Das wollte eine Privatperson aus dem Wallis nicht hinnehmen, wie uns Roesti erzählt. «Der Biologe hat vor rund 15 Jahren ein Dutzend Flussstrandschrecken aus den französischen Alpen an einem Ufer im Pfynwald ausgesetzt. Seither kann man die Art hier wieder regelmässig beobachten. Sie hat zweifellos von der schrittweisen Renaturierung der Rhone profitiert und scheint sich tatsächlich festgesetzt zu haben.» Die Aktion war heftig umstritten. Auch Christian Roesti sieht sie kritisch: «Vielleicht kann sich die Flussstrandschrecke hier einige Zeit lang halten. Aber die Population ist völlig isoliert. Für das Überleben der Pionierarten ist es entscheidend, dass wir den grossen Alpenflüssen wieder ihre natürliche Dynamik zurückgeben.»

Derart teure Projekte liessen sich gewiss nie realisieren, wenn damit nur den Pionierarten gedient wäre. Spätestens seit den Hochwasserereignissen der Jahre 2005 und 2007 ist nun aber allen klar geworden, dass die Einengung und Verbauung der Flüsse auch verheerende Folgen für den Menschen haben kann. Das 2011 revidierte Gewässerschutzgesetz verlangt von den Kantonen, dass sie entlang von Flüssen, Bächen und Seen genügend grosse Gewässerräume ausscheiden und einzelne Flussabschnitte wieder in einen natürlichen Zustand zurückversetzen. Flüsse, die auf bestimmten Strecken ihr Bett wieder selber gestalten und mit Auenlandschaften verbunden sind, funktionieren wie ein Schwamm: Sie geben grosse Wassermengen erst verzögert ab und vermögen Geschiebe schadlos zu verlagern. So lassen sich Hochwasserspitzen auf elegante Weise brechen. Im Wallis laufen derzeit die Arbeiten an der Dritten Rhonekorrektion, einem 3 Milliarden Franken-Projekt. Der Rottenraum soll nahezu verdoppelt und dem Fluss so rund 900 Hektaren Land zurückgegeben werden. In erster Linie will man so die Bevölkerung und Bauwerke vor Hochwasser schützen, aber auch der Kiesbankgrashüpfer und viele weitere Tier- und Pflanzenarten dürften profitieren.

Nicolas Gattlen

Arten vor dem Aus

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