Читать книгу Es gibt einen Berg für jedes Alter - Группа авторов - Страница 8
ОглавлениеDER SPRECHENDE BERG
Ist man mit Mitte 40 noch zu jung für das Matterhorn? Andreas Lesti hat den Eindruck, der Berg der Berge rufe ihm genau das zu.
In den vergangenen 15 Jahren war ich viermal in Zermatt, am Fuße des Matterhorns, und jedes Mal kam ich diesem Berg der Berge ein Stückchen näher. Ich war 30 Jahre alt und in Ehrfurcht erstarrt vor der Nordwand gestanden, den Kopf weit in den Nacken gelegt, um die bedrohlichen Ausmaße überhaupt fassen zu können. Ich dachte mir das, was sie auch vor 200 Jahren gedacht haben müssen: Unmöglich, diesen Zacken zu besteigen! Ich wanderte damals auf dem Pfad ins Zmutt-Tal, kochte mir mithilfe eines Gaskochers auf einem großen Felsen ein Mittagessen und dachte über die Psyche der Wahnsinnigen nach, die dort hinaufsteigen. Und dann vernahm ich, ganz leise, eine Stimme: »Ach komm«, sagte sie, »schau mich doch mal genauer an, so unmöglich bin ich gar nicht. Ich schaue nur so fies aus.« Ich kniff die Augen zusammen und drehte mich um. Doch da war niemand. Waren das erste Anzeichen der Höhenkrankheit? »Sieh dir mal meinen Hörnligrat genauer an«, fuhr die Stimme fort, »komm doch noch ein Stück näher.« Und ihr hypnotischer Klang hallte nach: »… näher, näher, näher …«
Besorgt über meinen Geisteszustand wanderte ich weiter durch das Geröllfeld, hinauf zu den Ausläufern des Grats und stand nach einer Weile ein paar Hundert Meter unterhalb der Hörnlihütte. Von hier aus sah ich die Ostwand zum ersten Mal aus nächster Nähe und den Verlauf des Hörnligrats, der populärsten Besteigungsroute, die auf einer klar erkennbaren Linie bis zum Gipfel verläuft und die dunkle Nordwand von der hellen Ostwand trennt. Von hier aus sah die Besteigung wirklich nicht unmöglich aus. »Na?«, fragte das Matterhorn noch, und dann vernahm ich nur noch den schneidenden Wind. Was wollte es mir damit sagen?
Das Matterhorn ist alles andere als ein gewöhnlicher Berg. Selbst wenn man es schon auf Hunderten von Postkarten, Fotos, Bildern und Werbeschildern gesehen hat, ist man tief beeindruckt, wenn man es in echt sieht. Wie nah man dieser 4478 Meter hohen Felspyramide schon in Zermatt kommt, wie sie den Ort bedrängt, das Dorf überragt und bestimmt, wie sie sich von allen anderen Gipfeln rundherum abhebt und dabei formvollendet die Wolken aufspießt. Es gibt zwar noch sechs höhere Gipfel in den Alpen, aber keiner erhebt sich so prominent und dominant über die anderen. Täglich kommen Zigtausende Touristen nach Zermatt und fahren mit den Bergbahnen auf den Gornergrat oder das Kleinmatterhorn – nur um dieses Schweizer Wahrzeichen einmal im Leben zu sehen.
Auch im Ort ist der Berg omnipräsent: In der Bahnhofstraße, dieser Mischung aus alten Holzhäusern, leer stehenden Zweckbauten, geschmacklosen Hotelbunkern aus den Siebzigerjahren, alten Grandhotels, Apotheken, Bäckereien, Sport- und protzigen Uhren- und Immobiliengeschäften, sieht man ihn von überall aus. Und wenn man das Matterhorn in einem der 100 Restaurants, 50 Bars, 110 Hotels und 1200 Ferienwohnungen einmal kurz aus den Augen verlieren sollte, dann kann man sich sicher sein, dass das nächste Werbebild nicht weit weg ist. Es prangt auf den durch die Gassen surrenden Elektroautos, auf den Speisekarten und in den Auslagen der Souvenirshops. Das Matterhorn muss als Werbeträger für Schokolade, Wasser, Uhren und Kondome herhalten. Egal wo man ist und hinschaut, irgendwo ist immer, wirklich immer, ein Abbild des Berges zu sehen. Als hätte der Berg eine Klon-Armee von sich selbst erschaffen, die mich bis in die letzten Winkel Zermatts verfolgte und mir die Botschaft des Berges hinterhertrugen:
… NÄHER, NÄHER, NÄHER …
Es vergingen sieben Jahre, und das Matterhorn und seine Stimme verschwanden aus meinem Kopf. Dann führte mich die Recherche zu meinem Buch Oben ist besser als unten wieder nach Zermatt. Es geht darin um die Geschichten rund um den Berg, die dramatische Erstbesteigung, die Literatur über den Berg und die Menschen, die in seinen Bann geraten sind. Und so hörte ich zum ersten Mal, was die Zermatter selbst über ihren Berg sagen. »Der Herrgott war ein kluger Mann. Er hat das Matterhorn so frei dorthin gestellt und die schöne Seite nach Zermatt gedreht«, erzählte mir der Museumsleiter. Seine erste Handlung an jedem Tag sei, den Vorhang in seinem Wohnzimmer zur Seite zu ziehen und das Matterhorn zu fragen: »Na, wie siehst du heute aus?« In den vergangenen 52 Jahren habe es jeden Tag anders ausgesehen. Das Matterhorn, das wurde mir nun klar, ist hier mehr ein mythisches Wesen als ein lebloser Berg. Es ist eine magische Energiequelle, die für viele auf etwas Höheres verweist, ein Pfeil in den Himmel. »Ohne das Matterhorn wären wir gar nichts«, erzählte die Betreiberin eines Fondue-Restaurants. »Ich bin durch die ganze Welt gereist und habe festgestellt: Das Matterhorn kennt jeder, aber Zermatt kein Mensch.« Ein Hotelier sagte in bester Erhabenheitsmanier des 19. Jahrhunderts: »Es sieht so schön aus, so gefährlich und unbesteigbar. Gerade von Zermatt aus wirkt die schwarze Nordwand so bedrohlich und zieht uns in ihren Bann.« Eine Mitarbeiterin des Tourismusbüros, die seit Jahren darüber nachgedacht hatte, den Berg zu besteigen, wusste: »Es ist ein sehr psychologischer Berg – vor allem im Abstieg, weil du dann den gähnenden Abgrund immer vor dir hast.« Sie war noch nie höher als auf der Hörnlihütte gewesen, aber der Berg sprach offenbar auch zu ihr. Und der Museumsleiter erzählte schließlich noch: »Das Matterhorn wollte nicht, dass ich hochsteige. Dreimal habe ich mich vorbereitet. Dreimal habe ich mich verletzt.« Und mit 73 Jahren sei er nun doch etwas zu alt dafür. Ich war beruhigt. Die meisten Zermatter unterstellten dem Berg einen Willen und hörten seine Stimme. Ich war also weder allein noch verrückt, als ich die Stimme des Berges wieder vernahm:
»Da bist du ja wieder.«
»Ja.«
»Und?«
»Hm. Weiß nicht, Lust hätte ich schon.«
»Alle Lust will Ewigkeit«, sagte es grollend. Und: »Bist du bereit? Du musst einen Steinbock im vollen Galopp aus der Bahn werfen können.« Der psychische Zustand des Matterhorns machte mir Sorgen. Aber es hatte recht: Ich war nicht bereit. Und das lag auch an der dramatischen Geschichte der Erstbesteigung, mit der ich mich damals beschäftigte und die bis heute einen Teil des Mythos »Matterhorn« ausmacht. Und die ist, gelinde gesagt, ein ziemlicher Downer.
Man schrieb den 13. Juli 1865. Sieben, zum Teil ziemlich junge Männer brachen morgens um halb sechs in Zermatt auf: Edward Whymper (25), Lord Francis Douglas (18), Robert Hadow (19) und Charles Hudson (37), die beiden erfahrenen Bergführer Michel Croz (35) und Peter Taugwalder (45) sowie dessen Sohn David (23). Das Matterhorn war damals einer der letzten noch unbestiegenen Gipfel der Alpen, und zwei Seilschaften waren zum Gipfel unterwegs. Ein Wettlauf. Der Brite Edward Whymper versuchte es von Zermatt aus, ein Team rund um den Italiener Jean-Antoine Carrell von Italien aus. Whymper und Co. kamen gut voran, schliefen eine Nacht im Zelt und hatten am nächsten Tag um zehn Uhr eine Höhe von 4260 Metern erreicht. Sie mussten nun die Ostseite verlassen, da sich die Felswände im oberen Verlauf wie Hochhäuser auftürmten, und stiegen in die Nordseite ein. Ein verwegenes Manöver, doch am Ende war der Aufstieg auf den »unbesteigbaren Berg« sogar überraschend einfach. »Dieser einzig schwierige Teil war von keiner großen Ausdehnung«, schrieb Whymper in dem Buch Scrambles Amongst The Alps (dt.: Matterhorn. Der lange Weg zum Gipfel). »Um Viertel vor zwei lag die Welt zu unseren Füßen und das Matterhorn war besiegt. Hurra! Nicht ein Fußstapfen unserer italienischen Nebenbuhler war zu sehen.« Die »Nebenbuhler« waren bereits am 11. Juli von Süden aus aufgebrochen. Als Whymper und seine Leute vom Gipfel aus auf den südwestlichen Grat blickten, erkannten sie die Italiener und riefen lauthals spöttisch hinunter. Der Ausspruch »Der Berg ruft« war geboren und wurde später im Luis-Trenker-Film verewigt. Seitdem ist das Matterhorn in der Lage zu rufen, zu sprechen, zu lachen, zu singen, zu mahnen und zu weinen.
Whymper und seine Mannschaft machten sich nach der Erstbesteigung auf den Weg nach unten. Vorsichtig und aneinander angeseilt stiegen sie Schritt für Schritt ab. Whymper ging hinten und bekam nicht genau mit, was vorne passierte. »Ich hörte von Croz einen Ausruf des Schreckens und sah ihn und Hadow abwärts fliegen. Im nächsten Moment wurden Hudson und unmittelbar darauf auch Lord Douglas die Füße unter dem Leib weggerissen.« Dann riss zwischen Taugwalder vor ihm und Lord Douglas das Seil. »Einige Sekunden lang sahen wir unsere unglücklichen Gefährten auf den Rücken niedergleiten und mit ausgestreckten Händen nach Halt suchen. Noch unverletzt kamen sie uns aus dem Gesicht, verschwanden einer nach dem anderen und stürzten von Felswand zu Felswand auf den Matterhorngletscher, in eine Tiefe von beinahe 1200 Metern hinunter.« Die Nachricht der Tragödie ging um die Welt und zugleich – so sind die Menschen nun mal – schoss das Interesse am Matterhorn und Zermatt in ungeahnte Höhen.