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Ost und West, Islam und Christentum: Zusammenprall zweier Zivilisationen?

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In der Vergangenheit waren Religionen und Kulturen in der arabischen Welt und im Iran meist dann ein Thema, wenn sie mit dem kolonialen bzw. imperialen Expansionsdrang der Europäer in Berührung kamen. Das Zeitalter des Imperialismus wurde durch den Ost-West-Konflikt abgelöst; die – vielfach neuen – staatlichen Akteure ordneten sich nach politischen Interessen und ideologischer Orientierung jeweils einer bestimmten Macht zu. Religiöse und/oder kulturelle Eigenheiten spielten bei der Entscheidung, für welchen politischen Partner man sich entschieden hat, eine eher nachgeordnete Rolle. Das Ende des Ost-West-Konflikts hat die Grundlagen der internationalen Ordnung tiefgreifend verändert. Dabei sind zwei weltweite Trends festzustellen, die auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen: Auf der einen Seite bestimmt die Suche nach der unverwechselbaren kulturellen Identität die Entscheidung, mit wem man sich verbündet, die Rückbesinnung auf die Grundlagen und Inhalte der eigenen Tradition scheint von Bedeutung. Sie verbindet sich mit dem Bemühen, die politische Zugehörigkeit im internationalen System neu zu bestimmen. Auf der anderen Seite bestimmen die dramatische Verdichtung der globalen Kommunikation und die Vernetzung der Wirtschafts- und Finanzströme, deren größte Potenziale im Westen, d. h. in den USA und Europa, liegen, das heutige politische Geschehen. Die Globalisierung zwingt nichtwestliche Kulturen dazu, Anpassungsprozesse zu vollziehen.

Doch auf welche Weise wird es nichtwestlichen Kulturen gelingen, die eigene kulturelle Identität zu bewahren und sich gleichzeitig mit dem notwendigen Modernisierungsdruck in ein konstruktives Gleichgewicht zu bringen? Müssen die arabische Welt und der Iran die vom Westen geprägten kulturellen Werte gezwungenermaßen übernehmen, um an der Globalisierung und den Wirtschaftserfolgen teilhaben zu können?

Die Neugestaltung der Beziehungen zwischen einem Europa, das sich immer nachdrücklicher ausprägt, und der islamisch geprägten Welt in seiner näheren und ferneren Nachbarschaft, ist eine der großen politischen Aufgaben der Zukunft. Sie hat viele Facetten, auf die an dieser Stelle nicht eingegangen werden kann. Hier sei lediglich festgestellt, dass der Islam bereits eine europäische Tatsache ist – er ist ganz einfach „da“! Zum einen als Teil des geografischen Europa – dies in dem Sinne, dass Albanien und Bosnien-Herzegowina, auf „europäischem Boden“ gelegen, nach dem Verfall der sozialistischen Ideologie wieder als mehrheitlich muslimisch in Erscheinung treten. Weiter bleibt die Frage nach der Zugehörigkeit der Türkei noch unbeantwortet, deren Geschichte untrennbar mit den Muslimen in Albanien und Bosnien verbunden ist und die als „Kandidat“ auf die Vollmitgliedschaft in der EU selbst eine europäische Option hat. Zum anderen werden Muslime in wachsender Zahl Bürger in europäischen Gesellschaften. Der Islam – vornehmlich eine Folge der Migration – ist zur zweitstärksten Religion nach den beiden christlichen Konfessionen in Europa geworden. (In Frankreich ist die Zahl der Muslime mehr als vierfach höher als diejenige der Protestanten.) Die Zahl der Muslime in der EU ist in stetigem Wachsen begriffen.

Wohin also wird sich das Verhältnis des christlich geprägten Europa zu den Muslimen außerhalb wie innerhalb seiner selbst entwickeln? Kommt es zu dem prognostizierten „Zusammenstoß der Kulturen“? Sind die Grundlagen und das Grundverständnis von Mensch, Staat und Gesellschaft sowie Religion so fundamental voneinander verschieden, dass ein Ausgleich, d. h. ein nachbarschaftliches Zusammenleben und die Verständigung über politische und rechtlich-verfassungsmäßige Werte ausgeschlossen sind? Stehen christlich geprägte Werte den Ordnungsvorstellungen, die auf dem Wertesystem der islamischen Religion oder den „asiatischen Werten“ beruhen, unversöhnlich gegenüber? Bedeutet die immer wieder gehörte Berufung auf die Werte des „christlichen Abendlandes“ eine Ausgrenzung von Muslimen in europäischen Gesellschaften? Und wenn Unterschiede bestehen, wie können sie ausgeglichen werden? Oder sollten sie sich gar nicht assimilieren?

Durch die neue enge Nachbarschaftlichkeit eines sich verstärkt auf das christliche Abendland berufenden Europa auf der einen und einer sich wieder nachdrücklicher auf die eigenen Traditionen und Grundlagen beziehenden islamischen Welt auf der anderen Seite wird eine Wertediskussion angestoßen. Aber – so wird gelegentlich geargwöhnt – sind die Europäer, die die Religion nachhaltig aus dem politischen und gesellschaftlichen Raum herauszuhalten suchen, wirklich in der Lage, eine Wertediskussion mit Muslimen zu führen? Dieses Europa sei, so wird selbstkritisch festgestellt, in der Diskussion um Werte im gesellschaftlichen Raum, Muslimen nicht gewachsen. Muslime vermögen sich eine Gesellschaft ohne religiös gegründete Werte nicht vorzustellen. Andererseits stellen Muslime ihrerseits fest, dass die westliche Welt ihre Werte verloren habe und Europa damit für sie kein wirklicher Gesprächspartner sei. Tendenzen, sich aus einer derart „entwerteten Welt“ zurückzuziehen, und sich in eine eigene Parallelwelt zu begeben, ja diese wertelose Gesellschaft zu bekämpfen (im Extrem und bei einzelnen), sind erkennbar. Daraus ergibt sich: Kann es überhaupt eine gemeinsame Wertegrundlage geben, auf der der „Westen“ und die vom Islam geprägte Welt partnerschaftlich und respektvoll zusammenleben? Wo liegt die Brücke zwischen dem, was sich christlich abendländisch und jenem, was sich islamisch morgenländisch versteht? Dass es in der Wertediskussion auch zu seltsamen Allianzen kommen kann, zeigt die Annäherung zwischen dem Vatikan und konservativen islamischen Kreisen. Beide Seiten sehen allein schon in dem gemeinsamen Bestreben, religiös geprägte Wertvorstellungen wieder ins gesellschaftliche Leben einzubringen, Berührungspunkte.

Der Blick wird sich also vornehmlich auf jene Wertedimension richten, die angesichts einer zusammenrückenden Welt und des daraus resultierenden Zusammenlebens wichtig ist. Ausgangspunkt ist das Bild vom Menschen, seiner Stellung in der Gemeinschaft und im Staat. Daraus ergeben sich die Eigenheiten im Verständnis der Menschenrechte, der Demokratie sowie – damit zusammenhängend – der Dimension der Freiheit. Auf den Punkt gebracht werden die Betrachtungen schließlich mit dem Blick auf die Perspektiven des Zusammenlebens von Muslimen und Nichtmuslimen in europäischen Gesellschaften gerichtet sowie auf die Dimension der globalen Beziehungen, d. h. den Dialog zwischen den Kulturen bzw. den Zivilisationen.

Dabei kann ein essentialistisches Grundmuster der Argumentation nicht vermieden werden. Bei allen Differenzierungen, die sich in der Geschichte der „islamischen Welt“ und des „christlichen Abendlandes“ vollzogen haben, und bei den Konflikten, die sich innerhalb der vom Islam und Christentum geprägten Kulturräume ereigneten, haben sich Grundtatbestände ergeben, die die jeweiligen Zivilisationen noch heute prägend und elementar bestimmen! Faktoren und Problemstellungen haben sich herausgebildet, die den Menschen, seine Gesellschaft und die Religion betreffen. Sie haben den Geschichtsverlauf in den islamisch geprägten Kulturräumen und in Europa bestimmt. Dies wird nicht zuletzt auch in dem Dilemma deutlich, dem jeder gegenübersteht, der die beiden Großräume vergleicht. Im christlichen Abendland haben sich nach langen Auseinandersetzungen der religiöse und der politische Raum getrennt. Geblieben ist „der Westen“ – gleichsam die säkularisierte Variante des christlichen Abendlandes. Diese Entwicklung hat sich auf islamischer Seite (noch) nicht vollzogen: Auch wenn de facto weite Bereiche der gesellschaftlichen und politischen Existenz der Muslime säkular verwaltet wurden. Insbesondere im 20. Jahrhundert bemühte man sich in der vom Islam geprägten Welt nachhaltig um die Säkularisierung. Das Wesentliche der muslimischen Existenz ist das Aufeinanderbezogensein der Gemeinde und ihrer Rückbindung (religio) an die Transzendenz. Im Islam hat es keine Renaissance und keine Aufklärung gegeben, das ist zwar eine wenig abgegriffene, aber in der Substanz gleichwohl zutreffende Feststellung.

Das Christentum und den Islam verbindet in hohem Maße die gemeinsame Grundauffassung von der Würde des Menschen. In beiden Religionen steht der Mensch im Mittelpunkt des Schöpfungsakts. Allerdings tun sich dabei bereits unterschiedliche Akzente auf: Die christlich-jüdische Schöpfungsgeschichte betont die Gottähnlichkeit des Menschen. Damit geht die Aufforderung einher, sich die Erde „untertan“ zu machen. Im Koran wird demgegenüber wiederholt die gleichsam physiologische Dimension herausgestellt. So etwa in Sure 3,59: „Jesus ist [was seine Erschaffung angeht] vor Gott gleich wie Adam. Den schuf er aus Erde. Hierauf sagte er zu ihm: Sei!, da war er.“ An anderer Stelle wird von der Zeugung des Menschen aus dem Samentropfen gesprochen. Dieser bescheideneren Selbstauffassung des Menschen geht die Betonung einher, dass der Mensch „Stellvertreter“ (khalifa) sei: Dieser ist der Sachwalter Gottes auf Erden; damit ist er ipso facto auf Allah als Gesetzgeber und „Souverän“ bezogen. Gemein aber ist beiden Religionen wiederum die Betonung der Individualität des Menschen, die mit seiner Geschöpflichkeit (der Mensch wurde von Gott geschaffen) verbunden ist. Aus ihr ergibt sich naturgemäß auch am Ende die Verantwortung vor Gott, insbesondere mit Blick auf das Jüngste Gericht.

Menschsein, Individualität und Verantwortung stehen in beiden Religionen in unterschiedlichen religiösen und weltlichen Kontexten: Während der Islam die Erbsünde nicht kennt, die das menschliche Dasein nicht zuletzt unter dem Aspekt der Erlösung bestimmt, ist hingegen im Christentum der Mensch der Erlösung bedürftig! Ohne sie kann er des Heils nicht teilhaftig werden. Die Erlösung aber ist Ausfluss der Gnade Gottes, die der Mensch nicht zu beeinflussen vermag. Im Extrem findet sich diese Lehre in der Auffassung Luthers im Sinne, dass die Werke nichts seien, die Gnade aber alles sei. Der Mensch kann das Heil nicht aus sich heraus erlangen – was immer er tun mag. Er gibt sich auf Gedeih und Verderb der Gnade Gottes hin. Christus als Gottes Sohn ist als „Erlöser“ das Zeichen einer unendlichen Gnade Gottes.

Jenseits der Gemeinsamkeiten sollen die Unterschiede zwischen der islamischen und christlich geprägten Welt, zwischen Muslimen und Christen, ihren Gesellschaften und ihren Kulturen, nicht verwischt werden. Mit der Feststellung der Unterschiede aber ist zugleich eine Dynamik in Gang gesetzt. Denn heißt nicht verstehen auch manchmal so viel wie Unterschiede erkennen, das andere wie das eigene durch Unterscheiden besser kennenlernen? Das Verhältnis zwischen Kulturen und den ihnen zugrunde liegenden Religionen immer von neuem zu bestimmen muss das Ziel sein – dies um des tiefsten gemeinsamen Anliegens aller Religionen willen, die Würde des Menschen zu bestätigen und um zum Frieden beizutragen.

Um die Würde des Menschen ging es auch, als die Menschen 2010 mit himmelstürmendem Mut und mit Visionen einer gerechten Ordnung in Tunesien auf die Straßen gingen. Hoffnungsvoll begehrten sie nach Freiheit, enthusiastisch sprach man vom „arabischen Frühling“, der jedoch schon bald im Keim erstickt wurde. Gleich einem Flächenbrand scheinen sich die Ideen und Hoffnungen des „arabischen Frühlings“ in der islamischen Welt ausgebreitet zu haben, die über Jahrzehnte weithin unterdrückt wurden. Bis heute folgten nur menschenunwürdige Vergeltungen der Herrschenden. Syrien ist wohl das fürchterlichste Beispiel für die Exzesse des nun fast dreijährigen Bürgerkriegs.

Der Kampf der Syrer in ihrer Revolte hat viele Bezüge. Einer ist das Streben der arabischen Völker nach Unabhängigkeit und Freiheit seit dem Ende des Osmanischen Reiches. Diese erste arabische Revolte, die in den zwanziger Jahren auch Syrien erfasste, wurde vom Imperialismus europäischer Mächte unterdrückt. Die zweite arabische Revolte begann mit der Machtübernahme durch die Freien Offiziere in Ägypten und dem Sturz der Monarchie. Nahezu zwei Jahrzehnte lang veränderte sie die politische Landkarte des arabischen Raumes zwischen Algerien und Jemen. Am Ende verfingen sich die Protagonisten in den Fallstricken ihres überdimensionierten machtpolitischen Ehrgeizes, des Ost-West-Konflikts, des Israel-/Palästina-Konflikts, autokratischer Machtausübung und einer Entwicklungspolitik, die zu Selbstbereicherung und Cliquenwirtschaft sowie zu einer dramatischen Verschärfung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gegensätze führte.

Die dritte arabische Revolte nahm den Faden dort auf, wo ihn die gescheiterten Akteure der zweiten Revolte hatten fallen lassen. Als sich Mohammed Azizi am 17. Dezember 2010 im trostlosen Flecken Sidi Bouzid aus Verzweiflung über die Entwürdigung seiner Person verbrannte, war dies ein Fanal an Millionen von Menschen, den Platz der arabischen Gesellschaften im 21. Jahrhundert neu zu bestimmen. Damit erwies sich zugleich, dass die Revolte ihren Stellenwert und ihre Rechtfertigung aus der Geschichte selbst heraus findet und dass der Aufbruch irreversibel ist. Es gibt keinen Ort in der arabischen Welt, der von der Bewegung nicht erfasst worden wäre.

Ein anderer Bezug der Revolte der Syrer ist in ihrer eigenen neueren Geschichte gegeben. Als die Baath-Partei 1963 – mitten in der zweiten arabischen Revolte – in Damaskus die Macht übernahm, schien damit für einen Augenblick ein Versprechen für ein neues Syrien gegeben zu sein. Aber schon die Art der Machtübernahme durch das Militär warf einen Schatten auf dieses Versprechen. Spätestens mit dem Coup durch Hafiz al-Assad 1970 und der Verabschiedung der Verfassung von 1973, in der die Vorherrschaft der Baath-Partei festgeschrieben wurde, war klar, dass der „sozialistische“ Weg der Entwicklung und die Verwirklichung von Menschen- und Bürgerrechten in unüberbrückbarem Gegensatz stehen würden. Widerstände gegen die Diktatur Ende der siebziger/Anfang der achtziger Jahre wurden brutal niedergeschlagen. Am Prinzip der Überordnung der Gewalt der Machtausübung über demokratische Legitimation hat auch Baschar al-Assad festgehalten.

Wo aber stehen wir in diesem historischen Geschehen? Unser Engagement in Europa steht in allzu offensichtlichem Gegensatz zur Tatenlosigkeit der westlichen Politik. Außer Worthülsen, gedrechselten diplomatischen Ausflüchten, fragwürdigen Analysen des „besonderen Charakters“ der Entwicklungen in Syrien ist wenig zu hören oder zu sehen. Sanktionen sind keine wirksamen Maßnahmen, sondern Augenwischerei. Sie sollen den Eindruck erwecken, es geschehe etwas. In Wirklichkeit freilich geschieht fast nichts.

Tatsächlich spannt sich der Bogen des Nachdenkens über das Recht auf Freiheit und Auflehnung gegen tyrannische Macht zwischen Dichtern und Denkern wie Friedrich Schiller und Albert Camus – um nur zwei Namen zu nennen. „Was ist ein Mensch in der Revolte?“, fragt Camus in seinem grandiosen Essay „L’homme révolté“ (Der Mensch in der Revolte, 1951). Seine Antwort: „Ein Mensch, der nein sagt.“ Millionen von Arabern haben „Nein“ gesagt. Und auch Schiller sagt „nein“ im Drama „Wilhelm Tell“ (1804), das wohl geradezu als das Drama des Willens zur Freiheit bezeichnet werden kann. „[…] Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht,/Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden,/Wenn unerträglich wird die Last – greift er/Hinauf getrosten Mutes in den Himmel,/Und holt herunter seine ew’gen Rechte,/Die droben hangen unveräußerlich/Und unzerbrechlich wie die Sterne selbst […]“. Es erübrigt sich, die Parallele zum Ausbruch der arabischen Revolte zu ziehen. Allzu sichtbar ist sie. Diese unveräußerlichen Rechte, die ja nichts anderes sind als die Menschenrechte, herunterzuholen in ihre – die syrische – Gesellschaft. Dass dies nur um den Preis des Einsatzes des eigenen Lebens geschehen kann, haben mittlerweile (2014) 130.000 Menschen in Syrien bezeugt. „Äußerstenfalls“, so Camus, „nimmt er den letzten Verfall hin: den Tod, wenn man ihm jene ausschließliche Anerkennung rauben sollte, die er nun seine Freiheit nennt. Lieber aufrecht sterben als auf den Knien leben.“ „Lieber den Tod als in der Knechtschaft leben“ heißt es im „Wilhelm Tell“.

Bei allen Unterschieden von Geschichte, Kultur und Religion stehen die europäischen und arabischen Länder auf gemeinsamem Grund. Jahrzehntelang hat „der Westen“ mit einer Mischung von Dünkel, Mitleid und Pseudoexpertentum auf „die Araber“, „die Muslime“ hinabgeschaut, die zur Demokratie gleichsam genetisch nicht fähig seien. Die arabische Revolte, der syrische Aufstand haben eine neue Perspektive eröffnet: Wir alle sind den Werten der Humanität verpflichtet. Die Freiheit ist die Conditio sine qua non. Das Denken von Philosophen und Dichtern wie Friedrich Schiller und Albert Camus steht auf demselben Grund wie das Denken und die Schlussfolgerungen arabischer Geister wie Rifa’a Rafi’ at-Tahtawi (1801 – 1873), Mustafa Kamil (1874 – 1908), Abd ar-Rahman al-Kawakibi (1855 – 1902) und zahlreicher anderer. Diese Einsicht muss künftig die Grundlage der Begegnung zwischen Europa und seiner islamisch geprägten Nachbarschaft sein. Aus ihr erwächst die Perspektive einer neuen gegenseitigen Wahrnehmung. Die hierzulande gehegten Klischees über „die Araber“, „den Islam“ oder „die Muslime“ gehören in denselben Abfall wie die Potentaten und Autokraten, die von ihren „Untertanen“ gestürzt wurden. Und während die Europäer mit gemischten Gefühlen das Geschehen betrachten, stehen Hunderttausende von Ägyptern auf – die große Mehrheit von ihnen sind nach tief sitzendem westlichem Vorurteil „zu einer liberalen Demokratie eigentlich nicht fähige Muslime“ –, um gegen die neuerliche Errichtung einer Diktatur in Ägypten – sei sie islamisch oder säkular militärisch – zu demonstrieren. Die Frage, was zu tun ist, wie Europa dieses – sich in geschichtlichen Kontexten vollziehende – Geschehen unterstützen kann, steht unabweisbar im Raum. Wenn die arabische Revolte im Großen und in Syrien im Besonderen eben in jenem Kontext von Freiheit und Menschenwürde verortet wird, den wir hier im Westen als für uns verbindlich reklamieren, dann können wir uns nicht entziehen. Das Versagen westlicher Politik, die fast tatenlose Hinnahme des Schlachtens in Syrien, für das es leider – je länger es sich hinzieht – immer mehr Schuldige gibt, grenzt an Zynismus. Dies umso mehr, wenn man die Haltung der internationalen Gemeinschaft zu der viel beschworenen „responsibility to protect“ in Beziehung setzt, mit der leichthändig der Nato-Einsatz in Libyen gerechtfertigt wurde. Sanktionen fungieren als Alibi für druckvolles Handeln. Ein Zitat aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 16. Juni 2012: „Die EU verbot die Ausfuhr von Gütern nach Syrien, die zur Unterdrückung der Bevölkerung eingesetzt werden … Sie stellte nun die Liste mit den betroffenen Gütern vor. Zu den Gütern gehören Kaviar, Trüffel und Zigarren mit einem Verkaufspreis von mehr als zehn Euro, Wein und andere Spirituosen mit einem Wert über 50 Euro sowie Lederwaren ab 200 Euro und Schuhe, die mehr als 600 Euro kosten, wie die Kommission mitteilte.“ Syrien ist nicht Libyen, und ein Militäreinsatz wie derjenige in Libyen sollte sich – aus zahlreichen Gründen – auch nicht wiederholen. Deshalb steht die Forderung im Raum, dass die Syrer geschützt werden müssen; neue Alternativen und Lösungen für ein Ende des blutigen Bürgerkriegs müssen gefunden werden. Das syrische Volk zu schützen und das Regime Baschar al-Assad zur Aufgabe zu bringen, das muss das erklärte Ziel der Politik sein! Schutz aber ist – nach Lage der Dinge – nicht durch Worte zu leisten; auch nicht durch Sanktionen, die das Regime nicht wirklich erschüttern. Schutz bedeutet, sich einzumischen oder den zu Schützenden mit den Mitteln zu versehen, mit denen er sich selbst schützen kann.

Es trifft zu, dass viele Menschen in Syrien zögern, sich der Revolte anzuschließen, ja Angst vor der Zukunft haben. Dafür gibt es viele Gründe. Dass nicht jeder Mensch zur Revolte geboren ist, hat auch Albert Camus gewusst, der den Menschen in der Revolte in eine besondere Verantwortung stellte: „Die Freiheit hat nicht in gleichem Maße zugenommen, wie das Bewusstsein, das der Mensch von ihr erlangt hat. Aus dieser Beobachtung kann man nur eines ableiten: Die Revolte ist die Tat des unterrichteten Menschen, der das Bewusstsein seiner Rechte besitzt. Aber nichts erlaubt uns zu sagen, es handle sich nur um die Rechte des Individuums. Im Gegenteil scheint es, als handle es sich um ein mehr und mehr erweitertes Bewusstsein, welches das Menschengeschlecht im Lauf seiner Abenteuer von sich selbst gewinnt.“ Die Revolte wird für Camus eine „erste Selbstverständlichkeit“; so elementar wie das „Denken“ (cogito ergo sum) bei René Descartes (1596 – 1650) als grundlegende Selbsterfahrung: „Ich denke, also bin ich“. In Abwandlung dieses elementaren Befundes formuliert Camus: „Ich empöre mich, also sind wir“. Der Mensch in der Revolte handelt also zugleich für andere; sein Protest reicht über das Individuum – ihn selbst – hinaus.

Der Widerstand des Volkes hat nicht mit dem Ausbruch der Revolte begonnen. An dem Punkt, an dem das Aufbegehren vom individuellen zum gemeinsamen Protest wird – das ist der geheimnisvolle Wesenskern der Revolte in Syrien und in den anderen arabischen Ländern, in denen sich die Menschen gegen die Unterdrückung erhoben haben –; genau diese Ereignisse sind der Beginn der Revolution, die leider in Syrien zum Bürgerkrieg entartete. Immer wieder ist auf die Bedeutung der sozialen Medien in diesem Zusammenhang hingewiesen worden. Das ist natürlich zutreffend. Aber diese Medien sind nur das Instrument, über das sich eine in der Tiefe wirksame Entschlossenheit artikuliert, eine nicht mehr hinnehmbare, eine überlebte Ordnung zu überwinden. Es ist die Gewissheit, dass eine Zeit abgelaufen ist, auch wenn die Machthaber um jeden Preis bemüht sind, die Uhren zurückzustellen. Anders als die Umbrüche in den fünfziger und sechziger Jahren in den arabischen Ländern aber, die von einzelnen Personen und/oder spezifischen Gruppen, insbesondere Militärs, losgetreten wurden, ist die neuerliche Revolte eine Bewegung aus dem Volk. „Wir sind das Volk“; dieses besonders in Deutschland bekannte Motto hat in unzähligen Varianten Männer und Frauen, Angehörige aller Konfessionen und Ethnien im Protest vereint. Was hält sie zusammen? Was verleiht ihnen die Kraft, sich Machthabern entgegenzustellen, die entschlossen sind, mit äußerster Härte alle Werkzeuge der Repression gegen das Volk einzusetzen? Razan Zaitouneh, der 2012 den Ibn-Ruschd-Preis für „Freiheit des Denkens, Innovation und Zivilcourage im arabischen Raum“ erhalten hat, ist sich sicher: „Kein Zweifel, dass die Protestierenden und die Revolution schließlich siegen werden. Wenn wir nicht glaubten, dass wir gewinnen werden, würden wir nicht weiter machen können gegen diese Brutalität des Regimes. Wir würden all diese Verbrechen gegen unser Volk nicht ertragen. Ich bin sicher, dass jeder und jede einzelne unter den Syrern daran glaubt, dass die Revolution am Ende siegreich sein wird.“ Die Menschen spüren, dass die Geschichte auf ihrer Seite ist. Ihr Kampf hat sich von einem individuellen Protest zu einer Sache im Namen aller geweitet.

Auch an dieser Stelle noch einmal die Frage: Haben die europäischen Nachbarn die Tragweite dessen erkannt, was sich in ihrer arabischen Nachbarschaft vollzieht? Auf den gemeinsamen Ursprung des Strebens nach Freiheit wurde bereits hingewiesen. Welche neue Form der Begegnung zwischen Europa und seiner Nachbarschaft entspricht dieser Einsicht? Die Geschichte ist nicht ermutigend. Seit sich Europa und die arabischen Völker Ende des 18. Jahrhunderts unter dem Vorzeichen europäischer Expansion gegenübertraten, hatte diese Begegnung den Namen: „The white man’s burden“ oder „la mission civilisatrice“. Noch nach dem Ersten Weltkrieg mussten die arabischen Völker protegiert oder mandatiert werden, um sie aus zivilisatorischen Niederungen zur Höhe europäischer Standards der Moderne zu führen. Und die Mittelmeerpolitik der letzten Jahrzehnte verkam zu einer ängstlichen Verwaltung des Status quo. Die Erhaltung der bestehenden Regimes wurde der Unterstützung der Kräfte des demokratischen Wandels übergeordnet. In Palästina sah Europa zu, wie die Rechte des palästinensischen Volkes anhaltend ignoriert und verletzt wurden. Noch 48 Stunden vor seinem Fall bot die französische Außenministerin dem tunesischen Diktator Ben Ali an, ihm mit den „bewährten“ französischen Sicherheitskräften beizustehen. Die Menschen, die sich seit dem 17. Dezember 2010 in den arabischen Ländern erhoben haben, haben Europa nicht gefragt; sie haben es ohne Europa getan. Hätten sie Europa gefragt und um Unterstützung gebeten, wären sie wohl abschlägig beschieden worden. Wieder glaubwürdig zu werden, ist mithin ein erster wichtiger Schritt in die Richtung auf die Neubestimmung der Begegnung. Verspielt der Westen in Syrien diese Chance ebenso wie weiterhin in Palästina?

Jedenfalls nährt auch der immer wieder aufflammende Konflikt um Gaza den Zweifel, dass Europas Entschlossenheit, die Beziehungen zu seinen Nachbarn auf der Grundlage der Glaubwürdigkeit zu erneuern, mit den Wandlungen in den arabischen Gesellschaften stärker geworden sei. Es ist fast unerheblich, wer mit dem Schießen und Töten immer wieder beginnt. Und es ist selbstverständlich, dass sich ein Staat verteidigen kann, wenn er angegriffen wird. Wenn aber die Politiker emphatisch festgestellt haben, Israel habe „jedes Recht“, sich zu verteidigen, dann müssen sie im gleichen Atemzug und mit der gleichen Emphase feststellen, dass Israel jede Verpflichtung habe, die Regeln des internationalen Rechts und die Gebote der Humanität zu respektieren. Hier hat es über die Jahre keine Fortschritte gegeben, vielmehr haben die Praktiken der Besatzung und der Landnahme sowie die Geringschätzung der Menschen Palästinas durch die Siedler, geschützt und unterstützt seitens der gegenwärtigen israelischen Regierung, an Systematik zugenommen. Wieder hat Europa weggeschaut. Die Gewalt aber gebiert die Gewalt. Ausweglosigkeit und Entwürdigung waren der Nährboden für die Erhebung der arabischen Jugend zwischen Marokko im Westen, Jemen und Bahrain im Osten und eben auch Syrien. Ausweglosigkeit und Entwürdigung sind auch der Nährboden für Gewalt der Palästinenser gegen eine Macht, die das Recht so gering – oder sagen wir besser: so selektiv – achtet wie die arabischen Autokraten. Dass zwischen dem Kampf gegen autokratische Unterdrückung und gewalthafte Besatzung durch eine fremde Macht ein Zusammenhang besteht, hat uns Friedrich Schiller in der Einleitung zu seiner „Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung“ für alle Zeiten vor Augen geführt: „Der verzweifelnde Bürger, dem zwischen einem zweifachen Tode die Wahl gelassen wird, erwählt den edlern auf dem Schlachtfeld. Ein wohlhabendes üppiges Volk liebt den Frieden, aber es wird kriegerisch, wenn es arm wird. Jetzt hört es auf, für ein Leben zu zittern, dem alles mangeln soll, warum es wünschenswürdig war.“ Es ist beschämend, dass die Regierung Deutschlands, des Volkes Friedrich Schillers, die Palästinenser auf ihrem einzigen Weg zu Freiheit und Staatlichkeit, der ihnen noch bleibt, auf dem Weg über die Zustimmung einer überwältigenden Zahl der Staaten dieser Welt in der Vollversammlung der Vereinten Nationen, nicht aktiv unterstützt. Diesen Makel wird Deutschland mit Blick auf alle nach Freiheit strebenden Völker und Gesellschaften, nicht zuletzt in seiner islamisch geprägten Nachbarschaft, mit sich zu tragen haben. Dann kann es im Streben der arabischen Völker, illegitime Herrschaften zu beenden, so wenig abseits stehen, wie im Kampf des palästinensischen Volkes, die illegitime Besatzung zu beenden.

Wie kann Europa an Glaubwürdigkeit gewinnen? Die Antwort ist: Es muss die Wahrnehmung ändern. Angesagt ist eine inklusive Wahrnehmung; d. h., Europa muss erkennen, dass die Zukunft der arabischen Gesellschaften und der nahöstlichen Nachbarschaft ein Teil seiner eigenen Zukunft ist. Die Stellung Europas im internationalen System des 21. Jahrhunderts wird wesentlich von der Qualität der Beziehungen zu den neuen Ordnungen abhängen, die im arabischen Raum – einschließlich Palästinas – entstehen. Lange genug haben sich die Europäer eine exklusive Wahrnehmung geleistet: Die arabischen Völker, das waren die anderen. Die Interaktion stand im Zeichen europäischer Phobien: vor Instabilität, irregulärer Einwanderung, gewalttätigem islamischem Extremismus; Militanz gegen Israel. Die Lösung der palästinensischen Sache blieb auf der Strecke. Die neue – inklusive – Wahrnehmung bedingt die Hinwendung zu und den Dialog mit jenen, die den politischen Führern Legitimation verleihen; und diese sind das Volk. Zu lange haben europäische Regierungen die Beziehungen zu jenen gepflegt, die Legitimität für sich reklamierten – ohne oder gegen das Volk.

Für die unmittelbare Zukunft Syriens kommt alles darauf an, dass das herrschende Regime bald an sein Ende kommt. Jeder weitere Tag seiner Herrschaft vermehrt nicht nur die Zahl der Toten, sondern vertieft auch die Gräben und den Hass der Syrer untereinander. Die schmutzige Agenda jener, die im Namen des Befreiungskampfes des syrischen Volkes eben dieses Volk mit blutigen Terrorakten quälen, ist zu verurteilen. Aber sie werden den Gang der Geschichte nicht bestimmen. Die Menschen in Syrien brauchen die Perspektive auf eine neue Ordnung, in der sie sich gemeinsam wiederfinden. Mit dem Entstehen dieser Ordnung muss die Versöhnung einhergehen. Noch einmal sei der Dichter zitiert. So Friedrich Schiller im „Wilhelm Tell“: „Bezähme jeder die gerechte Wut/und spare für dass Ganze seine Rache/Denn Raub begeht am allgemeinen Gut/Wer selbst sich hilft in seiner eigenen Sache.“ Die Versöhnung ist die unverzichtbare Voraussetzung des Neuanfangs. Dass die Menschen in der arabischen Welt das „Ganze“ und das „allgemeine Gut“ der „eigenen Sache“ überordnen, das ist unsere Hoffnung.

Orient im Umbruch

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