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Das letzte Feuerwerk

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Insubrischer Enzian


Die letzten Rückzugsgebiete des Insubrischen Enzians liegen über der Waldgrenze in den südlichen Kalkalpen des Tessins. Stefan Eggenberg, Direktor des nationalen Daten- und Informationszentrums zur Schweizer Flora, weiss von einer Weide, wo der vom Aussterben bedrohte Enzian mit grosser Wahrscheinlichkeit noch anzutreffen ist.

Wir kommen nur schleppend voran. Gemäss der Zeitangabe auf dem Wegweiser in Cimadera müssten wir längst auf dem Passo di Pianca Bella sein. Doch Stefan Eggenberg ist Botaniker und begrüsst alle paar Meter eine Pflanze am Wegrand – mit Vor- und Nachnamen. Soeben stellt er mir Luzula nivea vor, zu Deutsch: die Schneeweisse Hainsimse, ein hübsches, grasartiges Binsengewächs. Eggenberg belässt es nicht bei der profanen Etikette; stets weiss er eine unterhaltsame Geschichte zu erzählen. «In den Nordalpen würden wir an diesem Standort Luzula luzuloides finden, die Weissliche Hainsimse. Am Alpenhauptkamm kommt es zu einem spannenden Artenwechsel. Das erinnert mich an meine erste botanische Exkursion ins Tessin, an der ich als junger Student teilgenommen habe. Ich war anfangs so enttäuscht. Es sah stellenweise aus wie bei uns im Norden: Buchen, Sauerklee, Heidelbeere und so weiter. Nur 10 % der Arten, die im Tessin vorkommen, findet man nicht auch auf der Alpennordseite. Wenn ich aber eine neue Region bereise, interessieren mich neue Arten, weniger der Grundstock, der in ganz Europa vorkommt. Oder mich interessieren die unterschiedlichen Verhaltensweisen einer Art. So kommt beispielsweise Rhododendron ferrugineum dort drüben zwischen den Bäumen im Tessin auch im Unterwuchs der Wälder vor, nicht nur über der Waldgrenze. Das ist für die Rostblättrige Alpen rose sehr speziell und hat mit dem feuchten Klima hier im insubrischen Teil der Alpen zu tun.»

Eggenbergs Geschichten würden ein ganzes Buch füllen. Und er weiss, wovon er redet: Seit 2011 ist Eggenberg Direktor von Info Flora, dem nationalen Daten- und Informationszentrum zur Schweizer Flora. Eigentlich sind wir heute aufgebrochen, um Gentiana insubrica zu suchen, den Insubrischen Enzian, von Eggenberg salopp «die Insubrica» genannt. Der Name verrät es schon: Das Verbreitungsgebiet dieses Enzians ist geografisch begrenzt. Insubrien ist die Gegend zwischen dem Po und den voralpinen Seen, die in der Antike vom keltischen Stamm der Insubrer bevölkert wurde. Innerhalb dieses Areals besiedelt der Enzian nur eine kleine Fläche im Südtessin und den angrenzenden Gebieten in Italien. Mindestens 60% des Verbreitungsgebietes liegen in der Schweiz. Damit gilt die Art als Teil-Endemit.

Ihr nächster Verwandter ist der Deutsche Enzian, Gentiana germanica. Die Gletscher der Eiszeiten haben diese einst weitverbreitete Art in mehrere kleine Populationen gespalten, die zwischen den Eismassen der Gletscher überlebten. Einzelne isolierte Bestände haben sich in den Zwischeneiszeiten nur langsam ausgebreitet, an die jeweiligen regionalen Umweltbedingungen angepasst und letztlich zu eigenen Arten entwickelt. «Ich staune immer wieder darüber, wie gut man die Muster der Eiszeiten selbst nach 10’000 Jahren in der Vegetation erkennt», sagt Eggenberg. «Viele Arten sind offenbar stark eingeschränkt in ihren Ausbreitungs- und Wandermöglichkeiten.»

So auch die Insubrica, über deren genaues Vorkommen in ihrem Verbreitungsareal wenig bekannt ist. Das will Eggenberg ändern. Seine heutige Pirsch führt uns vom kleinen Ort Cimadera, 40 Fahrminuten von Lugano entfernt, durch dichte Wälder bis an die alpine Zone. Was man weiss: Sämtliche Vorkommen unter der Waldgrenze sind heute erloschen.

Diese Flächen sind entweder überbaut, verwaldet oder zu Fettwiesen umgewandelt worden. Die letzten Rückzugsgebiete im eh schon kleinen Verbreitungsareal liegen über der Waldgrenze in den südlichen Kalkalpen des Tessins. Doch auch dort ist die Insubrica nicht sicher. Am Monte San Giorgio konnte die Art in den letzten Jahren nicht wiedergefunden werden. Genau dort hat der Schweizer Philosoph, Psychologe und «Hobbybotaniker» Hans Kunz den speziellen Enzian zum ersten Mal wissenschaftlich beschrieben, Belege gepresst, getrocknet und in Museen hinterlegt. Potenzielle Schweizer Vorkommen gibt es nur noch am Monte Generoso und in dem Gebiet, wo wir uns gerade aufhalten.

Eggenberg weiss von einer Weide, wo der Enzian mit grosser Wahrscheinlichkeit anzutreffen ist. Er möchte aber den Ausflug nutzen, um auch noch angrenzende Flächen zu inspizieren, auf denen sich der Enzian theoretisch auffinden lässt. 700 Höhenmeter trennen uns davon! «Im Tessin ist das von der Distanz her nicht so weit», beruhigt mich der Botaniker. «Es geht immer steil bergauf.» Eggenberg ist mit seinen fast zwei Metern viel grösser als ich, und wenn er einen Schritt macht, muss ich zwei machen. Zum Glück ist das Tempo moderat.

Eggenberg kennt die meisten der rund 3000 Pflanzenarten der Schweiz. Aus dem Vorkommen von Arten kann er auf die Geologie im Untergrund und die Nutzungsgeschichte schliessen. Er liest in der Vegetation wie in einem Buch. In einem Birkenwäldchen findet er die Blätter einer Feuerlilie und weiss sofort: Hier war früher Grasland; die Feuerlilie wird bald verschwinden, weil sie viel Licht braucht. Überhaupt ist die Verwaldung überall anzutreffen im Tessin und ein grosses ökologisches Problem, weil die vorrückenden Bäume Blumenwiesen überwuchern und Monokulturen bilden.

Eine spezielle Geschichte erzählt uns auch der dunkle Buchenwald mit nacktem Boden, durch den wir zügig hindurchlaufen. Darin stehen keine grossen, einstämmigen Bäume, sondern eng beieinander viele niedrige Gehölze. Aus jeder Basis ragen mehrere 10 bis 20 m hohe Triebe, ein Niederwald, der erst in jüngerer Zeit aufgegeben wurde. In diesem menschengemachten Waldtyp wurden die Buchen alle 10 Jahre zur Gewinnung von Brennholz fast bodeneben abgeschlagen. Das viele Licht, das auf den Boden fiel, hatte dazu geführt, dass sich eine artenreiche Flora und Fauna entwickeln konnte. Wird die Bewirtschaftung aufgegeben, entwickelt sich eine artenarme Monokultur. «Das ist trostlos», findet Eggenberg und beschleunigt seine Schritte. «Das ist kein Wald, der mir gefällt.»

Dafür freut sich Eggenberg über einen Kastanienbaum ein paar Hundert Meter weiter – auch wenn es keine einheimische Art ist. Sie stammt vermutlich aus Kleinasien und wurde von den Menschen schon vor mehr als 2000 Jahren im Tessin eingeführt. In den Talgebieten ersetzte die Art nach und nach fast alle einheimischen Waldbäume. «Hier ist wenig natürlich», sagt Eggenberg.

Während Jahrhunderten war die Kastanie im Tessin ein Grundnahrungsmittel. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts kam die Baumfrucht vielerorts sowohl mittags als auch abends auf den Teller. Für die Wintermonate wurde sie getrocknet und zu Mehl verarbeitet. Heute hat die Kastanie ihre Rolle als «Brotbaum der Armen» längst verloren. Der wirtschaftliche Aufschwung, die Abwanderung aus den Tälern und veränderte Essgewohnheiten machten die Kastanie beinahe wertlos. Weil sie aber 2000 Jahre Zeit hatte, sich ins Ökosystem einzufügen, pflanzt sie sich selbstständig in den Tessiner Wäldern fort und wird von Botanikern als einheimische Pflanze anerkannt.


In sogenannten Niederwäldern wurden die Buchen alle zehn Jahre zur Gewinnung von Brennholz fast bodeneben abgeschlagen. Es entstanden spezielle Waldlebensräume, die licht- und artenreich waren. Diese Bewirtschaftung wurde nach und nach aufgegeben, so auch in diesem ehemaligen Niederwald, der dunkel und artenarm ist.

Gar keine Freude hat Eggenberg dagegen an den vielen exotischen Gartenpflanzen, die sich seit Jahrzehnten reihenweise aus den Tessiner Vorgärten im Umland verbreiten und die Flora verändern. Bereits am Morgen, kurz nachdem wir den Bahnhof Bellinzona passiert hatten, hat mich Eggenberg auf das Ausmass dieser Invasion aufmerksam gemacht. «Schau, die Pflanze dort drüben am Bahnbord. Das ist Ailanthus altissima, der Götterbaum, der aus China und Nordvietnam stammt. Das wird ein riesiges Problem für die Tessiner Flora. Er bildet Monokulturen und überwuchert alles.» Botanisieren aus dem Zugfenster war eine neue Erfahrung für mich.

Für Eggenberg ist klar: Diese Art muss bekämpft werden. Nicht für ewig, denn der Kampf gegen die Neuankömmlinge gleicht dem Kampf gegen Windmühlen. Aber man müsse der Natur Zeit geben, die Neuankömmlinge zu integrieren. Die Arten sind nun mal in den Gärten, und das insubrische Klima bekommt ihnen prächtig. Dieses ist warm-gemässigt mit einem Hang zum feucht-subtropischen und ähnelt damit jenem in Ostasien, auf den Kanarischen Inseln oder am Schwarzen Meer, von wo viele unserer Gartenpflanzen stammen. Weil gleichzeitig die Eiszeit vor Tausenden von Jahren die immergrünen Wälder im Tessin ausradiert und der Mensch eine enorme Dynamik in die Landschaft gebracht hat, gibt es reichlich Lücken im Ökosystem, die nun von Gartenpflanzen besetzt werden. Viele dieser Arten sind invasiv und machen sich im Unterholz tiefer Lagen breit. Kampferbäume und Tessinpalme machen zwar den Wald wieder immergrün, verdrängen aber auch einheimische Gewächse oder machen wie im Fall von Ambrosia artemisiifolia, kurz Ambrosia genannt, mit ihrer Pollenfracht Asthmatikern das Leben schwer. Andere machen mit ihren Wurzeln Dämme instabil.

«Ich verstehe die Leute nicht, die sagen, dass diese Arten eine Bereicherung seien. Das ist es global gesehen nicht, weil die Vegetation vereinheitlicht wird. Diese flächendeckende Banalisierung beeinträchtigt die biologische Vielfalt. Die Vorstellung, dass irgendwann überall die gleichen Arten vorkommen, finde ich furchtbar. Man kann von Bern mit dem Zug in den Balkan fahren und sieht inzwischen immer die gleichen 2 bis 3 Pflanzenarten entlang des Bahndamms. Das stimmt mich traurig. Wenn mir jemand sagt, dass Impatiens glandulifera, das Drüsige Springkraut, Farbtupfer in die Auenwälder bringt, sage ich: Jetzt hab ich sie langsam gesehen, die immer gleichen Farbtupfer.»

Eggenberg ist dafür, gebietsfremde Arten, die ökologische, gesundheitliche oder ökonomische Schäden verursachen, zu bekämpfen. Es geht darum, den einheimischen Arten eine Ruhepause zu verschaffen, bis sich ein Gleichgewicht eingestellt hat.

Ständig kommen neue Arten. Am Lago Maggiore spielen sich Szenen ab wie in einem Science-Fiction-Film. Die Lianenart Kudzu, wissenschaftlich Pueraria lobata genannt, überwuchert sogar Masten, Strassenlampen und Stromleitungen. Die Art stammt aus dem subtropischen Asien und gehört zu den 100 aggressivsten invasiven Arten weltweit. Im Tessin, wo sie an 30 Standorten gefunden wurde, konnte bei Trieben ein Zuwachs von bis zu 26 cm pro Tag gemessen werden. Damit kann Kudzu den Boden mit mehreren Pflanzenschichten überdecken und verdrängt so einheimische Pflanzen- und Insektenarten.

Der Bund hat auf die Probleme reagiert und besonders invasive Arten auf eine Verbotsliste gesetzt. Die Arten auf der Liste dürfen von Gartenbaubetrieben nicht mehr verkauft werden. Das ist schwieriger als gedacht. «Die Goldrute aus dem Verkauf zu bringen war ein riesiger Aufwand», erinnert sich Eggenberg. Das attraktive Gewächs ist ein grosses Problem in Naturschutzgebieten, den Kronjuwelen des Schweizer Naturkapitals.

Ganz anders sieht er die natürliche Einwanderung von Arten aus dem Mittelmeerraum: «Letztendlich sind alle Arten im benachbarten Italien auch hier potenziell einheimisch. Mit dem Klimawandel ist alles in Bewegung geraten.» Botaniker führen daher die Liste der einheimischen Flora immer wieder nach.

In einem Tobel entdeckt Eggenberg Pritzelago alpina, die Gämskresse, die an diesem Standort eigentlich nichts verloren hat. Im Gegensatz zum Götterbaum ist sie einheimisch, ihr Lebensraum liegt aber weiter oben, weit über der Waldgrenze. Das Individuum wird in der Botanik als «Alpenschwemmling» bezeichnet, weil es von oberen Vegetationsstufen mit Bächen und Flüssen in tiefere Lagen mitgerissen wurde und dort auf Schutt und Kiesinseln munter weiterwächst.

Eggenberg zückt einmal mehr sein Handy, öffnet FlorApp, fotografiert das Pflänzchen und gibt verschiedene Daten ein: Artname, Koordinaten des Standorts, Funddatum. Die von Info Flora entwickelte Software für Handys ermöglicht es seit Juli 2016 jedem Hobbybotaniker, Fundmeldungen von Gefässpflanzen, Moosen, Flechten und Pilzen zu erfassen; die Fundmeldungen werden direkt an die für diese Organismen zuständigen Schweizer Datenzentren weitergeleitet, entweder via WLAN von zu Hause aus oder gleich aus dem Feld. Bereits mehr als 1000 Personen in der Schweiz melden regelmässig Pflanzenfunde. Dadurch wird das Bild der Schweizer Flora immer schärfer.

«Enzian!», ruft Eggenberg und der Fotograf zückt seine Kamera. «Den suchen wir, oder?», «Nein, das ist Gentiana asclepiadea, der Schwalbenwurz-Enzian, der weitverbreitet ist.» Die Pflanze ist mit ihren 80 cm Höhe und den vielen grossen blauen Blüten besonders attraktiv. Allein in der Schweiz können 30 Enzianarten angetroffen werden, eine schöner als die andere. Nicht umsonst ist im Logo von Info Flora ein Vertreter dieser Artengruppe zu sehen. Selbstverständlich wird auch dieses Individuum sofort von Eggenberg inventarisiert und digital hochgeladen.

Und dann erreichen wir sie doch noch, die Waldgrenze. Die imposanten Denti della Vecchia mit ihren markanten Felsnadeln erheben sich südwestlich von uns. Je höher wir kommen, desto häufiger wechselt der geologische Untergrund von Silikat auf Kalk und wieder zurück. Die Veränderung ist nicht zu überhören. «Jetzt geht’s los!», ruft Eggenberg, als das Gestein von Schieferschwarz auf Kalkweiss wechselt. Und schon zählt er im Sekundentakt die vielen neuen Pflanzenarten auf. Auf Silikat wird Eggenberg wieder deutlich ruhiger. Später erklärt er: «Kalziumionen sind ein Problem für Pflanzen. Es ist daher einfacher für kalktolerante Pflanzen, auf Silikat zu wachsen als umgekehrt. Dennoch hat es pro Flächeneinheit viel mehr Arten auf kalkigem Boden. Das ist ein Widerspruch, ich weiss, und die Ursache ist auch noch nicht ganz geklärt. Es wird vermutet, dass Kalkböden sehr vielfältig sind: Hier gibt es auf kleinem Raum trockene und feuchte Stellen, basische und saure Bereiche, nährstoffarme und nährstoffreiche Flächen. Diese Vielzahl an Nischen führt dazu, dass konkurrenzstarke Arten den Pflanzenbestand nicht dominieren können und Platz für eine hohe Artenvielfalt vorhanden ist.» Eggenberg bezeichnet das als «wahrscheinliche Erklärung».

Kurz darauf entdeckt er Arabis alpina. «Das muss ich gleich einem Kollegen schicken. Der arbeitet an dieser spannenden und sehr konkurrenzstarken Art.» Eggenbergs Kollege ist Botanikprofessor und sammelt alle verfügbaren Informationen und Vorkommen zu dieser Pflanzenart. «Man vermutet, dass die einzelnen Pflanzen einer Population sich gegenseitig helfen und noch dazu von Bodenpilzen unterstützt werden. Man weiss viel zu wenig darüber, was im Boden passiert».

Eine Herde freundlicher Schottischer Hochlandrinder begrüsst uns auf einer Weide. «Lass uns die Insubrica finden», sagt der Botaniker und springt hangaufwärts. Wonach suchen wir eigentlich genau? «Der Enzian blüht violett-blau, ist 10 bis 25 cm gross und besteht fast nur aus Blüten. Er sollte nicht zu übersehen sein.»

Wir stossen auf wirre Grasflächen. Die Blätter bilden regelrechte Dauerwellen am Boden. «Wir nennen das Seegras», sagt Eggenberg beiläufig. «Die Tiere fressen das nicht gerne. Hier müssen wir nicht suchen. Die Vegetation ist viel zu dicht und zu hoch». Und dann wird er immer stiller. Das erste und einzige Mal an diesem Tag. Wir laufen über bodeneben abgegraste Ziegenweiden. Optimal eigentlich, denn die Insubrica mag es hell und verträgt keine Konkurrenz. Vom Vieh wird sie gemieden, weil die ganze Pflanze wie alle Enziane extrem bitter schmeckt. Dennoch, vom Enzian weit und breit keine Spur.

Unsere Magen knurren und wir beschliessen, auf einer Bank zu essen. «Mit vollem Bauch sucht es sich besser», meint Eggenberg. Mir schwirrt der Kopf vor lauter Botanik. Ich lasse den Blick über die Landschaft schweifen. Es ist Mitte September, die Fernsicht ist gut. Auch Eggenberg blickt in die Runde. Arten lassen sich auf die Distanz nicht bestimmen, dafür hat er jetzt ganze Lebensgemeinschaften im Fokus. Sein Blick verfinstert sich. «Schau, dort drüben auf der anderen Talseite. Die dunkelgrüne Fläche zwischen und über den Waldgebieten besteht nur aus Adlerfarn. Das waren vor wenigen Jahren noch Weiden, die aufgegeben wurden. Danach löst eine Monokultur die andere ab. In ein paar Jahren wird der Besenginster die Flächen erobern, dann kommen Birken, Weiden und dann die Buche. Bis sich diese Wälder aber in artenreiche Urwälder verwandeln, wird es noch Jahrhunderte dauern.»

Vor 100 Jahren war hier alles Wiese, Weide oder Acker. Wald hatte es nur in den steilen Tobeln. Jeder Quadratmeter wurde genutzt, vor allem im 19. Jahrhundert, als die Bevölkerung im Tessin dramatisch wuchs. Ab Mitte des 20. Jahrhunderts setzte die Landflucht ein. Es lockten gute Arbeitsplätze gleich im Tal unten als attraktive Alternative zur mühsamen Bewirtschaftung der steilen Hänge, die sich trotz hoher staatlicher Direktzahlungen nicht lohnte.

In der über dem Adlerfarn bzw. der Baumgrenze liegenden alpinen Zone ist die ökologische Situation nicht besser: Durch die Übernutzung der Flächen in den letzten Jahrhunderten und den Stickstoffeintrag über die Luft aus der dicht besiedelten Poebene sind die eh schon sauren Silikatböden derart stark versauert, dass Aluminium aus den Mineralien mobilisiert wird. Und dieses ist für die meisten Pflanzen toxisch. Nur Nardus, das Borstgras, kommt mit diesen Bedingungen sehr gut zurecht und hat sich auf den Matten breitgemacht. «Auf der gegenüberliegenden Seite würde ich nie und nimmer eine botanische Exkursion unternehmen, es sei denn, es interessiert sich jemand für Nardus in all seinen Formen und Farben», erklärt Eggenberg. «Im Moment ist ein Grossteil der Landschaft im Tessin im vermutlich eintönigsten Zustand seit dem Ende der letzten Eiszeit. Es gibt keine Flecken mehr, die wirklich natürlich sind, nicht mal auf den Bergspitzen. Viele Lebensräume sind artenarm und instabil.»

Mit vollem Magen wuchten wir uns schliesslich hoch und machen uns auf die Suche nach unserem Zielobjekt, das irgendwo zwischen uns und dem steilen Grat wächst, der sich vor uns erhebt. «Hier ist alles Kalk, da hat die Insubrica eher eine Chance», sagt Eggenberg hoffnungsvoll. «Sie braucht Weiden und Offenland.» Die erste Weide ist leer. «Im schlimmsten Fall finden wir sie nicht. Sie ist ja auch in ihrem begrenzten Verbreitungsgebiet sehr selten. Lasst uns auf der Weide nach dem Tobel weitersuchen. Dort stechen wir den Hang hoch. Die seltenen Arten sind meist nicht direkt am Weg.»

Seine Prophezeiung soll sich bewahrheiten: Nach 40 m lässt sich Eggenberg auf die Knie fallen. «Hey, komm rüber», und man hört es seiner Stimme an: Er hat das Zielobjekt entdeckt. «Schau hier! Megaschön.» Er zeigt auf ein kleines Blumenbouquet, das nur wenige Zentimeter über den Rasen schaut. Die Insubrica besteht aus einem Büschel Blüten oder ist, wie Eggenberg sagt, «ein explodierendes Feuerwerk!». Für Eggenberg ist Weihnachten und Ostern zugleich. Er hebt die Hand für ein «High Five» und wir klatschen unsere erhobenen Hände gegeneinander. Im nächsten Moment hat er eine Blüte zwischen den Fingern – zu wissenschaftlichen Zwecken natürlich. «Fünf», sagt Eggenberg stolz und reicht mir den Schatz. «Zähl die Kronzipfel. Es sind fünf. Also kann es nicht ein Feld-Enzian sein, der vier Zipfel hat, in der Schweiz weitverbreitet ist und hier potenziell auch vorkommt. An diesem Ort wurde noch nie eine Insubrica gefunden», erklärt Eggenberg, zückt das Handy, macht ein Porträt von der Pflanze und tippt die benötigten Daten ein. «Wie gross ist die Population? Kannst du mal schauen?» Ich finde im Umkreis rund 20 weitere Pflänzchen im Gras.

Mich verwirrt das völlige Fehlen grüner Blätter. «Der Enzian besteht im ersten Lebensjahr nur aus einer unauffälligen Blattrosette», erklärt der Botaniker. «Im zweiten Jahr investiert er dann die gesamte Energie, die in den Wurzeln gespeichert ist, in die Blüte und stirbt dann ab.» Geblüht wird bei den meisten Enzianen im Herbst, wenn die Tiere alles schon bodeneben abgeweidet haben und sie in konkurrenzloser Pracht die bestäubenden Insekten ganz für sich haben.

Für Eggenberg ist heute Premiere: Die Insubrica hat er zuvor noch nie zu Gesicht bekommen, und das will was heissen für jemanden, der jeden Monat mehrere Exkursionen für Studenten leitet. Wie oft kommt es noch vor, dass er eine neue Art antrifft? «Immer seltener», lacht Eggenberg. Im Jahr noch ein- bis dreimal. Oft handelt es sich um Endemiten, Arten also, die ein stark begrenztes Verbreitungsgebiet haben.

In der Schweiz gibt es 6 endemische und 65 teilendemische Pflanzenarten. Bei Letzteren, zu denen auch die Insubrica gehört, liegt ein Teil des Verbreitungsgebietes in einem oder mehreren benachbarten Ländern. Endemiten sind spannende Arten, auch für die Forschung. Es stellt sich bei jeder Art die Frage, wieso sie es nicht geschafft haben, sich auszubreiten.

In den Fokus gerückt sind die Schweizer Endemiten 2011 mit der Bestimmung von «national prioritären Arten» durch den Bund. Ziel war es, jene Arten zu ermitteln, die hierzulande bedroht sind, und für deren Überleben die Schweiz eine internationale Verantwortung besitzt. «Dies war ein wichtiger Schritt in Richtung eines effizienten Artenschutzes», sagt Eggenberg, der an den Arbeiten massgeblich beteiligt war. «Jedes Land hat vorher beim Artenschutz und bei der Artenförderung nur auf die Gefährdung geschaut. Eine hierzulande gefährdete Art, die weltweit massenhaft vorkommt, ist aber etwas ganz anderes als eine Art, die gefährdet ist und sonst nirgends vorkommt. Erstaunlicherweise wurde dieses Konzept erst spät eingeführt. Die Insubrica als Teilendemit und als bedrohte Art rangiert in der Prioritätenliste ganz weit oben.


Der Insubrische Enzian im Fokus von Stefan Eggenberg: «Hier auf dieser Fläche mag der Enzian häufig sein. Aber Hunderte an einem Ort sind nicht so viel, wenn eine Art weltweit nur noch mit wenigen Populationen in einem kleinen Areal vorkommt.»

Wenige 100 m unter dem Grat, der die italienische Grenze markiert, stossen wir auf eine weitere Insubrica-Population. Es sind Hunderte Individuen, die sich mit ihren auffälligen Blüten fast rasenartig über die Weide ergiessen. Eggenberg sieht meinen verzückten Blick. «Hier auf dieser Fläche mag der Enzian häufig sein», relativiert er. «Aber Hunderte an einem Ort sind nicht so viel, wenn eine Art weltweit nur noch mit wenigen Populationen in einem kleinen Areal vorkommt. Wenn sich hier ihr Lebensraum verändert, ist die Art weg. Für immer. Und zwar weltweit.»

Was bedeutet für ihn Biodiversität? Eggenberg überlegt. «Diese Frage stellt man sich manchmal viel zu wenig. Eigentlich ist es aber einfach: Für mich bedeutet Biodiversität Glück. Und Stolz. Und Sicherheit.» Stolz? «Ich bin stolz darauf, in einem Land zu leben, das so viele verschiedene Lebensräume und Arten auf so kleinem Raum beherbergt. Für mich hat Biodiversität sehr viel mit Heimat zu tun.» Und Sicherheit? «An immer mehr Orten in der Schweiz wurde die Biodiversität massiv reduziert. Ich denke da beispielsweise an die Agrarwüsten im Mittelland, die vergandeten Flächen in den Alpen, die eintönigen Siedlungsräume, die trostlosen Bäche. Da habe ich schon das Gefühl, das geht auf Dauer nicht gut. Die Natur bestraft Monotonie. Ein Krankheitserreger genügt, um ein ganzes System aus dem Gleichgewicht zu bringen. Wir können die Zukunft nicht ohne biologische Vielfalt bewältigen. Ich mache mir dabei weniger Sorgen um die Natur; die wird immer einen Weg finden, um zu überleben. Ich mache mir Sorgen um uns Menschen.»

Die Vielfalt wurde Eggenberg in die Wiege gelegt. Wanderungen am Wochenende und in den Ferien waren fester Bestandteil seiner Kindheit. Seine Eltern legten auch Wert darauf, den Kindern die kulturelle Vielfalt zu vermitteln, die, so Eggenberg, mit der biologischen Vielfalt «wesensverwandt» ist. Mit Kollegen gründete er eine «inoffizielle Waldschule». Ständig waren die Jugendlichen in der Natur und übernachteten tagelang draussen unter freiem Himmel. Im Dorf, wo Eggenberg aufgewachsen ist, gab es lediglich einen Kaninchenzuchtverein und einen Vogelschutzverein, der sich allerdings darauf beschränkte, Nistkästen aufzuhängen.

Fast hätte die kulturelle Vielfalt gewonnen: Eggenberg schwankte gegen Ende seiner Gymnasialzeit zwischen einem Geschichts- und einem Biologiestudium. Heute ist Geschichte sein Hobby. Nicht unschuldig an der Entscheidung war sein Biologielehrer, der seine Leidenschaft für Lebensformen im richtigen Moment gefördert hat. Mit den Tierpräparaten durfte Eggenberg in den Vitrinen der Schule Lebensräume nachbilden. Dennoch bevorzugte er die Pflanzen. «Die können nicht wegrennen oder wegfliegen, wenn man sie abzeichnen oder genau anschauen will», erklärt Eggenberg mit einem Lächeln. Fasziniert war er vor allem von der Vielfalt der Blattformen, sowohl zwischen verschiedenen Arten als auch innerhalb der gleichen Art. Seine professionellen Zeichnungen zieren mehrere botanische Bestimmungsbücher, unter anderem die «Flora Vegetativa». Eggenberg zeichnet bis heute. «Zeichnen ist ein toller Ausgleich zur täglichen Büroarbeit und zu all den Sitzungen. Ich möchte das in den kommenden Jahren intensivieren.»

In die Faszination für die Vielfalt mischte sich bald einmal die Sorge: Eggenbergs Schulweg führte durch ein abgetorftes, entwässertes und heute landwirtschaftlich genutztes Moor. Der Ruf des Kiebitzes begleitete ihn all die Jahre. Gegen Ende der Schulzeit bemerkte er eines Tages, dass der Wiesenvogel verschwunden war. «Das hat mich sehr traurig gemacht», sagt Eggenberg. «Andere Veränderungen waren nicht so offensichtlich. Heute weiss ich, dass alles langsam grüner wird, fetter, artenärmer. Wenn ich heute in mein Heimatdorf gehe, stelle ich fest: Es ist alles weniger vielfältig. Entlang des Baches ist vieles verbaut. Das ist ein Verlust an Heimat.»

Eggenbergs Handy piepst und sorgt für willkommene Ablenkung. «Bärbel Koch wird gleich zu uns stossen. Ich schicke ihr rasch unseren Standort.» Kurze Zeit später hüpft eine sportliche junge Frau den steilen Hang hinauf. Eggenberg stellt sie als «Naturaliste» vor. Koch ist Spezialistin für Insekten, kennt aber auch die Pflanzen sehr gut und eigentlich alles, was da in der Landschaft kreucht und fleucht. Als selbstständige Biologin betreut sie diverse Forschungs- und Naturschutzprojekte im Auftrag des Kantons und des Naturmuseums Lugano. Soeben kommt sie von einer Jagdschau, wo sie kontrolliert hat, ob die richtigen Tiere am richtigen Tag auf die richtige Art und Weise geschossen wurden.

«Habt ihr die Insubrica gefunden?» Schon hält ihr Eggenberg stolz eine Blüte vors Gesicht, um sich anschliessend mit ihr in ein Fachgespräch zu vertiefen. Jedes Detail der Blüte wird mit grossem Ernst unter die Lupe genommen. Grob zusammengefasst geht es darum, ob irgendwelche Strukturen an der Blüte wie Höckerchen, Fruchtknoten, Staubfäden, Kelchzipfel, Krone, Stiel und so weiter entweder kurz oder lang, gleichmässig oder ungleichmässig, gerollt oder ungerollt, gezähnt oder ungleich gezähnt, bewimpert oder nackt sind. Für Botaniker ist das wichtig, denn anhand solcher Merkmale wurde die Insubrica als eigene Art ausgewiesen.

Stefan Eggenberg hat Bärbel Koch hier ans Ende der Schweiz gebeten, um sie als Gotte für die Insubrica zu gewinnen. Dazu muss er ihr den Lebensraum und die Art persönlich zeigen, um Missverständnisse zu vermeiden und eine gute Qualität der Daten zu gewährleisten. Eggenberg und sein Team haben für viele bedrohte Arten in der Schweiz Göttis und Gotten gewonnen. Ihre Aufgabe ist es, die Bestände regelmässig zu besuchen und Alarm zu schlagen, wenn Populationen zurückgehen oder verschwinden. Koch soll auch die Augen nach neuen Populationen von Insubrica offen halten. Sie wohnt am Fuss des Monte Generoso, des einzigen Ortes in der Schweiz, wo Eggenberg weitere Vorkommen vermutet. Koch nimmt das Ehrenamt gerne an.

Denn das Überleben der endemischen Art hängt an einem seidenen Faden. Die beiden Populationen, die wir bisher gefunden haben, wachsen auf intakten Weiden. Alle anderen Weiden sind unternutzt, das heisst: Die Vegetation steht hoch, sodass wenig Licht auf den Boden fällt und die sonnenliebende Insubrica rasch verschwindet. Unternutzt sind vor allem Kuhweiden. Kurz ist der subalpine Rasen dagegen dort, wo Ziegen grasen. Bleibt die Frage, wie die Insubrica überlebt hat, als es noch keine Nutztiere gab. Die Wildtierdichte sei vor Ankunft der Menschen viel höher gewesen, sagt Eggenberg. Der Nationalpark liefert Indizien: Die Rasen über der Waldgrenze sind kurz, auch wenn die Wildtierdichte dort in Abwesenheit von Wolf, Bär und Jäger vielleicht etwas über der natürlichen Kapazität liegt. Auch die Wälder waren ganz anders. Es gab viel mehr Licht auf dem Waldboden, weil Wisent und Auerochse die Bäume in Schach hielten und umgefallene Urwaldriesen regelrechte Lichtungen hinterlassen haben, die von Reh und Hirsch offengehalten wurden.


Stefan Eggenberg hat die Biologin Bärbel Koch hier ans Ende der Schweiz gebeten, um sie als Gotte für den Insubrischen Enzian zu gewinnen. Koch hat das Ehrenamt gerne angenommen. Denn das Überleben der endemischen Art hängt an einem seidenen Faden.

Eggenberg pflückt eine Blüte für weitere Bestimmungen.

«Hey, du hast eine Blüte von einer aussterbenden Art abgerissen!», sagt Bärbel mit einem Augenzwinkern.

«Sorry. Schau, ich nehme dem Pflänzchen zum Ausgleich Konkurrenz weg.» Eggenberg beginnt sich gärtnerisch zu betätigen.

«Vielleicht war das aber ihr Schutz gegen Wind und Kälte! Und jetzt stirbt sie aus!»

«Mist!»

Beide lachen lauthals. Botanikerhumor.

Es ist schön hier oben. Heidi ist auch da: Auf einem Felssporn 200 m von uns entfernt sitzt eine junge Frau mit rotem Pullover und schaut seit Stunden gebannt in die Bergwelt.

Doch die biologische Ausstattung der Schweiz ist nicht mehr selbstverständlich. Immer grössere Lücken tun sich auf. Das weiss niemand besser als Eggenberg. Er war massgeblich an der Erstellung der Roten Liste der Pflanzen beteiligt, die 2016 erschienen ist. Fast 400 ehrenamtliche Botaniker waren im Auftrag von «Info Flora» im ganzen Land ausgeschwärmt, um 6000 alte Fundmeldungen von 800 Pflanzenarten zu bestätigen. Doch die Schatzsucher gingen bei ihrer Suche oft leer aus: Über ein Drittel der Fundorte, wo zwischen 1982 und 2002 bedrohte Arten nachgewiesen worden waren, zeigten sich verwaist. Je höher das Aussterberisiko einer Art in der alten Roten Liste von 2002 eingeschätzt worden war, desto grösser waren die festgestellten Verluste. Beispielsweise fehlten Arten der obersten Gefährdungskategorie «Vom Aussterben bedroht» bei der Hälfte der früher bekannten Fundorte. Gleichzeitig ist es sehr unwahrscheinlich, dass die Arten auf neue, unbekannte Standorte ausgewichen sind, weil in der Schweiz keine geeigneten neuen Lebensräume entstehen.

Die statistisch abgesicherten Daten zeigen insgesamt einen massiven Verlust an Biodiversität. Diese Feststellung ist ernüchternd. Offenbar reichen die vom Bund und den Kantonen seit den 1980er-Jahren ergriffenen Massnahmen zum Schutz von Arten und Lebensräumen in keiner Weise aus.

Lässt sich die Abwärtsspirale stoppen? Eggenberg ist überzeugt davon: «Mit dem entsprechenden guten Willen auf jeden Fall, und zwar ohne wirtschaftliche Einbussen – im Gegenteil. Wir gewinnen so viel, wenn wir eine reichhaltige biologische Vielfalt bewahren und fördern.» Er weiss genau, wie die Artenvielfalt stabilisiert und wieder erhöht werden kann: Dazu muss zuerst einmal die ökologische Qualität der Naturschutzgebiete und der Biodiversitätsförderflächen in der Landwirtschaft erhöht werden. Dann gilt es, sämtliche weitere naturnahen Flächen mit bedrohten Arten zu erhalten, in der ganzen Schweiz systematisch Flächen zu renaturieren und neuen Lebensraum zu schaffen. Denn der Grossteil der national prioritären Pflanzenarten lebt ausserhalb der Schutzgebiete entlang von Bächen, Waldrändern, Hecken, Wegen, Bahnlinien oder in Brachflächen und extensiven Wiesen und Weiden.

Naturschutz ist in der Schweiz Sache der Kantone. Das ist an sich nicht schlecht, denn biologische Vielfalt spielt sich auf lokaler und regionaler Ebene ab. Doch die kantonalen Naturschutzfachstellen sind hoffnungslos unterdotiert und haben wenig Einfluss auf den Regierungsapparat, vor allem in kleineren Kantonen. Ein Beispiel: Von vielen Biotopen von nationaler Bedeutung – den Perlen der Biodiversität in der Schweiz – ist nicht bekannt, ob die erlassenen Bestimmungen zu ihrem Schutz im Feld umgesetzt werden. Das heisst: Man weiss nicht, ob Verträge mit den Landnutzern bestehen, oder ob die Vielfalt auf eine andere Weise geschützt ist. Und selbst wenn ein Vertrag besteht: Es werden praktisch nie Zielwerte für bestimmte national prioritäre Arten vereinbart.

Grundsätzlich fehlt es an finanziellen und personellen Ressourcen. «Und an Ideen!», ruft Eggenberg. «Wir müssen jeden einzelnen Lebensraum und jedes Schutzgebiet als Individuum mit einer ganz eigenen Entwicklungs- und Nutzungsgeschichte sowie ganz speziellen Umweltbedingungen betrachten. Heute wird das alles über eine Leiste geschlagen. Die meisten Biodiversitätsförderflächen werden im Flachland am 15. Juni geschnitten. Das ist Unsinn, weil so überall die immer gleichen Arten gefördert werden. Ein solches System fördert keine biologische Vielfalt, sondern Einfalt. Um das Optimum aus jedem Objekt zu holen, müssen wir individualisieren. Ich wünschte mir, dass wir den Landwirten mehr Verantwortung übergeben könnten. Das wäre eigentlich die Idealform: Landwirte erhalten und pflegen die Biodiversität. Dazu müssen sie so ausgebildet werden, dass sie selber mitdenken können. Das hat auch viel mit Vertrauen zu tun. Die Landwirte müssen aber zeigen, dass sie dieses Vertrauen verdienen.»

Gefordert sei vor allem die Politik, so Eggenberg. Denn Biodiversität ist ein sogenanntes öffentliches Gut. Alle profitieren von ihr beziehungsweise alle leiden darunter, wenn sie verloren geht, aber niemand fühlt sich dafür verantwortlich, das Naturkapital zu schützen. Das ist ein klassisches Marktversagen, das der Staat korrigieren muss. «Das hat nichts mit politisch rechts oder links zu tun. Wir haben einfach keine Alternative, als Natur zu erhalten und zu fördern.»

Eggenberg sieht Lichtblicke: «Auf Gesellschaftsebene nehme ich eine Sensibilisierung für die Anliegen der Biodiversität wahr. Daran seid ihr Journalisten mit schuld», meint er grinsend. «Vielleicht hat der Naturverlust aber auch einfach eine Grenze überschritten, an der die Leute beginnen, etwas zu vermissen. Ihre Lebensqualität nimmt ab. Ich denke auch, dass die Menschen mit der überbordenden Globalisierung wieder ein Gegengewicht suchen, und zwar in Form von Heimat. Natur ist ein wesentlicher Bestandteil von Heimat. Ich sehe viele Indizien: Die Menschen machen beispielsweise wieder vermehrt selbst Konfitüre, sie kaufen Zeitschriften wie ‹Landliebe› und interessieren sich sogar für die biologische Vielfalt: Unsere Feldbotanikkurse verzeichnen einen extremen Zulauf und sind immer ausgebucht. Das stimmt mich optimistisch. Wenn das so weitergeht, wird es auch in der Landschaft sichtbar. Sogar der Bauernverband will wissen, wieso die Insekten sterben! Das ist doch toll! Sie merken, dass Ökosystemleistungen wegfallen. Das wäre vor 10 Jahren undenkbar gewesen.» Eggenberg hält inne, schaut über die Blumenwiese und fügt hinzu: «Wir müssen uns einfach wieder mehr Natur leisten. Naturschutz ist für mich auch ein Gestaltungsbereich des Menschen, eine Kulturleistung. Eine intakte Gesellschaft ist ohne Natur undenkbar! Es ist DIE Chance, uns Glück zu verschaffen!»


«Wir müssen uns einfach wieder mehr Natur leisten», findet Stefan Eggenberg. «Eine intakte Gesellschaft ist ohne Natur undenkbar!»

Ganz oben auf dem Grat entdeckt Bärbel Koch noch ein paar Enziane und denkt laut über mögliche Wechselwirkungen mit Insekten nach. Mitten im Gespräch bückt sie sich unvermittelt, packt ein kleines braunes Geschöpf und dreht es zwischen den Fingern. «Eine Dornschrecke. Wie hübsch. Die sind schwierig zu finden.» Sie überlegt kurz, ob sie das Tier in Alkohol konservieren soll. «Ich bin dabei, eine Sammlung mit einheimischen Heuschrecken anzulegen. Da müssen leider ein paar dran glauben.» Schliesslich zückt sie den Fotoapparat, dokumentiert den Fund und lässt die Heuschrecke von dannen hüpfen.

Der Fotograf, der uns begleitet, macht uns freundlich darauf aufmerksam, dass die Welt sich nicht nur am Boden abspielt. Wir sollten doch mal einen Blick in die Landschaft werfen. Der Blick ist tatsächlich überwältigend. Im Osten blicken wir nach Italien – Wald, soweit das Auge reicht. «Die Landflucht war in den italienischen Alpen noch viel extremer als im Tessin», sagt Eggenberg. Er glaubt nicht, dass die Insubrica dort unterhalb der Baumgrenze überlebt hat. In der Mitte des Panoramas liegt der Luganersee, dahinter erhebt sich der Monte Generoso, daneben der Monte San Giorgio. Weiter westlich schimmert der Lago Maggiore. Mit diesem Panorama vor Augen laufen wir den Grat entlang. Der Weg heisst zu Recht «Scenic Route». Irgendwann steigen wir steil in den Wald hinunter, um nach einer Stunde auf einer Weide zu stehen, die übersäht ist mit violett-blauen Blüten. «Willkommen in der grössten Population von Insubrica», sagt Eggenberg mit ausgebreiteten Armen. Die Weide ist scharf von Wald eingefasst und wirkt wie ein botanischer Garten. Befriedigt stellt Eggenberg fest, dass die Population stabil ist. Immerhin. Er ist froh, dass Bärbel Koch den Bestand im Auge behält.

Eggenberg läuft unermüdlich im Zickzack über die Weide, zückt immer wieder das Handy, macht Fotos von Pflanzenarten, tippt Daten ein und speichert den Fund digital. «Hey, hier ist eine weitere Enzianart, die haben wir heute noch nicht gesehen!», ruft er begeistert. Ich winke ab. Meine Beine sind schwer, ich bin erschöpft. Der botanische Speicher ist längst am Überlaufen. Verwirrt schaue ich über die Wiese mit den unzähligen Insubrischen Enzianen, die nur noch hier und auf ein paar umliegenden Weiden vorkommen, eventuell noch am Monte Generoso weiter im Süden. Auf der Weide wachsen unzählige weitere Pflanzenarten: gelbe, weisse, blaue. Es ist Herbst, aber die Wiese blüht in allen Farben. Insekten düsen über die Vegetation, stoppen hier und dort. Biodiversität ist etwas Faszinierendes.


Insubrischer Enzian (Gentiana insubrica)

Im Restaurant des Zugs Richtung Norden ist das einzige vegetarische Menü ein gemischter Salat. Ich frage Eggenberg lieber nicht, welche Arten da auf meinem Teller liegen. Ich bestelle Chips zum Salat. Wir blicken beide müde aus dem Fenster. Es ist fast dunkel. Vor uns breitet sich das nächtliche Lugano aus: ein Häusermeer bis an die Waldgrenze. Irgendwo dort oben wächst eine Pflanzenart, die kaum jemand kennt und die auch kaum jemand zu sehen bekommen wird – zumindest nicht bewusst. Zu wissen, dass dort oben etwas ganz Besonderes wächst und ich die Ehre hatte, der Insubrica persönlich zu begegnen, fühlt sich gut an.

Gregor Klaus

[Nachtrag]

Zwei Wochen nach der Exkursion erreichte mich folgende Email:

Lieber Gregor

Dieses Wochenende hat sich Bärbel nochmals den Enzianblick übergeschnallt und die in die Jahre gekommenen Fundmeldungen rund um die Gipfelregion des Monte Generoso überprüft.

Das Bild ist nur halbwegs erfreulich. Die Populationen am Cima Crocetta sind offenbar erloschen, auch die daran anschliessenden an dessen Ostgratflanke (I Pianch). Aber am Südosthang des Hauptgipfels gibt es sie noch, diese kleinen Feuerwerke, und zwar genau dort, wo eben die Grashänge kurz gehalten werden, wie z.B. entlang des Bergweges.

Das Bild bestätigt sich: Der Insubrische Enzian verschwindet, wenn das Grünland aufgegeben wird und vergandet. Die Einschätzung von «Info Flora» ist richtig: Die Art ist gefährdet – und das bei einer Weltpopulation, die sich auf die Berge zwischen Luganer- und Comersee beschränkt!

Es wäre spannend zu erfahren, ob bei einer Wiederaufnahme einer Ziegenweide oder Mahd bei Cima Crocetta die armen kleinen Kerle wieder zum Vorschein kommen.

Liebe Grüsse

Stefan

Arten vor dem Aus

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