Читать книгу Es gibt einen Berg für jedes Alter - Группа авторов - Страница 10
ОглавлениеWhymper stieg am Tag nach dem Unglück auf den Gletscher, um die Leichen seiner Kameraden zu bergen. Was er damals sah, beschrieb er erst im Alter von 71 Jahren in einem Brief an einen Hotelier: »Es hatte ihm [Groz] den oberen Teil des Schädels abgerissen. Wie die anderen Mitglieder der Gruppe war er gänzlich nackt. Ihre Bergschuhe und all ihre Kleider waren weggerissen worden. Es war ein schreckliches Schauspiel, Herr Tairraz, und ich möchte niemals wieder dergleichen ansehen müssen.« Whympers Buch endet mit einer Warnung: »Ersteigt die Hochalpen, wenn ihr wollt, aber vergesst nie, dass Mut und Kraft ohne Klugheit nichts sind und dass eine augenblickliche Nachlässigkeit das Glück eines ganzen Lebens zerstören kann. Übereilt euch nie, achtet genau auf jeden Schritt und bedenkt am Anfang, wie das Ende sein kann!« War diese Warnung an mich gerichtet? »Douglas und Hadow waren einfach zu jung für mich«, sagte das Matterhorn von oben herab, als ich unterhalb des Theodulpasses entlangwanderte, »aber da kann ich doch nichts dafür.« »Bin ich denn auch noch zu jung?«, fragte ich, und dann donnerten einige Steine lautstark durch die Ostwand. »Das Glück ist eine Allegorie, das Unglück eine Geschichte«, sagte das Matterhorn weise. »Was genau meinst du?«, fragte ich. »Auf einem mit Rubinen, Azur und Gold geschmückten Wagen«, entgegnete es mir, »fährt Apoll und wirft sein gleißendes Licht.« »Du bist verrückt geworden«, sagte ich erschrocken, und es antwortete mit der überschnappenden Stimme Klaus Maria Brandauers: »Ja! Das wäre möglich!« Ich gab es auf.
Und so vergingen wieder ein paar Jahre, ehe der Berg mich wieder rief. Diesmal zog mich der Berg zum ersten Mal zur Hörnlihütte auf 3260 Meter hinauf, auf einem zum Teil schon ziemlich ausgesetzten Pfad, der sich hinter dem Schwarzsee nach oben windet, und der doch für die Bergsteiger nur ein Spaziergang ist, der sie zum eigentlichen Ausgangspunkt ihres Vorhabens bringt. Und erstmals befasste ich mich konkret mit der Frage, wie es abläuft, wenn man das Matterhorn wirklich besteigen will, wie fit man sein muss, was man können muss, wie schwer es tatsächlich ist. Der Chef des Bergführerbüros in Zermatt erzählte mir, dass man von der Hütte aus mit einem Bergführer vier Stunden nach oben braucht, und dann vier Stunden wieder runter. »Es gibt keinen Berg auf der Welt, der im Aufstieg genau so lange dauert wie im Abstieg«, erklärte er, erzählte beiläufig, dass die meisten Kunden männlich und zwischen 40 und 50 Jahre alt seien. Dann stellte er mir einige Fragen: »Warst du bereits auf vielen Viertausendern? Bist du regelmäßig in den Bergen unterwegs? Bist du fit, hast alpine Felsklettererfahrung und bist am Felsen und am Eis auch mit Steigeisen sehr geübt? Bist du gut akklimatisiert, weil deine letzte Hochtour nicht weit zurückliegt?«
Ich war bisher auf einem einzigen Viertausender gewesen, aber das liegt schon ein paar Jahre zurück. Meine Klettergrenzen habe ich am Jubiläumsgrat auf der Zugspitze kennengelernt, immerhin im dritten Schwierigkeitsgrad. Akklimatisiert war ich nicht. Dass ich mir dann noch die Anforderungen ansah, die die Bergführerorganisation »Zermatters« auf ihrer Homepage formuliert, machte es nicht besser: »Gute Akklimatisation und gute physische Fitness erreichst du am besten durch intensives Training in der Umgebung von Zermatt (täglich 1000 bis 1500 Meter Höhendifferenz im Aufstieg mit einer Stundenleistung von 650 Höhenmetern).« 650 Meter – das ist genau die Differenz von Zermatt nach Sunnegga, dem Ausflugsziel unterhalb des Rothorns. Das wollte ich doch mal ausprobieren. Es klappte, ich war in etwas weniger als einer Stunde oben und dachte mir voller Hybris: »Pah, geht doch.« Und dann tippte mir das Matterhorn auf die Schulter, ich drehte mich zu ihm um, und es sagte: »Wirklich?«
Ich wollte eine Nacht dort oben verbringen, würde am nächsten Morgen mit den Bergsteigern aufstehen und vielleicht – der Gedanke begleitete mich Schritt für Schritt – durch einen Wink des Schicksals hinaufsteigen (obwohl ich das nicht geplant und keinen Bergführer gebucht hatte). Den Hörnligrat stets im Blick, bereitete mir schon allein der Gedanke schweißnasse Hände. Noch nie zuvor hatte ich den Ruf des Berges so klar vernommen. Auf der Hütte war viel los und die Terrasse füllte sich immer mehr. Von unten kamen Wanderer herauf und von oben Bergsteiger zurück. Da saßen sie nun, aßen Spaghetti Bolognese und tranken selbst gemachten Eistee, verschwitzt, erschöpft, noch voller Adrenalin und Endorphin. Italiener, Franzosen, Briten, Schweizer und Deutsche, mit Schweißrändern, zusammengekniffenen Augen und Helmabdrücken auf den Köpfen, schauten hinauf zum Gipfel und konnten kaum glauben, dass sie dort oben gewesen waren. Später erzählten die Hüttenwirte noch ein paar Geschichten: von einem Hochzeitsantrag auf der Terrasse, von einem Opa, der mit seinem zehnjährigen Enkel aufs Matterhorn gestiegen war und einem 16-jährigen autistischen Österreicher, der es, allein und ohne Seil, zum Gipfel geschafft hatte, von einer Frau, die mit einem Rollkoffer über den steilen Wanderweg heraufgekommen war und einem Mann, dessen Bruder vor ein paar Jahren am Berg gestorben ist.
Beim Abendessen in dem schicken neuen Glas-Holz-Anbau saß mir ein italienischer Bergführer gegenüber. »Der Berg ist zwar technisch leicht«, sagte er, »aber du musst die ganze Zeit fokussiert bleiben. Er ist nicht steil genug, um abzuseilen, das heißt, du musst abklettern und darfst dir keinen Fehler mit deinen Füßen erlauben.« Draußen war es dunkel geworden, und in der Dunkelheit sah ich einige Lichter flackern. Es waren also noch Bergsteiger unterwegs und tatsächlich kamen die letzten erst um 23 Uhr wieder in der Hütte an – sie waren 18 Stunden unterwegs. Ein Schweizer Führer schaute mich an und schien meine Gedanken lesen zu können. Er sagte: »Wenn einer das Matterhorn will, dann muss er es wollen! Es ist ein schwarzer Berg, so wie eine schwarze Piste. Das kannst du nicht machen, wenn du so etwas nie zuvor gemacht hast.« Ich musste mir eingestehen, dass ich vermutlich für eine rote Piste bereit war, nicht aber für eine schwarze. Doch die Gesellschaft, die sich morgen aufmachen würde, das Matterhorn zu besteigen, machte mir Mut. Es waren, wie angekündigt, überwiegend Männer zwischen 40 und 50 Jahre alt, sowohl die Kunden als auch die Bergführer. Ich war 44, lehnte mich entspannt zurück. »Siehst du«, sagte das Matterhorn, das offenbar wieder zur Vernunft gekommen war, kurz bevor ich einschlief, »deine Zeit kommt erst noch.«
Am nächsten Morgen um kurz vor fünf ging es los. Mit Funktionsjacken, Stirnlampen und Rucksäcken mit festgezurrten Steigeisen und Eispickeln trat einer nach dem anderen hinaus in die Nacht. Fünf Grad, leichter Wind, sternenklarer Himmel, milchiges Mondlicht. Gute Bedingungen. Wie eine Glühwürmchen-Kolonne gingen sie das kurze Stück hinüber zum Einstieg, eine 30 Meter hohe Felswand, durch die ein dickes Fixseil führt. Vor ihnen zeichnete sich das riesige schwarze Dreieck des Berges ab. Der Mond strahlte irgendwo dahinter und es sah aus, als glimme der Berg selbst. Ich beobachtete, wie ein Bergführer nach dem anderen seinen Gast ans Seil nahm, und war so nervös, als wäre ich einer von ihnen. Karabiner klackerten, Seile scheuerten über den Felsen, und die Bergführer murmelten ihren stummen Kunden letzte Tipps zu. Einer von ihnen, ein Österreicher, stand im T-Shirt da. Und so verschwand eine Seilschaft nach der nächsten in der dunklen Wand. Und ich war, zugegeben, heilfroh, dass ich nicht mit hinaufmusste.
»Weißt du, du musst mir gut vorbereitet und mit Würde gegenübertreten«, sagte das Matterhorn, als ich wieder allein war.
»Ja, du hast recht«, antwortete ich.
»Es stimmt wirklich«, sagte das Matterhorn, »man muss mich von ganzem Herzen wollen.«
»Du weißt schon, dass ich wiederkomme.«
»Kein Problem, ich bin hier. Und wenn dir die Zuversicht ausgeht, erfinde sie.«
Und so ging ich wieder hinunter zur Hütte, mit dem Glücksgefühl eines Menschen, der das Richtige getan hat. Ich trank in der Hütte einen Kaffee und beobachtete die Stirnlampen, die sich langsam am Grat nach oben bewegten. »Nächstes Jahr«, sagte ich, »vielleicht nächstes Jahr.« Und das Matterhorn, das konnte ich ganz deutlich sehen, nickte.