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SENECAS JUGEND

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§ 19 Eine der schwierigsten Episteln Senecas, ep. 58, hat dennoch eine besonders launige Einleitung – er bittet um die Erlaubnis, ein Wort zu gebrauchen, das zwar seinerzeit der große Cicero geprägt hatte, das aber mit der Zeit in Vergessenheit geraten war: essentia. Und um zu zeigen, daß sogar vergilische Prägungen aus dem Gebrauch gekommen, führt er vergessene Vergilianismen an, „nicht um zu zeigen, wieviel Zeit ich beim Grammatikus verloren habe“, sondern um zu verdeutlichen, daß auch poetische Erfindungen mit der Zeit vergehen. Er hatte also Zeit beim grammaticus verloren. Grammaticus, das ist der Lehrer auf der zweiten Stufe23 der Ausbildung. Man lernte bei ihm die Klassiker kennen, in meist schäbigen Räumen, in denen allerdings auch einmal eine Büste eines solchen Klassikers zu sehen war (Juv. 7,226f.) – wie bei uns ein Gymnasium, das etwas auf sich hält, eine Schillerbüste sein eigen nennt.

§ 20 Hieran schloß sich der Unterricht beim Rhetor, der die Beherrschung der Redekunst lehrte (Marrou 522, 524ff.). Da wurden Reden erarbeitet, auswendig gelernt und vor Mitschülern, zuweilen auch Eltern mit aller gebotenen Kunstfertigkeit deklamiert (Marrou 525), reine «L’art pour l’art», denn die Themen waren lebens- und gegenwartsfern (Beispiele bei Marrou 526); oder freundlicher gewendet: es kam allein auf die Logik und Rhetorik, auf den Gestus und die Stimmbeherrschung an. Die Sache war dennoch schwierig genug, war wohl eine ebenso gute Schulung wie die englische Manier, bei der man ja auch heute noch über die Wünschbarkeit eines siebten Beines bei Läusen diskutiert, und zwar gekonnt und spritzig wie viele Unterhausreden es auch heute noch sind. Senecas schnödes Wort non vitae sed scholae discimus (ep. 106,12) ist mit Vorsicht aufzunehmen.

§ 21 Es folgte der Rechtsunterricht; vordem lernte man diese Dinge im Gefolge eines großen Juristen (Cic. Lael. 1; Brut. 306), geregelter Rechtsunterricht bei eigens dafür qualifizierten Rechtslehrern kam erst allmählich auf.24 Vielleicht hörten Lucius und sein Bruder bei Junius Gallus, dessen im ganzen moderate Redekunst dem Vater Seneca gefiel (zu Gallus RE 10, 1037,52ff.) und der dann den älteren Bruder adoptierte. Seneca erhielt zumindest einen glänzenden Unterricht, wenn man vom späteren Erfolg auf frühere Ausbildung schließen darf. Aber es lohnt sich doch, einen Blick auf ein Stück aus einer Deklamation zu werfen, die dieser Gallus einmal gehalten hat (Sen. pat., contr. 2,5,6 Anf.). Ein blutrünstiger Tyrann foltert eine Frau, er sagt zum Folterknecht: „Auf die Folterbank! Da ist noch eine Stelle heil – Feuer drunter! Da ist das Blut schon trocken! Schneide, haue, raus mit den Augen – sieh zu, daß sie ihrem Mann nicht mehr gefällt zum Kinderzeugen!“ – eine schlimme Geschmacksentgleisung. Doch auch nicht uninteressant deswegen, weil man versteht, aus welcher Atmosphäre sich später die barocken Bilder Senecas speisen sollten.

§ 22 Diese Atmosphäre scheint dem jungen Menschen nicht sehr gefallen zu haben; schon „als Knabe“ (ep. 49,2) ging er zu der anderen Seite, zur Partei derer über, die meinten, ihr Tun und nicht das der Rhetoren vermittele die wahre Bildung – zu den Philosophen.25 Und zwar zu den Philosophen um Sextius. Dieser Mann muß ein ganz besonderer Charakter gewesen sein. Ganz der Philosophie verschrieben, hatte er das Angebot Caesars abgelehnt, in den Senat, d.h. in die Politik zu gehen.26 Er unterrichtete, wie man es von einem Römer erwarten mochte: kraftvoll, über Schulgebundenheiten erhaben (Sen. n. q. 7,32,2; ep. 64,2), obschon der Stoa zuneigend. Der junge Mensch mag auch angesprochen worden sein von der „Entschiedenheit, mit der sie (die Sextier) sich auf die Sittenlehre beschränkten“ (E. Zeller, Philosophie der Griechen 3,1; 51923, 704). Angesprochen wird den jungen Menschen aber auch dies haben, daß hier nicht wie in der älteren Stoa über das unerreichbar hohe Ziel (ein Weiser zu werden) disputiert wurde, sondern daß es sich hier um eine Philosophie der „kleinen Schritte“ handelte: immer sprachen die Lehrer hier so, daß man Mut bekam, daß man Selbstvertrauen gewann (Sen. ep. 64,3).

§ 23 Diese Schule schrieb auch eine bestimmte Lebensweise vor, z.B. die Enthaltung von Fleisch, das Sitzen auf harter Unterlage, die allabendliche Selbstprüfung, usw.27 (ep. 108,17; ira 3,36,1). Das sind Forderungen, die zwar pythagoreisch sein mögen (Zeller 705; Grimal 174, Abel 662), bezeichnet doch auch Cicero die abendliche Selbstbefragung als pythagoreisch (Cato M. 38), aber wichtig ist auch, daß es sich hier um Züge handelt, die gruppenbildend wirken. Wer so lebt, lebt anders als die anderen und bildet so eine Gemeinde.

§ 24 Diese Gemeinde gefiel dem jungen Seneca; er lernte Pythagoras „lieben“ (ep. 108,22), reagierte aus dem Gefühl (Grimal 40) auf den Appell der Philosophen. Es war dies alles ja auch das genaue Gegenteil zu der Dürre der Rhetorik, die der Vater schätzte und zu deren Erlernung mancher „spanische Stiefel“ nötig war, ein dornenreicher Weg, denn diese Rhetorik war, an und für sich genommen, von hoher Perfektion. Hier bei Sextius wurde das Selbstvertrauen geweckt und die Lust, eine bestimmte Lebensweise zu lernen, nicht nur eine bestimmte, ständig von den Alten kontrollierte Redeweise. Gewiß, die Enthaltung vom Fleischessen gab er bald wieder auf, weil sein Vater „die Philosophie nicht vertragen konnte“ (ep. 108,22) – und es war „auch nicht schwer, sich überreden zu lassen, doch wieder ordentlich zu essen“, fügt der nun so überlegen Gewordene, 50 Jahre nach jenen Erlebnissen, ein wenig selbstironisch hinzu. Vielleicht konnte der Vater auch nur diese Philosophie nicht vertragen, die da dem ohnehin kränklichen Sohn asketische Vorschriften machte. Es war gewiß nicht der Trotz gegen den Vater, wie Grimal 41 meinte, der Seneca dort verweilen machte, sondern die Atmosphäre, die Lehre, die nichts im Sinn hatte als die Gegenwart, die Gestaltung des Lebens hier und jetzt. Dagegen hatte der Vater sicherlich nicht viel, denn einen jener Lehrer schätzte er selber sehr, den Attalus (suas. 2,12).

§ 25 Was Attalus im ganzen lehrte, wissen wir nicht – ob er systematisch oder fallweise vorging, ob er weit ausgriff oder sich streng beschränkte. Wohl aber besitzen wir einige Zitate aus seinen Lehren bei Seneca, seinem Schüler:

1. Es ist angenehmer (iucundius), Freunde zu gewinnen als zu haben (ep. 9,7).

2. Es ist angenehm (wieder iucundum), verstorbener Freunde zu gedenken, und bitter zugleich: lebender sich zu erinnern, ist wie Honigkuchen, verstorbener zu gedenken, erfreut, doch vermischt mit Bitterkeit (ep. 63,5f.).28

3. Geht es einem schlecht, dann, bitte, gleich ganz: „Ich werde geschlagen? Bitte, hart! So ist’s recht!“ (ep. 67,15).29

4. Wer das Leben der Lust führt, schnappt nach Lustmomenten wie ein Köter nach Brocken (ep. 72,8).30

5. Undank belastet das Gemüt, sagt Seneca und fügt einen Vergleich des Attalus an: „Bosheit trinkt den größten Teil ihres Giftes selber“ (ep. 81,22).

6. Attalus forderte von Lehrenden und Schülern ein gemeinsames Ziel in der Philosophie: das Voranschreiten; und nur dann werde der Lehrende hier Erfolg haben, wenn er als Persönlichkeit überzeugt: Attalus führte die Hörer in solche Höhen, daß sie ein Mitleid mit den Menschen ankam, er aber wie ein König über Könige das Urteil sprach. Nach einer solchen Rede ging man wie gereinigt heim (ep. 108,3f., 12ff., 23).

7. Nicht über die Kräfte lernen, bzw. zu lernen aufgeben (ep. 108,1f.).

8. Attalus beschrieb, wie er selber früher Reichtum bestaunt31 habe, später ihn habe verachten gelernt. Was bleibt z.B. von einer glanzvollen Show voller Glamour? Flitter. Man kann sogar Wasser und Brot entbehren, wenn es um die Freiheit32 geht – dies macht uns Juppiter gleich (ep. 110,14ff., 18ff.).

§ 26 Fügt man die Splitter zusammen, ergibt sich etwa dieser Eindruck: Attalus scheint nicht die stoische Systematik gelehrt zu haben, führte nicht in die traditionelle dreigeteilte Philosophie ein (Logik, Physik, Ethik), vgl. ep. 108,3: „Nicht zu vieles lernen!“ Er scheint vielmehr eine asketisierende Lebensweise gepredigt zu haben (ep. 108,23; 110,18ff.), und zwar in der Gemeinschaft (ep. 9,7; 63,5; 108,3). Er glaubte gewiß, in guter Hut zu sein, denn er nahm die Mantik ernst (n.q. 2,48,2: se huic disciplinae dederat).33 Dieses Leben nannte er angenehm und stellte es in harschen Gegensatz zum Leben der Lustsuche (ep. 72,8). Er bediente sich eines markigen, zuweilen deftigen Stiles mit höchsten Aufschwüngen (er verglich sich mit Juppiter und mit Königen), um den Hörern Kraft einzuflößen (ep. 67,15; 108,13; 110,14). Er stellte dabei deutlich seine eigene Person als Beispiel vor Augen (ep. 110,14). Vielleicht waren seine Vorträge besonders auf die Jugend abgestimmt – das Wort von den Freunden, die zu gewinnen „angenehmer“ sei als zu haben, ist eine eher jugendliche Einstellung –, jedenfalls wollte er den Hörern täglich etwas Beherzigenswertes mit auf den Weg geben (ep. 108,4).34

§ 27 Seneca hat aus solchem Unterricht nicht nur bestimmte Verhaltensweisen mit ins Alter genommen (ep. 108,14f., 23), er hat auch selber lange Jahre hindurch die Lehrweise des Attalus in seinen Werken nachgeahmt (Grimal 177 sehr treffend): die Kasuistik, das Einflößen von Mut und Selbstvertrauen, den sich hochschwingenden Stil, die Deftigkeit und das zuweilen Bizarre, ja auch die täglichen „Losungen“ (man betrachte die Enden der ersten 29 Episteln) und nicht zuletzt auch die Grundhaltung, mit einem Freunde zusammen den Weg der Selbstvervollkommnung zu gehen – er ist zeit seines Lebens Attalide geblieben. Dieser Mann hatte ihm „die wesentlichen Elemente der philosophischen Überlieferung vermittelt“ (Grimal 178), mehr noch: auch den Lehrstil. Und als Seneca, alt geworden und doch noch imstande, das Meisterwerk zu schaffen, da gedachte er seiner Lehrer, bes. des Attalus, wie P. Grimal 179 schreibt – eine besonders schöne Bemerkung des französischen Gelehrten.

§ 28 Der zweite, starke Einfluß35 kam von den naturkundlichen Interessen der Sextier her, insbes. von Papirius Fabianus. Offenbar schrieb ein Sextius Niger – wir haben keinen Anlaß, ihn nicht mit einem der Sextii zu identifizieren36 – über medizinische und botanische Gegenstände. Und einer der profiliertesten Mitglieder dieser „Schule der Sextier“, eben jener Papirius, verfaßte ein Werk ›Causae Naturales‹ (›Von den Ursachen, die in der Natur wirken‹) und ›Über die Tiere‹ (s. Charis., Gram. Lat. 1,105,14; 106,14 Keil). Er schrieb auch eigens oder in den genannten Werken über die Ordnung des Kosmos (RE 18,3; 1058,14ff.). Der Gedanke liegt nicht fern, daß hier, wie überall in der Stoa, Ethik auf Kosmologisches gebaut wurde: das, was ein ethisches Leben ermöglicht, ist die menschliche Ratio, und sie ist der All-Ratio verwandt (§ 64); weiter: ethisch leben, hieß für den Stoiker, der Natur entsprechend leben, und dazu gehörte, sich in das Naturgeschehen klaglos hineinzugeben,37 denn innerhalb dieses geschieht nichts fruchtlos, alles untersteht der Vorsehung. Jetzt mag deutlich geworden sein, warum sich vermuten ließ, daß ein Titel wie ›Causae Naturales‹ in einer dem Stoizismus nahestehenden Schule auf die Verquickung von Ethik und Naturkunde deute. Doch bevor hierzu eine weitere Vermutung vorgetragen wird, seien auch hier einige Bemerkungen Senecas über diesen Mann zusammengetragen.

1. Über den Stil des Fabius weiß Seneca stets Rühmendes zu sagen (ep. 40,12; 52,11; 100, 1ff.): leicht, nie gesucht und doch immer wohlbedacht, und nicht ohne Grazie (ep. 58,6; Sen. Pat. contr. 2, praef. 2 Mitte). Doch war er zuweilen kurz, darum dunkel und auch ohne rhetorische Wucht (Sen. Pat. a.O.).

2. Ep. 107,9; Sen. Pat., contr. 2, praef. 2 n. Mitte: ihn zeichnete aus, daß er die innere Ruhe, die er forderte, selber besaß: sein Antlitz war auch während des Sprechens entspannt.

3. Ep. 52,11; brev. 10,1: er erntete immer wieder Beifall inmitten des Vortrags, aber nicht wegen rhetorischer Glanzlichter, sondern wegen der schönen Gedanken.

4. Ep. 107,9: Fabian war ein ungewöhnlicher Mensch durch sein Leben, sein Wissen, seine Beredsamkeit (und Seneca will diese Reihenfolge als Gewichtung verstanden wissen).

§ 29 Dieser Mann, der „ganz wie die Alten“ war (brev. 10,1), von „reinen und konsequenten Grundsätzen“ (Sen. Pat., contr. 2, praef. 1), schrieb viel (ep. 100,9) und sammelte eine Fülle von naturkundlichem Material (Plin. n. h. 36,125). Da hören wir (Plin. a. O.), daß er von dem Wunder berichtete, daß Marmor in den Brüchen nachwachse, was Steinbrucharbeiter ihm bestätigt haben sollen. Das könnte auf „disparate Interessen“ und „mangelnde Kritik“ deuten (W. Kroll, RE 18,3; 1058,48); diese Ansicht könnte vermutungsweise aber auch (aus irgendwelchen Angaben der Steinbrecher gefolgert, wir wissen nicht mehr, welchen) darauf hinweisen, daß er an die Selbsterhaltung der Natur dachte, und das wäre ein stoischer Leitgedanke gewesen. Aber dennoch sprechen wir es deutlich aus: nichts in Senecas Erwähnungen dieses Mannes deutet darauf, daß er ihn auf die Bahn der Naturkunde gelenkt hätte; vielmehr war er ihm ein leuchtendes Beispiel konsequent durchgeführter philosophischer Lebensregelung, und er hat wohl die Rhetorik in die Philosophie eingeführt (Grimal ANRW 1963). Aber daß Seneca in einer Atmosphäre naturwissenschaftlichen Interesses jahrelang lebte, das wird niemand leugnen (s. Grimal 183) – nur: Fruchttrug diese frühe Erfahrung erst sehr spät.

Was also lernte Seneca hier? Er lernte gewiß die stoische Gedankenwelt gut kennen, wenn auch anscheinend nicht vorwiegend systematisch (zur Geschichte der Stoa in Rom: Grimal a. O. 1967ff.; zu Senecas Abweichungen von der Schuldoktrin Rist ANRW 2011). Er lernte, daß es möglich war, Philosophie auch zu leben. Er lernte, eine solche philosophische Lebensgestaltung in mitreißende Rede zu fassen: da wurde nicht doziert, sondern begeistert und zum Kampf aufgerufen38; es ging da zuweilen recht gewalttätig zu: Fabianus z.B. forderte, der Feind (der Affekt) müsse unter schweren Wunden und in vollem Ansturm geworfen werden (brev. 10,1). Und er wird auf die Untersuchung von Naturphänomenen geführt worden sein, wie man vermuten darf, um des Nachweises der Providenz willen. Ob man geradezu von „Erleuchtung“ und von einem Beeindrucktwerden durch „tiefmystische Formen der damaligen Geistigkeit“ sprechen darf (Grimal 40f.), ist wohl mehr als zweifelhaft; aber dies darf man behaupten: daß der junge Mensch hier die Weise zu philosophieren (in Rede, Schrift und Tat) vorgeführt erhielt, die ihn noch lange bestimmte und bis zuletzt bestimmen sollte (§ 27 Ende).

Seneca

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