Читать книгу Das Leuchten in mir - Grégoire Delacourt - Страница 37
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An dem Tag aß er allein. Als die Rechnung kam, bestellte er einen zweiten Kaffee. Einen Espresso. Der Tisch neben seinem war gerade frei geworden, ich verließ meinen Stammplatz am Tresen und setzte mich neben ihn auf die dunkle Bank. Nun trennte uns kaum noch ein Meter. Wir sahen beide nach vorn. Hatten wir plötzlich Angst? Dass wir so nah beieinander waren. Endlich die Möglichkeit hatten, uns zu berühren. Uns zu riechen. Zu spüren. Ein echter Geruch. Ein Parfüm. Die Schlankheit der Finger. Die Eleganz eines Kleidungsstücks. Wir waren zwei Läufer, jeder auf seiner Bahn, den Blick auf etwas in der Ferne gerichtet.
Das Ziel.
Ein Kellner kam und räumte den Tisch vor mir ab. Er nahm meine Bestellung entgegen. Ich wartete ab, bis er sie brachte, ehe ich mich traute, zu sprechen, und jetzt weiß ich, dass mein Unbekannter darauf wartete, dass ich den Anfang machte. Der erste Satz ist immer der schwierigste. Wie in einem Buch.
Ich trank einen Schluck von meinem Perrier und sagte ganz leise, während ich weiter auf die Speisekarte am Fenster starrte: »Jetzt würde ich gerne Ihre Stimme hören. Ich bin bereit.«
»Ich heiße Alexandre. Ich bin verheiratet. Wir haben keine Kinder. Und ich denke seit drei Wochen an Sie.«
Ich liebe seine Stimme, eine Schauspielerstimme, ungewöhnlich und warm. Ich liebe seinen langsamen Redefluss. Die weiblichen Bewegungen seiner Hände, wenn er redet.
Ich mag viele Dinge, schon seit langem.
(Es gibt Dinge, die kann man nicht in der Vergangenheit erzählen. Ich sage ich liebe, denn so kann ich noch bei ihm sein, unbekümmert, in der Zeit unserer ersten Unterhaltung, muss sie nicht enden lassen; so kann ich erneut voller Hoffnung sein, am Anfang eines neuen Lebens. Die Gegenwart ist ein Zustand der Gnade. Jetzt, wo das Morgengrauen kommt, jetzt, wo ein blasses Leuchten am Horizont erscheint, wo das Krähen eines heiseren Hahns von einem Bauernhof heraufdringt, führt mich die Grammatik zum Ort meiner Erregung, lässt sie noch mal in meinen Adern glühen, wie einen Weinbrand, der mir Lust macht herumzuwirbeln.)
»Seit drei Wochen bin ich auch sehr durcheinander. Wenn ich hier hinausgehe, tanze ich auf der Straße, und die Leute lachen. Ich bin verheiratet.«
»Und Sie haben Kinder.«
»Drei.«
»Drei.«
»Mit demselben Vater.«
»Ich kann nichts mehr essen.«
»Das ist mir aufgefallen. Und Sie trinken mehr Kaffee.«
»Als Sie letzten Mittwoch nicht gekommen sind …«
»Ich wurde im Laden aufgehalten, wegen einer Bestellung.«
»… ging es mir nicht gut. Ich konnte überhaupt nichts essen. Ich hatte Angst, Sie kommen nie wieder.«
»Ich bin wiedergekommen.«
»Ich hätte Sie gesucht.«
»Ich wäre zurückgekommen.«
»Ich hätte zur Mittagszeit alle Restaurants, alle Cafés abgesucht. Und wenn ich Sie nicht gefunden hätte, hätte ich einen Detektiv engagiert. Nein, zehn. Ich hätte auch alle Kellner, alle Verkäuferinnen der Geschäfte im Viertel und sämtliche Straßenpolizisten geschmiert.«
Er bringt mich zum Lachen.
Ich fühle mich hübsch, wenn ich lache.
»Und Sie hätten mich als Verrückte beschrieben, die jeden Mittag kommt, um einen verheirateten Mann zu beobachten, ja, auszuspionieren, der mit seinen Freunden oder Kollegen isst.«
»Kollegen. Ich hätte Sie als sehr hübsche Frau mit kastanienbraunem Haar und hellen Augen wie grünes Wasser beschrieben, Mitte dreißig, mit etwas traurigem, melancholischem Gesicht, einer Melancholie, die mich zutiefst berührt. Ich hätte hinzugefügt, dass Sie wahrscheinlich eine treue Ehefrau sind, etwas einsam, wenn Sie niemanden haben, mit dem Sie essen.«
»Kein Problem. Man hätte zwei- oder dreitausend Frauen gefunden, die dieser Beschreibung entsprechen.«
»Sie wären darunter gewesen.«
»Vielleicht. Wahrscheinlich. Sie hätten mich wiedergefunden. Und was hätten Sie gesagt?«
»Nicht mehr als das, was uns unsere Blicke und unser Schweigen seit drei Wochen bekennen.«
»Alexandre, ich bin verwirrt. Ich bin eine treue Ehefrau, und trotzdem denke ich an Sie. Ich mag es, wie Ihre Augen in meinem Rücken brennen, wenn ich hinausgehe.«
»Ich mag die Sätze, die ich in Ihren Augen lese.«
»Es kommt mir vor, als würden Sie mich schon kennen. Manchmal fühle ich mich nackt. Das Gefühl ist angenehm und zugleich sehr peinlich.«
Ich bin froh, dass wir einander nicht anschauen, dass er mein gerötetes Gesicht nicht sieht.
»Wenn Sie mich beobachten, entdecke ich alles, was mir fehlt.«
»Ich suche kein Abenteuer.«
»Ich suche auch kein Abenteuer.«
Mein Herz schlägt schneller. Ich hole ganz tief Luft: »Muss man die Dinge leben, wenn es genauso schön ist, sie nur zu träumen?«
Jetzt lächelt er.
»Pasolini, Decamerone. Er spielt die Rolle eines Schülers von Giotto, der sich am Ende des Films fragt, warum man ein Werk schaffen soll, wenn es doch genauso schön ist, es nur zu träumen.«
»Das beantwortet die Frage nicht. Das zeigt nur, dass Sie ein gutes Gedächtnis haben.«
»Das ist eine traurige Frage.«
»Die Antwort wäre traurig, Alexandre. Sie haben einen hübschen Mund.«
»Sie haben ein schönes Lächeln.«
Ich besinne mich.
»Entschuldigen Sie.«
»Wofür denn?«
»Für den Mund. Das war zu intim.«
»Das war schmeichelhaft. Und irgendwie sind wir schon intim.«
»Ja.«
»Ich glaube, wir haben beide Lust darauf, aber wir dürfen uns nicht ansehen.«
»Das dürfen wir auf keinen Fall. Nicht aus dieser Nähe. Das wäre sehr gefährlich.«
»Übrigens sehe ich auf die Eingangstür, seitdem Sie hier sitzen. Ich kenne sie in- und auswendig. Von innen muss man drücken, von außen …«
»Ich starre auf die Rückseite der Speisekarte im Schaufenster. Ziemlich langweilig.«
Ein Kellner räumt unsere Tische ab. Das Lokal hat sich geleert.
»Jetzt müssen wir aufstehen, nehme ich an. Unserer Wege gehen. Zu unserer Arbeit zurückkehren, zu unseren Kollegen. Und heute Abend nach Hause.«
»Nach Hause.« Ich senke den Blick. »Leiden. Lügen. Träumen.«
»Ich werde an Sie denken.«
»Ich denke abends an Sie und nachts.«
»Ich kann nicht mehr schlafen.«
»Ich weiß.«
»Ich friere nachts.«
Ich bin in derselben Verfassung wie damals, als ich zum ersten Mal das Duett von Tristan und Isolde gehört habe. Ich bin in der Hölle und im Paradies. Meine Hand brennt darauf, seine Hand zu berühren.
Er fragt: »Was geschieht mit uns?«
»Ich vermute, das, was wir gesucht haben.«
»Haben Sie es gefunden?«
»Ich glaube.«
»Macht es Ihnen Angst?«
»Vor drei Wochen, nein. Jetzt ja.«
»Der Blitz kann zweimal an derselben Stelle einschlagen.«
»Ja. Das ist ja das Schlimme.«
»Also stehe ich jetzt auf. Ich gehe.«
»Ich werde Ihnen beim Gehen zusehen, Alexandre. Ich werde Ihren Rücken ansehen.«
»Ich werde versuchen, Ihnen mit meinem Rücken ›bis morgen‹ zu sagen.«
»Meine Augen werden Sie bitten zu bleiben.«
»Für Sie bin ich da.«
Ich würde ihn gern zurückhalten, das schwebende Glück in die Länge ziehen, unsere Finger ineinander verschlingen, sie zu Asche verbrennen. Ich wünsche mir, dass es möglich wäre, die Dinge nur zu träumen, aber der Hauch des Windes presst weder die Liebkosungen noch die Bisse in die Haut, der Körper wiegt nichts, wenn er uns nicht erdrückt, nicht erstickt, nicht ausfüllt; in diesem Moment habe ich eine Vorahnung von der Brutalität der Morgendämmerung, weit weg, unklar ahne ich schon das Ende, das sich in dem Augenblick abzeichnet, wo alles beginnt. Schon. Wie in dem Brief von Alphonse Daudet an Pierre Gringoire, dieser bitteren Fabel, in der die brutale Morgendämmerung so rasch kommt, in der der letzte Satz alle Hoffnungen zerstört.
»Da stürzte sich der Wolf auf die kleine Ziege und fraß sie auf.«
Und während ich mich frage, warum wir uns alle so gerne in das Maul des Wolfs werfen, wird mir bewusst, dass ich meinen Kopf und mein Herz förmlich vorstrecke, als wollte ich noch leichter gefressen werden.
»Morgen sage ich Ihnen meinen Vornamen, Alexandre. Morgen werde ich mit ja antworten.«
»Also werde ich versuchen, die richtige Frage zu stellen.«