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EINE ANKLAGE GEGEN SENECA

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§ 4 Spätsommer 58 nach Christus. Ein Mann steht vor Gericht, er ist alt, doch laut und frech wehrt er sich gegen den Vorwurf, er habe unter Kaiser Claudius Menschen gegen Geld denunziert und gegen Geld vor Gericht auch angeklagt. Das war seit dem Jahre 204 v. Chr. verboten: ein Gesetz untersagte den Advokaten die Annahme eines Honorars (R. Leonhart, RE 2,1535,13); es war später und bes. unter Claudius laxer gehandhabt, unter Senecas Einfluß im Jahre 54 verschärft worden (Tac. ann. 13,5,1). Daher hatte man diesen Alten, P. Suillius Rufus, einen berüchtigten und gehaßten Denunzianten, vor die Schranken eines Gerichts gebracht.5 Die Verurteilung schien sicher, doch da drehte der Dreiste den Spieß um und beschimpfte nun Seneca, denjenigen also, dem er – direkt oder indirekt – die Versetzung in den Anklagezustand zu verdanken hatte. Was warf er, der im Angriff die beste Verteidigung vermutete, dem Mächtigen denn vor?

§ 5 Seneca sei ein Feind aller Freunde des verstorbenen Kaisers Claudius – das war allerdings kein Wunder, hatte doch eben dieser Kaiser seiner Frau Messalina beim Regierungsantritt erlaubt, sich ihrer Rivalin, der schönen Julia Livilla,6 zu entledigen und des jungen Seneca gleich mit (s. unten § 28), und danach hatte der Kaiser den so Hoffnungsvollen acht Jahre auf der wüsten Insel Korsika schmachten lassen. Kein Wunder also, wenn Seneca die Freunde dieses Mannes nicht leiden konnte.7 Nun schrie der alte Mann aber, Seneca habe ganz zu Recht in der Verbannung leben müssen, habe „sinnloses Zeug“ geschrieben – er hatte im Jahre 58 das Werk über die Milde des Herrschers, über die Wohltaten als staatserhaltende Einrichtung, mehrere Trostschriften, eine größere Arbeit über die Milderung des Zorns und manch anderen Traktat veröffentlicht, und Quintilian, ein Mann, der Bescheid wußte, berichtet, diese Schriften, dieses „sinnlose Zeug“, seien in den Händen der Jugend gewesen und wohlgelitten (10,1,125) –, er aber, Suillius, er habe nicht „unerfahrene junge Leute“ (Tac. 13,42,3) zu Bewunderern, er halte es mit einer „lebensvollen und unverdorbenen Beredsamkeit zum Schutze der Bürger“. Das mußte eine Ohrfeige für alle Rechtschaffenen gewesen sein und nur aussprechbar, weil wohl eine nicht allzu schwache Clique der Gestrigen, eben von „Freunden des Kaisers Claudius“, immer noch übrig und einflußreich war, auch nach vier Jahren noch – man kennt das ja.

§ 6 Jetzt attackiert der Alte nach der Beredsamkeit die Moral des Feindes: er sei Quaestor gewesen unter dem herrlichen Germanicus,8 Seneca aber habe dessen Familie durch Ehebruch entehrt (Tac. a. O., § 3 Ende). Diesen Vorwurf kannte auch der Grieche Cassius Dio Cocceianus (60,8,5) über 100 Jahre später – was mag an ihm gewesen sein? Offenbar hatte der brillante junge Staranwalt Seneca Zugang zum Kaiserhaus gefunden, zu den Schwestern des Kaisers Gaius (die ältere, Agrippina, sollte ihn später aus der Verbannung zurückholen); ob als Liebhaber oder anders, wissen wir nicht mehr (Seneca selber hat seine Unschuld beteuert9). Als Messalina sich der jüngeren und schöneren Gaius-Schwester (ihrer vermeintlichen Rivalin) entledigen wollte, erfand oder inszenierte sie (dieses Wort bei Cassius Dio) eine Ehebruchsaffäre (60,8,5). So konnte er verurteilt werden (s. unten § 28f.). Suillius bediente sich also der offiziellen Version – mit wieviel Recht, wissen wir nicht, und es ist unerlaubt, aus dieser undeutlichen Quellenlage Behauptungen herzuleiten.10

§ 7 Aber nicht nur Ehebruch mit Livilla soll er getrieben haben; als Freund des Kaisers Nero habe er 300 Millionen Sesterzien zusammengerafft, also – sehr grob gerechnet – etwa 10 Millionen unserer Markwährung.11 Das war gar nicht einmal so viel: ein gutes Weingut in der Nähe Roms soll sogar 400 Millionen gekostet habe (Plin. n.h. 14,50 Ende). Immerhin, 300 Millionen. Nun muß man aber wissen, daß Nero seinen „Minister“ mit Geschenken nur so überhäufte (Tac. 14,53,5), daß er selbstverständlich dem Brauch der Zeit entsprechend (Griffin 289) in vielen Testamenten bedacht wurde12: solche Einkünfte konnte ein Mann in dieser Stellung nicht vermeiden (Tac. a.O. am Ende), warum auch? Seneca war sehr reich, und Neider rechneten ihm seine Reichtümer vor und meinten, er wollte gar den Kaiser übertrumpfen!13

§ 8 Wohl aber konnte man anständigerweise Einkünfte aus überzogenen Zinsen vermeiden, was Suillius als nächstes hervorzieht: „Italien und die Provinzen beutet er durch immense Zinsen aus.“ Cicero berichtet einmal von Schandzinsen,14 24 % und gar 48 %; das waren Zinsen bei äußerst gefährdetem Kapital. Daß Seneca Geld auf Zinsen auslieh, läßt Tacitus ihn selber sagen (ann. 14,53,5), es wird wohl auch so gewesen sein. Auch M. Griffin 232 und 289ff. hält das für sicher, aber über den Zinsfuß ist nichts bekannt. Er lebte, wie es einem „Freund des Kaisers“ anstand (Griffin 292), war reich, aber auch großzügig (Juv. 5,109; Mart. 12,36,8), “truly generous” (Griffin 293). Und als er zurücktreten wollte, bot er dem Kaiser die Rückerstattung aller Geschenke an (Tac. 14,54,2) – kein Zeichen von Besitzversessenheit.

§ 9 Aber ist da nicht das teure Weingut, das er sich für einen horrenden Preis erstand (Colum. 3,3,3)? Es lag ca. 15 km nordöstlich von Rom bei Nomentum, und es war bekannt, daß es viel abwarf (Plin. n. h. 14,48ff.), waren die Böden dort doch sehr gut (RE 17,821,23ff.) – aber: waren die Erträge der Grund für ihn, es zu kaufen? Plinius nannte ihn an der angegebenen Stelle „an Äußerlichkeiten überhaupt nicht interessiert“ (s. Anm.1); darum kann jenes Weingut auch einen ideellen, vielleicht einen besonders hohen Schönheitswert für ihn gehabt haben. Und es ist methodisch nicht erlaubt, dort, wo es mehr als eine Erklärungsmöglichkeit gibt, nur eine gelten zu lassen.

§ 10 Soweit die Anschuldigungen des in die Enge Getriebenen. Cassius Dio hat manches davon, rhetorisch aufgeputzt, gut ein Jahrhundert später wieder aufgetischt (61,10,1–6): „Es hatte ihm nicht genügt, Ehebruch mit Julia Livilla zu treiben, er war um nichts klüger aus der Verbannung zurückgekehrt, denn er trieb nun Unzucht mit der verworfenen Agrippina. Und auch sonst widersprach seine Lebensführung seiner Lehre: er rügte die Tyrannei, wurde aber selber zum Lehrer eines Tyrannen; er tadelte die Nutznießer der Tyrannis, stand aber selber in enger Verbindung mit dem Palast; er verwarf die Schmeichelei, schmeichelte aber selber der Messalina und den Freigelassenen ihres Gemahls (s. Anm.83; § 95 Ende); er tadelte die Reichen, erwarb selber aber 300 Millionen Sesterzien, besaß fünfhundert Tische aus Zitrusholz mit Elfenbein-Füßen, heiratete außerordentlich vorteilhaft und liebte doch Jungen, lehrte dies auch den Kaiser.“ Das alles hört sich „wie ein Echo der Angriffe des Suillius an“ (Cary in der Loeb-Ausgabe Bd. 8, 56); das meiste ist ganz unsicher, einiges läßt sich – wie oben geschehen – widerlegen. Dio Cassius urteilt an einer anderen Stelle viel günstiger (59,19,7): es muß verschiedene Urteile und Vorurteile schon in der Antike gegeben haben, so wie bei uns. Doch darauf kommt es hier nicht an.

§ 11 Worauf es hier ankommt, ist dieses: die Stellen, die eben vorgeführt worden sind – sie sind die reichlich trüben Quellen, aus denen sich schon immer das Vorurteil, insbesondere die Ansicht speiste, Seneca sei ein Heuchler gewesen. So findet sich z.B. am Rande einiger Handschriften zu ep. 110, 18 die ironische Bemerkung: „wie arm warst du bloß, Seneca, der du so etwas geschrieben hast!“, nämlich, man solle mit Wasser und Polenta zufrieden sein. Derlei Anwürfe, er sei nichts als ein Heuchler gewesen, die hört man dann ununterbrochen (Rist ANRW 1993f.). „Die Tradition des Vorwurfes mangelnder Übereinstimmung zwischen Leben und Lehre scheint für die Neuzeit mit Petrarcas Brief an Seneca (Farn. XXXIV 5) zu beginnen“ (H. Cancik 107), eine bes. scharfe Form hat er z.B. bei dem sonst so nachdenklichen E. Stauffer gefunden (Christus und die Caesaren, 1948, 150: „feist15 und selbstgefällig“), und derlei scheint nicht aufhören zu wollen (Oxford Classical Dictionary 21970, 977). Sie speisen sich, wie gezeigt, aus trüber Quelle: aus Zweithandinformation über eine Hetzrede gegen den mächtigen Minister und ihrem Reflex bei Dio Cassius, aus Besserem nicht.

Lobesworte und Hetzreden, Maskierungen und Demaskierungen16 – es scheint an der Zeit, die Fakten zu betrachten. Naturgemäß wird es darum gehen, die wenigen Fakten, über die wir noch verfügen, zu sichten und zu erklären; es wird aber auch darum gehen, einem Verständnis jenes seltsamen Wortes näherzukommen, das der Philosoph in seiner letzten Stunde sprach: daß er den Freunden das „Bild seines Lebens“ (§ 2 Ende, s. § 298ff.) vermache. Es war, wie er sagte, das Wertvollste, das er hatte.

5 Tac. 13,42,1: nach dem Regierungswechsel hielt der Mann des früheren Regimes sich nicht so still, wie man erwartet hatte.

6 Jüngste Tochter des Germanicus, der in die Gens Julia durch Adoption aufgenommen worden war und Agrippina heiratete, die Tochter des M. Vipstanius Agrippa und der Julia, der Schwester des Kaisers Augustus, s. W. F. Akveld, Germanicus, Groningen 1961, 13.

7 Wer mögen diese Freunde des vorigen Kaisers gewesen sein? Narcissus, ein bedeutender Mann, Gegner Messalinas, war seit 54 tot (RE 3,2; 2790,34ff.); aber Pallas, der ehemalige Finanzbeauftragte des Kaisers, Günstling Agrippinas (RE 1,2634, 62ff.; Amtsniederlegung 55) lebte noch (er starb 62), Callistus war schon verschwunden, sein Nachfolger im Amt des Bittschriftenbearbeiters wurde Polybius, der Empfänger von Senecas Trostschrift (§ 94ff.). Es bleibt nur Narcissus, den Suillius gemeint haben könnte.

8 Suillius war im J. 15 oder 18 bei ihm Quaestor (RE 4A, 720,2ff.). Germanicus war die große Hoffnung des Reiches gewesen, z.B. W.F. Akveld (s. Anm.6) 3: das ganze Reich trauerte.

9 Dazu unten § 29; sogar Cassius Dio 60,8,5 spricht von „Machinationen“.

10 Ein Scholion zu Juvenal (5,109) bezeichnet die Anklage mit quasi conscius adulteriorum, also habe Seneca nur um das freizügige Leben der Livilla gewußt (Stewart, AJPh 74, 1953, 83, Anm. 86 legt sehr viel Wert hierauf).

11 So reich und reicher waren auch Pallas und Narcissus (s. Griffin 291, Anm.4; Narcissus hatte im J. 54 gar 400 Mill. Sesterzien nach Cassius Dio 61,34,4). Zur Umrechnung RE 2 A, 1883, 20ff.; L. Friedländer, Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms 3, 51881, 12ff.

12 Darauf zielt der nächste Vorwurf (§ 4), Griffin 289, Anm. 3 verweist auf die Parallele des Tigellin (Tac. 16,17,5f. und 19,3: so schätzte man die Familie).

13 Tac. 14,52,2. Senecas Reichtum und seiner Haltung zu ihm widmete Griffin ein ganzes Kapitel: 286ff. Auch Sophokles war in Geldsachen genau, auch Nikolaus von Kues (W. Baum, Nikolaus Cusanus in Tirol, 1983, 17,78) und Cato Uticensis (s. § 169).

14 Cic. Verr. 3, 163f.; Att. 5,21,11, dazu Samter, RE 6,2195,59.

15 Der Ausdruck wird auf U. von Wilamowitz-Moellendorff, Glaube der Hellenen 2,446 zurückgehen (in der Ausgabe der Wiss. Buchges. 1959; vgl. § 57). Weitere Lit. in: Seneca als Philosoph2 12. Diderot hatte Seneca in seiner Jugend ebenfalls der Hypokrisie angeklagt (1745), dann aber im «Essai sur les règnes de Claude et de Néron et sur les moeurs et les écrits de Sénèque» (1778; Dieckmann-Verloot-Ausgabe, hrsg. von Deprun u.a. 1986, 399) ihn gepriesen («Que je hais à présent les détracteurs de Sénèque!»). Zu Senecas Hermes. unten § 60). Daß Seneca in diesen seinen mittleren Jahren „feist“ war, ist noch der geringste der diffamierenden Vorwürfe. Ihr Grundfehler liegt darin, daß man stillschweigend annimmt, ein Philosoph müsse immer Asket sein (man denkt an Sokrates, an Gandhi u.a.). Unbewußt vielleicht, aber deutlich läßt Diderot diesen Fehler zutage treten, wenn er (a.O. 177) von Senecas «richesse» sagt, sie sei «exorbitante pour un philosophe» gewesen – ein Philosoph darf also nicht reich sein.

16 In ›Œuvres de La Rochefoucauld‹ (hrsg. von Gilbert-Gourdault; Hachette, Paris 1883) findet sich auch das „Album“, und in ihm ein Stich von Picard: ein Putto, bezeichnet mit «L’amour de la vérité», nimmt einer Büste die glatte Maske herab, und es erscheint ein dürftiges, grämliches Gesicht mit der Unterschrift „Seneca“.

Seneca

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