Читать книгу Das Leuchten in mir - Grégoire Delacourt - Страница 44
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ОглавлениеMein Vater.
Ich erzähle gesondert von ihm, weil ich mich nicht erinnern kann, meine Eltern oft zusammen gesehen zu haben. Natürlich auf ihren Hochzeitsfotos, wo sie so wenig lächeln. Auf einigen Familienfesten. Im Auto, bei den seltenen Gelegenheiten, wo wir gemeinsam irgendwohin fuhren. Abends und am Wochenende blätterte sie im Wohnzimmer rauchend in Kunstbüchern und hörte dabei Romberg, Debussy oder Meyerbeer; er schloss sich in seinem Arbeitszimmer ein, das wir nicht betreten durften. (Ich habe gelesen, dass sich »der Kapitän«, der Vater der Schriftstellerin Colette, den ganzen Tag in einem Arbeitszimmer einschloss, um dort angeblich einen Roman zu schreiben. Er brachte Jahre darin zu. Als er starb, fand man kein einziges Blatt.)
Mein Vater war schön. Eine finstere Schönheit. Er arbeitete lange in der mechanischen Werkstatt von Valenciennes und entwarf Werkzeugmaschinen, die die Hände der Menschen ersetzten. Auch ihre Schmerzen. Abends kam er spät nach Hause, wir hatten schon gegessen, und wenn ich noch nicht schlief, nachdem meine Mutter mir eine Geschichte vorgelesen hatte, kam er und gab mir einen kratzigen Kuss auf die Stirn, den er manchmal mit einem Vorschlag verband: »Was würdest du davon halten, wenn wir diesen Sommer im Greyhound Bus quer durch Amerika fahren oder den Zoo in Antwerpen besuchen und dort einen Tiger sehen, Emma, einen echten Tiger?« Er liebte die Tiger seit Shere Khan, dem einzigen Tier, das in Kiplings Dschungelbuch nicht lügt, dem einzigen, das dazu steht, uns, die Menschen, nicht zu lieben. »Es ist ein wunderschönes Tier, das Menschen frisst, kleine Beute, für einen Tiger sind wir eine ganz kleine Beute, Emma, ein Kotelett, ein Steak, es gibt nur noch weniger als viertausend auf der Erde, wir dürfen nicht zu lange warten, meine Kleine«, sagte er in einer Mischung aus Verlockung und Entsetzen. »Alles verschwindet so schnell, und ich würde dir gern die Angst eines Mannes, meine Angst zeigen, damit du sie schön findest und nicht denkst, dass es Feigheit ist, es ist keine Schande, besiegt zu werden.« Und ich fing an zu zittern, weil mir in dem Moment klar wurde, dass er Bescheid wusste, der Körper, der schwach wird, die Haut, die abkühlt, die Zähne, die wackeln, der Anfang vom Ende, schon; dann besann er sich. »Statt Zoo und Tiger könnten wir die Barre des Écrins besteigen, oder nicht erst auf den Sommer warten, willst du kommenden Mittwoch, ja, Mittwochnachmittag nach der Schule zu mir in die Werkstatt kommen? Ich zeige dir eine Maschine, die später farbige optische Linsen herstellen wird.«
Aber diese Versprechungen gehörten zu seiner Traurigkeit über unser verpasstes gemeinsames Leben, sie wurden immer vertagt, wegen eines Unfalls in seinem Werk, eines abgerissenen Arms, eines abgeschnittenen Fingers; wegen eines dringenden Geheimprojekts; vielleicht auch wegen seines riesigen und zerstörerischen Kummers, der gewissenhaft, jahrelang, hinterhältig und schmerzlos seinen Bauch millimeterweise zerfressen hatte, und als er eines Abends spürte, wie sich ein spitzes Messer in seine Bauchspeicheldrüse bohrte, war es das Ende. Vielleicht war es der Kummer darüber, dass er nicht vermocht hatte, meine Mutter so zu lieben, wie sie es sich gewünscht hätte: ein zuvorkommender, wenn nicht gar aufdringlicher Mann, ein Vater von zehn Kindern, ein aufmerksamer Kapitän von Trapp, großzügig und geistreich, ein Mann, der ihr gehört, der sie aus dem Salon entführen kann, in dem sie sich trotz der Bücher und der Musik langweilte, und auf eine Insel, in eine Lagune mit den Farben optischer Linsen bringt, oder auch nur viel weniger weit, aber als Überraschung, auf einen Ball zum 14. Juli, und sie dort herumwirbelt, ihr freche Worte zuflüstert, Worte, von denen die Haut und die Lippen feucht werden, sie dann gegen einen Baum drückt, sie nimmt wie ein junges Mädchen, damit sich beide von der hohen und gewaltigen Welle tragen lassen, die plötzlich den Groll, das Schweigen und alle Frustrationen eines Paares fortreißt, dessen Phantasie mit der Zeit verfault ist.
Wenige Wochen vor seinem Tod entschuldigte er sich. Aber er erklärte nicht wofür. Und ich hatte keine Zeit, ihm zu sagen, dass kein Tiger mich erschrecken und faszinieren würde, wenn ich groß wäre.
Sondern ein Wolf.