Читать книгу An die Totgeborenen Teil 1 - Gefangenschaft - Gregor Samsa - Страница 7

Der Fremde

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Sie wussten, dass nichts mehr sie retten konnte. Reglos lag ihr U-Boot in 80 m Tiefe wie ein sterbender Fisch, während über ihnen das Dröhnen der Dieselmotoren immer mehr anschwoll. Systematisch suchten die feindlichen Kriegsschiffe das Gebiet mit ihren Radargeräten ab. Es war nur noch eine Frage der Zeit, wann sie ihr Opfer entdeckt haben würden. Flucht wäre sinnlos gewesen. Das Motorengeräusch hätte sie sofort den gegnerischen Horchposten verraten. So konnten sie nur noch auf ein Wunder hoffen – ein Versagen eines Gerätes oder die Unaufmerksamkeit eines Beobachters – doch all ihre Erfahrung sagte ihnen das Gegenteil. Sie befanden sich in einem erbarmungslosen Krieg, der Gegner würde sich keine Schwäche leisten.

Diszipliniert nahmen sie ihre aussichtslose Situation hin. Sie hatten gewusst, dass einmal dieser Tag kommen würde – das war einkalkuliert, das war ihr Risiko, gehörte mit zu ihrem Handwerk. Tausenden Menschen hatten ihre Torpedos Verderben gebracht, nun waren sie selbst an der Reihe. Ohne Wimpernzucken würden sie heute den Heldentod sterben für ihr Vaterland, das irgendwo weit in der Ferne lag.

Da fielen die ersten Wasserbomben. Das Unvermeidliche nahm seinen Lauf. Ihr Fahrzeug wurde von den Detonationen hin und her geschleudert wie von den Fangarmen eines gigantischen Kraken, der seine Beute nicht mehr fahren lässt. Eine heftige Explosion riss den Rumpf mitten entzwei und ließ die Wrackteile in die Tiefe stürzen.

Sie sanken in unermessliche Abgründe. Das Licht im Inneren war erloschen. Und draußen umtanzten märchenhaft leuchtende Wesen erstaunt das eiserne Ungetüm, das in ihre schweigende Welt eindrang. War das schon der Tod? Wie oft hatten sich die Männer diesen Augenblick auszumalen versucht, doch ihre Fantasie hatte nicht ausgereicht. Zwar hatten sie sich ständig mit der Tatsache vertraut gemacht, einem Himmelfahrtskommando anzugehören, zwar hatten sie immer wieder erlebt, wie viele U-Boote nicht mehr vom Einsatz zurückkamen, doch der Gedanke, jetzt sterben zu müssen, überstieg alle Vorstellungskraft.

In diesem Moment flammte fahles Licht auf. Der Maat hatte das Notstromaggregat in Gang gebracht. Für Sekunden erblickten sie die Furcht in ihren bleichen Gesichtern, dann rissen sie sich zusammen. Auch jetzt noch waren sie Soldaten. Der sorgfältig ausgearbeitete Katastrophenplan trat in Kraft. Als Erstes galt es, sich Klarheit über die Situation zu verschaffen. Fünf Mann waren sie im Mannschaftsraum, wo der Alarm sie während der Freizeit in ihren Kojen überrascht hatte. Um sie herum war ein Gewirr von zertrümmerten Geräten und aus der Halterung gerissenen Gegenständen.

Der Maat stieg über einen Torpedo hinweg, der sich aus der Laufkatze an der Decke gerissen hatte und jetzt nutzlos im Raum herumlag, und klopfte mit einem Hammer die hintere Trennwand ab. War hinter ihr noch Leben? Vergeblich lauschten sie nach einer Antwort der anderen. Nur das Echo der eigenen Schläge klang ihnen schauerlich hohl entgegen. Sie waren allein, die einzigen Überlebenden der Katastrophe. Da erst wurde ihnen bewusst, dass sie verloren waren. Sie waren nüchtern genug, ihre Lage einzuschätzen.

Sie waren versunken, irgendwo tief in der ungeheuren Weite des Atlantischen Ozeans, von wo es keine Rettung mehr gab. Im Einsatzstab würde man ihr Boot auf die Verlustliste setzen und eine kurze Mitteilung an ihre Angehörigen verschicken, während andere U-Boote ihre Aufgabe fortsetzen würden.

Der Maat gab den Befehl, den engen Raum, in dem man nicht einmal richtig aufrecht stehen konnte, notdürftig in Ordnung zu bringen. Er wusste aus Erfahrung, dass Beschäftigung das beste Mittel gegen Panik war. Er war jetzt der Ranghöchste an Bord, auf ihm ruhte die schwere Verantwortung. Zum Glück war er mit zuverlässigen Leuten zusammen. Sie kannten sich von vielen Einsätzen und hatten gemeinsam mehr als eine brenzlige Situation gemeistert. Er wusste, dass er sich auf jeden Einzelnen verlassen konnte. Ihre Aufgabe war es jetzt nur noch, in Haltung zu sterben – ein anständiger Soldatentod, ihres Vaterlandes würdig.

Sie dachten an die Angehörigen in der Heimat, die sie nicht mehr wiedersehen würden. Sie beschlossen, Abschiedsbriefe zu schreiben. Der Maat verteilte Schreibpapier, das er zufällig in seiner Mappe hatte. Sie hockten sich in ihre Kojen und starrten die weißen Bogen an. Alles, was sie mitteilen wollten, war so bedeutungslos. Niemand würde ihre Zeilen finden. So blieben die Blätter leer.

Später spielten sie Karten, aber es machte keinen Spaß. Ihre Einsätze waren unsinnig hoch, doch wem nützte der Gewinn. Sie bereiteten sich Speisen aus Konserven. Sie wollten sich noch einmal etwas Gutes leisten, doch ihre Kehlen waren wie zugeschnürt. Sie würgten ein paar Bissen hinunter und ließen den Rest stehen. Wozu sollten sie essen – bevor sie verhungerten, wären sie längst erstickt.

Der Maat öffnete eine Pressluftflasche und ließ die zusätzliche Luft in den kleinen Raum strömen. Schmerzhaft stach der Druck in ihre Schläfen. Um ihre Augen tanzten feurige Kreise. Sie wussten, dass das Sterben nicht einfach werden würde. Sie dachten an die anderen. Die hatten jetzt schon alles hinter sich.

Schweigend saßen sie da. Der Maat versuchte, ein Gespräch zu beginnen, doch ihm fiel nichts ein. Worte waren überflüssig geworden. Gefasst sahen sie ihrem Ende entgegen. Der Maat war innerlich zufrieden. Niemand hatte in der gewiss nicht einfachen Situation die Nerven verloren. Es herrschte eine bewundernswürdige Disziplin. Sie waren eine verschworene Gemeinschaft, Kameradschaft und Treue waren ihre höchsten Tugenden. Das war ihre Überlegenheit. Der Feind wäre in ähnlicher Lage schon längst demoralisiert, hätte sich in sinnloser Angst in einem mörderischen Kampf um jeden Atemzug Luft gegenseitig abgeschlachtet. Wie turmhoch standen sie über solchen Gedanken. Gemeinsam würden sie sterben, wie sie gemeinsam gekämpft hatten. Ihre überlegene Moral war es, die ihnen den Endsieg bringen würde. Darin lag der Sinn ihres Todes.

Die Lampe glomm allmählich immer dunkler. Düstere Schatten krochen aus allen Ecken hervor und legten sich auf die vertrauten Gegenstände. Ihr Boot wurde ihnen immer fremder. Zu unwirklich war ihre Situation. Das Blut rauschte in ihren Ohren eine uralte Melodie. Das flackernde Licht zeichnete seltsame Figuren auf ihre Gesichter und verlieh ihnen etwas Geisterhaftes. Ihr Boot war ein Sarg, der bald mit einer Handvoll Leichen durch die schwindelerregenden Abgründe der Meere treiben würde. Als Gespensterschiff würden sie die Ewigkeiten durchfurchen gleich dem Fliegenden Holländer, und in Vollmondnächten würde ihr U-Boot wieder auftauchen und maßlosen Schrecken verbreiten.

Das Licht erlosch. Tiefste Finsternis umgab sie. Sie saßen reglos und lauschten in die Grabesnacht, in der ihre schweren Atemzüge zu vernehmen waren, mit denen sie gierig die letzten Reste Sauerstoff in ihre Lungen sogen. Nichts geschah. Doch der Tod saß schon längst unsichtbar hinter ihnen; sie spürten seine Nähe, etwas Fremdes stand im Raum zwischen ihnen, das sie unwillkürlich beklommen werden ließ.

So hatten sie sich ihr Ende nicht vorgestellt. Im mutigen Kampf wären sie freudig untergegangen. Aber dieses endlose Warten riss an ihren Nerven. Alle Gedanken verstummten. Und die Stille wuchs unerträglich an und drohte sie zu ersticken.

Da vernahmen sie leise Schritte. Jemand schlich behutsam durch ihre Mitte. Auf einmal ertönte ein Schrei, grässlich, wie von einem Tier, der in den letzten Winkel ihres Herzens drang. Ein nie gekanntes Entsetzen erfasste sie und lähmte all ihre Sinne. Erstarrt saßen sie da und wagten nicht, sich zu rühren.

Als Erster fand der Maat zu sich. Die zitternden Hände ertasteten einen Kerzenstummel, eine winzige Flamme zuckte auf und beleuchtete ihre leichenweißen Gesichter. Und sie sahen, sie waren einer weniger. Ein Matrose lag am Boden, die Kehle durchgeschnitten. In seinen Augen lag ein Ausdruck maßlosen Grauens.

Jetzt wussten sie mit schrecklicher Gewissheit, was sie nicht hatten wahrhaben wollen, doch im Geheimen längst geahnt hatten. Wovor sie sich gefürchtet hatten, war Realität geworden. Und doch fühlten sie sich irgendwie erleichtert, ein übermächtiger innerer Druck war von ihnen genommen. Jetzt hatte der Tod ein Gesicht bekommen, war fassbar geworden, versteckte sich nicht länger vor ihnen. Das quälende Warten hatte ein Ende gefunden.

Der Maat war überzeugt, dass damit die Krise überwunden war – eine weitere Gewalttat würde es nicht geben. Jetzt würde das Gefühl der Kameradschaft wieder Überhand gewinnen über ihre Angst. Der Maat wollte erst gar nicht wissen, wer es getan hatte. Sie würden es sowieso nie erfahren. Der Betreffende würde sein Geheimnis mit ins Grab nehmen.

„Mach die Kerze aus! Sie verbraucht unnötig Sauerstoff“, meinte einer der Männer. „Nein, bitte nicht!“, warf ein junger Bursche ein, „wartet noch – wir sind doch jetzt einer weniger – wartet, bis sie heruntergebrannt ist.“

Natürlich widersprachen sie; es war einfach unvernünftig, die Flamme länger brennen zu lassen. Warum fand dann niemand den Mut, das Licht zu löschen? Hatten sie Angst? Vor dem Unbekannten unter ihnen? Misstrauten sie sich? Sie waren doch Kameraden, sie gehörten doch zusammen! Warum hielt der Maat dann in seiner Hand den Kerzenstummel und starrte wie hypnotisiert in die Flamme?

Solange sie brannte, waren sie sicher voreinander. Ihnen graute davor, wieder tatenlos in der Finsternis zu hocken, hilflos ausgeliefert dem Unbekannten, der da umging. Nur das Licht konnte diesen Dämon bannen, der sich hinter der Maske der Kameradschaft versteckte, um dann unerkannt hervorzubrechen.

Ein heftiger Ruck ging durch das U-Boot, es schüttelte sich, während ihm große Luftblasen entwichen. Die Kerze fiel zu Boden und erlosch. Sie sanken weiter in die Tiefe. Wie lange mochten die Wände dem ungeheuren Druck noch widerstehen? Doch war es im Grunde genommen nicht gleichgültig, wie sie starben? Warum öffneten sie nicht einfach die Luken? Warum klammerten sie sich so an jede Minute ihres schon verlorenen Lebens?

Der Maat entzündete von Neuem das Licht. Er war keineswegs überrascht, den jungen Burschen in seinem Blut zu finden, denn sehr wohl hatten sie wieder die schleichenden Schritte gehört. Der Unbekannte hatte sein nächstes Opfer gefunden. Am bedrückendsten war die offensichtliche Sinnlosigkeit der Tat. In ein paar Stunden waren sie sowieso alle tot.

Warum fanden sie nicht die Kraft, als Helden zu sterben? Warum gab es für ihre Situation keine Instruktionen und Dienstanweisungen? Für die Welt war es natürlich einerlei, wie sie starben, ob als Männer oder als Feiglinge; nie würde es jemand erfahren. Doch waren sie es sich nicht selbst schuldig, Haltung zu bewahren? Sie waren stets vorbildliche Soldaten gewesen. Musste all dies in den letzten Stunden infrage gestellt werden? Hatten sie dafür gekämpft? Nein, der Mörder war nicht mehr einer der ihren! Er war ein Fremder, der sich heimtückisch in ihre Reihen geschlichen hatte, der ihre Kameradschaft, ihren Mut, ihre Ideale besudelte, ihr Opfer, das sie brachten, verhöhnte.

Verbittert löschte der Maat die Flamme. Er fühlte in sich Hass aufsteigen gegen den Fremden, gegen den sie im Grunde hilflos waren. Noch waren sie zu dritt. Gleich würde er wissen, wer der Verräter war – oder selbst sterben. Denn dass der Unbekannte erneut zuschlagen würde, war jetzt nicht mehr zu bezweifeln. Schon tappten die wohlbekannten leisen Schritte durch den Raum. Der Maat verspürte keine Angst mehr, er fühlte in sich nur noch eine dumpfe Leere und Gleichgültigkeit. Mochte der andere doch morden, er selbst jedenfalls würde bis zum letzten Atemzug seine Pflicht als Soldat erfüllen.

Da starrte ihn der andere an, der Übriggebliebene, in der Hand eine Kerze, deren Licht wie mit tausend Nadeln in die Augen stach. Widerwillen überkam ihn. Jetzt kannte er den Verräter und wünschte sich nur noch, rasch zu sterben. Das Leben mit dem anderen ekelte ihn. Nicht eine Minute länger wollte er mit ihm allein bleiben. Entschlossen blies der Maat die Flamme aus. Gleich würde der andere kommen und ihn umbringen. Schon ertönten die unheimlichen Schritte. Gleich schnellte aus der Finsternis der todbringende, erlösende Stich.

Nichts geschah. Ungläubig entzündete der Maat nach einer Weile das Licht. Der andere lag tot am Boden. Der Maat schrie auf und starrte wild um sich. Unter ihnen war ein Fremder, ein unsichtbarer erbarmungsloser Killer. Das erklärte alles. Er hatte ja nie daran glauben können, dass die Bestie einer der ihren gewesen sein sollte. Doch wo hielt sich der Fremde versteckt? War er ein feindlicher Agent? Wie war er an Bord gekommen, in einen hermetisch abgeschlossenen Raum? Oder war das schon der Wahnsinn?

Der Maat sprang in alle Ecken, riss die Decken von den Kojen, untersuchte sogar die Torpedorohre. Nichts! Aber er hatte doch deutlich die Schritte vernommen. Eine abergläubische Furcht befiel ihn. Entsetzt erkannte er, dass kein menschliches Wesen hier von außen eindringen konnte. Mit heimlichem Grauen dachte er an die Leichen der übrigen Besatzungsmitglieder hinter dem Schott. Ging an Bord ein Gespenst um? Hatte sich einer der Gestorbenen in einen Geist verwandelt, der eifersüchtig die anderen in den Tod nachholte?

Wer es auch sein mochte, Feind oder Gespenst, der Maat war entschlossen, das U-Boot zu verteidigen. Er musste den heimtückischen Meuchler zur Strecke bringen. Wenn er nur wüsste, wie er zu packen war! Lauernd blickte er sich um. Da vernahm er wieder die schleichenden Schritte. Der andere blieb unsichtbar. Nur er selbst ging angriffslüstern im Raum umher. Er sah sich nach einer Waffe um. Aber er hielt ja schon ein Messer in der Hand! Unbewusst musste er es ergriffen haben.

Doch woher kam das Blut an der Klinge, am Griff, an seiner Hand? Schaudernd erkannte er, dass es die Mordwaffe war. Und erst allmählich wurde ihm bewusst, dass er selbst der furchtbare Fremde war, der die anderen erstach. Es fiel ihm mit einem Male wie Schuppen von den Augen. Er hatte ihn erkannt, den anderen, der sich so lange in ihm verborgen gehalten hatte. Sein bisheriges Leben erschien ihm jetzt wie ein Traum, den man vergisst im Moment des Erwachens.

Er lachte wild auf. Er wusste jetzt, warum er mordete, der Fremde in ihm. Er hatte Angst. Und so lange er Angst hatte, musste er weitertöten.

Und er war ganz allein mit dem Fremden. Er konnte ihm nicht entfliehen. Selbst wenn er von hier fortgekommen wäre – der Fremde würde immer bei ihm sein, keinen Schritt von seiner Seite weichen.

Und er wusste, der Fremde war stärker als er. Jetzt, da er ihn erkannt hatte, musste auch der Maat von seiner Hand sterben, denn man kann nicht mit solch einem schrecklichen Begleiter leben. Gleich würde er kommen, der Unerklärliche, Unmenschliche, Einsame, um ihn umzubringen. Lächelnd löschte der Maat das Licht, während das Messer seine Kehle durchschnitt.

An die Totgeborenen Teil 1 - Gefangenschaft

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