Читать книгу Das Leuchten in mir - Grégoire Delacourt - Страница 43
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ОглавлениеMeine Mutter.
Ich habe es schon gesagt: Jedes Mal wenn sie meine Kinder trifft, kneift sie sie in den Arm, um sich zu vergewissern, dass sie echt sind.
Sie wollte zehn Kinder haben, sie bekam nur mich. Sie hat es mir lange übel genommen, dass ich die anderen neun nicht zugelassen habe. Kurz nach meiner Geburt stellte man bei ihr eine Endometriose fest, die Unfruchtbarkeit zur Folge hatte und damit das Ende ihrer Träume von einer kinderreichen Familie, von einem Haus voller Lärm und Schokoladenduft am Morgen, von zehn Geburtstagsfeiern im Jahr, unordentlichen Zimmern, Bädern zu zweit und zu dritt, von überlaufenden Badewannen und Überschwemmungen, von Alberei, von Wutanfällen und fröhlichen Aussöhnungen, von ineinander verknäuelten Kindern.
Wenn ein Kind seine Eltern verliert, ist es ein Waisenkind. Wenn ein Mann seine Frau verliert, ist er ein Witwer. Was aber ist das Wort für eine Mutter, die nicht die Kinder bekam, von denen sie träumte?
Kann man von dem geheilt werden, was man nicht benennen kann?
Ich hatte sie ungewollt ihres idealen Lebens beraubt, und anstatt mir das Zehnfache an Liebe zu schenken, hatte sie die ganze Liebe in sich behalten. Hatte sie vergraben. Bei den Geburten meiner Kinder tauchte sie jedoch wieder auf, und als ich beschloss, dass drei genug wären, beschimpfte sie mich als Egoistin. Sie sagte tatsächlich »knauserig«. Dennoch blieb unsere Beziehung höflich und distanziert. Ich habe eine anständige Kindheit bei ihr verbracht. Sie hat nie meinen Geburtstag vergessen. Bis heute. Und so weit ich zurückdenken kann, hat sie mir jeden Abend eine Geschichte vorgelesen und in mir die Leidenschaft für Bücher und Heldinnen geweckt. Wenn man sie kannte, hätte man freundliche und brave, naive und reine Frauenfiguren erwartet, aber weit gefehlt. Sie las mir die schöne und furchterregende Geschichte von Blanquette und dem riesigen Wolf vor, die von Colettes naiver Claudine, sie öffnete mir die Augen für die gefährlichen und berauschenden Frivolitäten von Edith Whartons Lily Bart, sie ergötzte mich mit den Lügen und der Verzückung von Madame de, von Louise de Vilmorin, und säte unwissentlich – falls sie nicht abenteuerlicher war, als ich dachte, als wir alle dachten – bereits die Gefühle in mir, die mich eines Tages ins Verderben stürzen würden, die großen Stürme und die Lust, auf das wilde Verlangen zu hören, bis für einen flüchtigen Augenblick der Ewigkeit alles verloren war. Hat meine Mutter mich gelehrt, den Rausch und die Träume zu erleben, die sie sich nicht gegönnt hatte? Wollte sie mir das Gift des Körpers einflößen, um mich dafür zu bestrafen, dass ich ihren steril gemacht hatte? Oder hat sie vielmehr versucht, mir Wege der Freiheit zu öffnen, weil man manchmal sein Heil nur im Ungehorsam findet?
Sie brachte mir bei, am Tisch gerade zu sitzen, mich in Gesellschaft anständig zu benehmen, die Lüsternheit der Männer nicht zu schüren. Sie ließ mich als junges Mädchen eher klassische als gewagte Kleider tragen, die meinen hübschen Körper in unmodernen Hüllen verpackten. Meine ersten Flirts gefielen ihr nicht. Sie fand sie schamlos oder käuflich oder entsetzlich gewöhnlich. Olivier hingegen mochte sie sofort. Der angehende erfolgreiche Händler hatte die Gabe, seinen Charme jeder Situation anzupassen. Sie mochte seine Umgangsformen, seine Art, sich für sie zu interessieren, ihr zuzuhören, und wenn sie über Dinge redete, die er nicht kannte – Giotto, Romberg oder die Feinheit des Palestrina-Stichs –, nickte er geradezu andächtig mit dem Kopf. Der perfekte Sohn. Sie mochte seine Träume, er war noch nicht Autohändler und erzählte ihr von seinem Praktikum bei Pierre Fabre Médicament, von seinem Wunsch zu arbeiten, um das Leben der Menschen zu verbessern, hmm, hmm; sie sah in ihm den idealen Mann für ihre Tochter und gab ihm ihren Segen, bevor er mich um irgendwas gebeten hatte.
Mit den Jahren, den trägen, unbeweglichen, zu Hause in vergeblicher Erwartung eines Kavaliers verstrichenen Jahren, war der Panzer meiner Mutter schon etwas rissig geworden. Leichtere Worte waren zu ihrem kultivierten Wortschatz hinzugekommen. Sie hatte mehrmals die Frisur gewechselt, vom schlichten Bubikopf à la Mireille Mathieu bis zum virtuosen Brushing à la Farrah Fawcett, und einige schmeichelnde Färbungen probiert. Ihr Lachen war etwas höher, blieb aber immer noch kurz. Und eines Tages umarmte sie mich. »Emmanuelle, eigentlich bin ich gar nicht so enttäuscht, dass du meine Tochter bist.« An dem Tag weinte ich natürlich. An dem Tag verzieh ich ihr meine kalte Kindheit – um zu überleben muss man früher oder später im Frieden sein mit denen, die uns irgendwann zum Waisenkind und unglücklich machen werden. Dann fing sie wieder an, Bridge zu spielen. Mit einigen Freundinnen organisierte sie reihum Treffen; zweimal im Monat diskutierten sie bis spät in die Nacht (begleitet von kleinen Lakritz- und Rosenmacarons) über die charmanten Bücher von Gavalda, die literarische Eleganz von Rufin, das faszinierende Talent von Kasischke oder Oates. Sie kam auch viel regelmäßiger nach Bondues. Die Kinder liebten sie sehr. Mit Louis sah sie Broadchurch und True Detective. Sie wusste, dass in zwei Jahren Star Wars VII ins Kino kommen würde. Sie half Léa in Französisch, Manon in Mathematik und mir in der Küche, wo sie mich immer wie eine Minderbemittelte behandelte (mir ist nie ein Soufflé geglückt). Sie hat sich nie vom Tod meines Vaters erholt, den sie als einen Verrat ansah. »Ein Mann darf seine Frau nicht verlassen«, sagte sie immer wieder. »Und wenn die Frau geht?«, fragte ich sie eines Tages, als wir Crème brûlée mit Zichorie und karamellisiertem Zucker zubereiteten (eins von Oliviers Lieblingsdesserts).
»Und wenn die Frau geht?«
Sie sah mich mit einem Ausdruck an, den ich nicht an ihr kannte, dem Ausdruck einer Tragödin, und flüsterte: »Das ist etwas ganz anderes, Emmanuelle.«
Und an dem Tag erriet ich ihren Kummer, übrig geblieben zu sein, ihren unterdrückten Zorn und ihren nie gestillten Hunger. Meine Mutter hatte sich geopfert, sie hatte die Vorsicht des Friedens der Heftigkeit des Liebeskummers vorgezogen.
Sie hatte sich lieber in die Bücher gestürzt als in die Arme der Männer.