Читать книгу An die Totgeborenen Teil 1 - Gefangenschaft - Gregor Samsa - Страница 8
Der Schlüssel
ОглавлениеEs war ein ganz gewöhnlicher Tag im November. Draußen war es neblig, und es dämmerte schon, als der Bankkassierer P. zur gewohnten Stunde von der Arbeit nach Hause kam. Er stieg, wie jeden Tag, die vier Treppen zu seiner Wohnung hinauf und trat ein. Als er die Tür hinter sich abschließen wollte, geschah das Missgeschick. Der Schlüssel, der zehn Jahre lang zuverlässig seine Dienste geleistet hatte, brach ab. Der verklemmte Bart steckte so im Schloss, dass er sich nicht mehr entfernen ließ.
P. beschloss, sich dadurch nicht irritieren zu lassen und erst einmal in Ruhe zu essen. Er trat ins Wohnzimmer, wo seine Frau schon das Abendbrot hingestellt hatte. Es war so wie jeden Abend, und doch kam ihm heute die Wohnung verändert vor, ohne dass er hätte sagen können, worin diese Veränderung bestand. Durch das Fenster fiel das neblige Zwielicht, das die Möbel größer erscheinen ließ.
„Guten Abend! Willst du nicht mitessen?“, rief P.
„Ich habe keinen Appetit“, antwortete seine Frau aus der Küche. Er wunderte sich, dachte aber nicht weiter darüber nach. Er drehte sich um, als er ihre leisen Schritte hinter sich hört. Er schaut sie an und zuckt unwillkürlich zusammen. In dem fahlen Licht sieht sie leichenblass aus.
Mechanisch fasst er sich ans Gesicht. Ob er wohl auch so bleich wirkt? Er ist heute so merkwürdig nervös. Woran liegt es bloß? Er kann der Versuchung nicht widerstehen, einen raschen Blick in den Spiegel zu werfen. Doch nur die kahle Wand starrt ihm entgegen, ein leerer Fleck auf der vergilbten Tapete. „Edith, wo ist der Spiegel?“ „Der ist heute von der Wand gefallen. Der Nagel muss sich gelockert haben.“
Er riss sich zusammen. Wegen eines abgebrochenen Schlüssels und eines zerschlagenen Spiegels ließ er sich nicht aus seinem Rhythmus bringen. Morgen würde er einen neuen Spiegel kaufen, und das Schloss ließe sich bestimmt auch leicht reparieren. Er fühlte sich im Grunde genommen hinter einer blockierten Tür gar nicht so unwohl. Sicher hing es mit seinem Beruf zusammen. Eine verschlossene Tür vermittelte ihm ein Gefühl der Geborgenheit und Abgeschiedenheit. In seiner Wohnung wollte er vor Störungen und unangenehmen Überraschungen sicher sein.
Er blickte zum Fenster hinaus. Der Nebel wurde immer dichter. Die alten Häuser gegenüber waren schon nicht mehr zu sehen. Er putzte sich die Brille und entschied, das Schloss sofort in Ordnung zu bringen. „Edith, wo ist der Werkzeugkasten?“ „Den hast du doch gestern in den Keller mitgenommen.“ Richtig, er erinnerte sich.
Er musste also mit jemandem Kontakt aufnehmen. Er klopfte an die Wand. In diesem Moment war er froh, dass er Nachbarn hatte, wenn sie ihm auch sonst bloß die Ruhe störten. „Gib dir keine Mühe!“, meinte seine Frau hinter ihm, „Müllers sind heute zu ihren Verwandten aufs Land gefahren. Und die unter uns sind zu einer Geburtstagsfeier, die werden vor Mitternacht nicht zurück sein.“
Irgendwie schien heute alles schiefzulaufen. Er fühlte sich auf einmal entsetzlich einsam. Aber zum Glück hatte er ja das Telefon. Er war schon fest überzeugt, dass es kaputt sei, doch es funktionierte. Er wählte die Nummer des nächsten Schlossers. Niemand hob ab. Er ließ den Ruf eine Weile durchgehen, dann legte er wieder auf. Er blätterte im Telefonbuch und rief nacheinander sämtliche Schlosser an. Keine Antwort. Es war doch unmöglich, dass niemand zu Hause ist. Ihn überkommt eine unbegreifliche Furcht. Er wählt aufs Geratewohl einen beliebigen Anschluss nach dem anderen. Nirgendwo meldet sich jemand am anderen Ende der Leitung. Die Stadt scheint ausgestorben zu sein.
Und plötzlich ist ihm das Zimmer so eng. Er steht auf, reißt das Fenster auf und schreit hinaus. Irgendwie muss er sich doch bemerkbar machen. Der dichte Nebel verschluckt jeden Laut. Er horcht angestrengt. Nichts. Er hustet. Der kalte Nebel zieht ins Zimmer. Er schließt das Fenster.
Eine heftige Unruhe erfasste ihn. Er war gefangen. Etwas Unerklärliches war geschehen. Wieso passierte das alles gerade ihm? Er hatte immer sorgfältig seine Arbeit versehen, seine Ehe war ohne Zwischenfälle verlaufen, und der Gedanke, dass es anders sein könnte, war ihm unerträglich. Er musste seine Ordnung haben. Auf einmal kam ihm die absurde Idee, er könnte für den Rest seines Lebens in dieser Wohnung eingesperrt sein – allein mit seiner Frau. Ihm schauderte. Wenn er nur wieder hier heraus wäre! Die dunklen Möbel schienen auf einmal riesengroß zu werden. Die ganze Wohnung wirkte unheimlich in dem gespenstischen Zwielicht.
Da klingelte es. Es war ihm wie eine Erlösung. Er eilte zur Wohnungstür. „Ist da jemand?“ Nichts antwortete von draußen. Er stürzte zum Fenster und rief hinunter. Der Nebel war so dicht geworden, dass man die Straße nicht mehr sah. Es war wie ein bodenloser Abgrund, der einem schwindlig machte. Alles blieb still. Stattdessen ertönten von der Wohnungstür merkwürdige Klopfzeichen. Er ging zurück. Sowie er sich der Tür näherte, verstummten sie.
Und langsam kam die Nacht. Das Licht funktionierte nicht. Er wunderte sich gar nicht darüber. Das alles kam ihm vor wie ein Albtraum. Was sollte man dagegen tun? Sie gingen zu Bett. Schweigend lagen sie nebeneinander. Die Möbel warfen finstere Schatten. Und auf einmal fühlte er sich alt.
Er verspürte eine tödliche Müdigkeit. Er wollte ausschlafen, um diesen verrückten Tag schnell zu vergessen. Wie aus weiter Ferne vernahm er seine Frau. Er wunderte sich. Ihre Stimme klingt auf einmal so fremd. Er tastet mit der Hand nach ihrem Bett. Es ist leer.
Eine entsetzliche Angst steigt in ihm hoch. „Edith, wo bist du?“ Er tappt durch die dunkle Wohnung. Seine Frau ist unbegreiflicherweise verschwunden. Und plötzlich wird ihm bewusst, dass er allein ist. Er tastet sich zur Tür. Sie ist nur angelehnt. Das Holz ist zersplittert. Jemand hat sie aufgebrochen. Und seine Frau ist weggelaufen. Nach zehn Jahren Ehe!
Die Tür war wieder offen. Doch wohin sollte er gehen? Er fror. Er ging wieder hinein. Er war froh, dass sich alles auf so natürliche Weise aufgeklärt hatte. Morgen würde er die Tür reparieren. Und seine Frau würde er auch schon irgendwie zur Vernunft bringen. Er tappte ins Zimmer zurück und legte sich in stiller Gewissheit zu Bett. Bald kam der Schlaf über ihn, doch in seine Gedanken mischte sich eine geheime Furcht.