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Das leise Sterben
ОглавлениеDas Knäuel in meinen Händen blinzelt mich unter schweren Lidern hervor an, zutraulich und misstrauisch, empört und ratlos zugleich. Unruhig wechselt es von einem Bein aufs andere. Ich spüre: kräftige Füsse, starke Krallen, sonst nur graue Flauschigkeit. Ich bin hin und weg, möchte den Federball nie mehr loslassen und alles tun, was in meiner Macht steht, um den Knirps zu beschützen.
Den jungen Steinkauz hat mir Christian Stange während einer Exkursion von BirdLife Schweiz zum süddeutschen Kaiserstuhl in die Hände gedrückt, nachdem er ihn aus der sicheren Bruthöhle geholt hatte, um ihn zu beringen. Der Fachmann aus Freiburg im Breisgau ist massgeblich mitverantwortlich, dass die Steinkauz-Bestände im Dreiländereck Deutschland–Frankreich–Schweiz wieder zunehmen. Hier hat BirdLife Schweiz 1999 gemeinsam mit den BirdLife-Partnern aus Deutschland und Frankreich ein länderübergreifendes Projekt initiiert. Zum Projektgebiet gehört auch der Kaiserstuhl, ein alter, erloschener Vulkan inmitten der Rheinebene. In der Region setzen sich zahlreiche Partner und Spezialisten wie Christian Stange für den mehrheitlich nachtaktiven Mäusejäger ein.
Der Steinkauz war einst im offenen Landwirtschaftsgebiet des Schweizer Mittellands weit verbreitet. Ab den 1950er-Jahren musste er allerdings ein Gebiet nach dem anderen aufgeben. Was der Eulenzwerg zum Leben braucht — Hochstammobstbäume, Hecken, artenreiche Blumenwiesen und Weiden, Mäuerchen, Ast- und Steinhaufen —, ging durch die Intensivierung der Landwirtschaft und die Ausdehnung des Siedlungsgebiets nach und nach verloren. Zudem wurde ihm die überdüngte Vegetationsdecke zu dicht. Denn der Steinkauz ist hin und wieder zu Fuss unterwegs und rennt auf der Jagd nach Mäusen durchs lockere Gras. Auch grosse Insekten findet er kaum noch in den Feldern; ein Grossteil davon fiel Insektiziden und modernen Mäh- und Bearbeitungsmaschinen zum Opfer.
Heute kommt die 20 cm kleine Eule in der Schweiz nur noch in der Ajoie, in den Kantonen Genf und Tessin sowie mit einzelnen Individuen im Seeland vor. Die winzigen Schweizer Populationen können sich nur dank Schutz- und Fördermassnahmen halten. Dass es bei uns überhaupt noch Steinkäuze gibt, ist dem grossen Engagement von Naturschützerinnen und Ornithologen zu verdanken. Unter der Leitung von BirdLife Schweiz erarbeiteten sie für diese Vogelart einen Aktionsplan, den das Bundesamt für Umwelt (BAFU) 2016 veröffentlicht hat. Das Ziel: Bis 2031 soll es in der Schweiz wieder 300 Steinkauz-Reviere geben. Hierfür verbessern die Verantwortlichen in Zusammenarbeit mit engagierten Landwirten den Lebensraum: Sie schaffen sichere Nistplätze und Sitzwarten für die Jagd und sorgen für ausreichend Nahrung. Weil zu wenig alte Hochstammobstbäume mit Höhlen vorhanden sind, gehören auch mardersichere, künstliche Nisthöhlen zum Mobiliar.
Der Steinkauz ist kein Einzelfall. So wie ihm erging es zahlreichen anderen Vogelarten des traditionellen Kulturlands. Mit der Industrialisierung der Landwirtschaft starben Raub-, Schwarzstirn- und Rotkopfwürger aus; in den letzten Jahrzehnten gingen auch die zuvor häufigen Bodenbrüter wie Feldlerchen und Braunkehlchen dramatisch zurück. Doch die Vögel sind nur die gut sichtbare Spitze des Eisbergs. In der Schweiz sind von den knapp 50’000 bekannten Arten gemäss den bisher erarbeiteten Roten Listen mehr als ein Drittel gefährdet oder vom Aussterben bedroht; 247 gelten bereits als ausgestorben oder verschollen. Besonders schlimm steht es um jene Spezies, die an Wasser oder feuchte Lebensräume gebunden sind. Viele weisen nur noch kleine Restbestände auf und haben hierzulande unter den heutigen Rahmenbedingungen langfristig keine Überlebenschance.
Während das Verschwinden der Vögel von vielen Menschen bemerkt und bedauert wird, verläuft das Erlöschen weniger auffälliger Arten weitgehend im Verborgenen. Dass der Laufkäfer Amara concinna, die Ergrünende Lungenflechte (Lobaria virens) und die Eintagsfliege Ephoron virgo in der Schweiz ausgestorben sind, wissen nur wenige Fachleute. Still und leise verabschiedet sich ein Wunderwerk der Natur nach dem anderen.
Die in diesem Buch porträtierten elf Arten stehen deshalb stellvertretend für Tausende von Arten. Sie kommen in unterschiedlichsten Lebensräumen vor — vom Grundwasser übers Hochmoor bis zur sonnenexponierten Trockenwiese. Ihr Nieder gang ist eng gekoppelt mit der Zerstörung, Zerschneidung und Beschädigung ihrer Habitate. So verdrängen wir die Weggefährten, die uns Menschen während der vergangenen zwei Millionen Jahre begleitet haben — Lebensformen, die im Universum einzigartig sind.
Zwischen der Bedrohung einer Art und ihrem Aussterben steht oft nur der immense Einsatz einzelner Menschen, die ihr Leben dieser einen Art gewidmet haben. Oft schon seit Jahrzehnten halten sie die Entwicklung der Bestände fest und untersuchen, was sie fürs Überleben brauchen. Und sie versuchen unermüdlich, Politikerinnen, Behörden und Landbesitzer sowie -bewirtschafterinnen zu überzeugen, auf seltene Pflanzen und Tiere Rücksicht zu nehmen. Oft gelingt dies, und die Bestände können sich halten oder sogar erholen. In anderen Fällen werden die Anstrengungen wieder zunichte gemacht, weil der Druck auf die Naturvielfalt aus einer neuen Richtung wieder steigt. So wird für zahlreiche Pflanzen- und Insektenarten der flächendeckende, übermässige Eintrag von Stickstoff über die Luft — hauptsächlich aus der Landwirtschaft und teilweise aus dem Verkehr — zunehmend zur Bedrohung.
Das Forum Biodiversität Schweiz der Akademie der Naturwissenschaften (www.biodiversity.ch) hat die beiden Journalisten Gregor Klaus und Nicolas Gattlen losgeschickt, um sich zusammen mit Spezialistinnen und Spezialisten auf die Suche nach den letzten Exemplaren von elf Tier-, Pilz- und Pflanzenarten zu machen. Ihre Reportagen zeigen, weshalb diese Arten vor dem Aus stehen und was zu tun wäre, damit es ihnen wieder besser geht. Zugleich geben sie Einblick in das Leben und die Beweggründe jener Menschen, die diese Arten mit Liebe und Sachverstand, Ausdauer und Humor untersuchen und darüber erstaunliche Geschichten erzählen können. Geschichten über wundersame, liebenswerte, nützliche und skurrile Gesellen, mit denen wir unser Land (noch) teilen.
Daniela Pauli