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Von Keuschlern und Kaisern

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Bettina Balàka

Ihre Kaiserliche Hoheit trat im Jahr 1982 in mein Leben. Eine große mediale Aufregung fegte durch das Land, gebannt saßen die Familien vor Radios, Fernsehern und Zeitungen: Die letzte österreichische Kaiserin durfte endlich wieder in Österreich einreisen! Vorbei an salutierenden Zöllnern hatte sie die österreichische Grenze bei Feldkirch überschritten. Ich, sechzehnjährig, war völlig parbleu. Zunächst einmal war ich nach meinem damaligen Bildungsstand (der nicht unbedingt meiner Geschichtslehrerin, sondern möglicherweise geistiger Abwesenheit meinerseits anzulasten war) der Auffassung gewesen, bei der letzten österreichischen Kaiserin hätte es sich um Sisi gehandelt, welche zweifelsfrei am Genfer See mithilfe einer Feile ermordet worden war. Unter Akzeptanz des Umstandes, dass es noch eine weitere, allerletzte und überdies noch lebende Kaiserin gab, stellte sich mir die Frage, weshalb um Himmels willen eine Österreicherin in Österreich nicht einreisen hatte dürfen.

Eine Schulkollegin, die in streng katholischen Zirkeln verkehrte, klärte mich über die dort vertretenen Ansichten auf: Zita, die Gattin des letzten Kaisers Karl I., habe nicht einreisen dürfen, da sie sich geweigert habe, auf ihre Thronfolgerechte zu verzichten. Nach dem Prinzip des „Gottesgnadentums“ jedoch werde die Thronfolge von Gott selbst bestimmt, und demnach habe Zita gar nicht verzichten können. Die Kaiserin war also legitimationstechnisch eine Art Papst.

Nach über sechzigjährigem Beharren auf der Verzichtserklärung hatte schließlich der sozialistische Bundeskanzler Kreisky pragmatisch gemeint, die alte Dame werde ja nun wohl keinen Staatsstreich mehr anzetteln, und plötzlich fanden gefinkelte Juristen heraus, dass Zita auf Thronfolgerechte gar nicht verzichten musste, da diese ohnehin nie bestanden hätten. Und so durfte die Neunzigjährige in die Republik Österreich einreisen. Anhand dieser Person, deren Lebensspanne von der Monarchie bis in die Zweite Republik reichte, wurde mir schlagartig klar, dass Vergangenheit und Gegenwart keineswegs so unendlich weit auseinanderlagen, wie ich bis dahin gedacht hatte.

Es gibt ein Foto meines Urgroßvaters väterlicherseits, das ihn in Uniform zur Zeit des Ersten Weltkriegs zeigt. Er war ein einfacher Soldat des Kaisers, ein Lungauer „Keuschler“, also der Besitzer einer Keusche, eines bescheidenen, einstöckigen kleinen Hauses. Er überlebte den Krieg, um dreizehn Jahre später infolge eines akuten Magendurchbruchs vom Fahrrad zu stürzen und eingeklemmt zwischen zwei Zaunlatten innerlich zu verbluten. Zu diesem Zeitpunkt war sein Sohn, mein Großvater, bereits in den nächsten Weltkrieg eingerückt. Auch von ihm gibt es Fotos in Uniform, diesmal jene der deutschen Wehrmacht.

Von den Frauen der Familie weiß man, dass sie in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts mit schwerer körperlicher Arbeit (so gibt es etwa eindrucksvolle Schilderungen vom mühsamen Auskochen der Wäsche in riesigen Töpfen) und der Bekämpfung des Hungers befasst waren: Wenn es gar nichts anderes mehr zu beißen gab, machten sie sich auf ins Zederhauser Moos, um Frösche zu fangen. Ich habe mich manchmal gefragt, ob und wie sich dieses Jahrhundert der Kriege, der Zwischenund Nachkriegszeiten auf uns Nachgeborene ausgewirkt hat, und ein offensichtlicher Bereich ist der des Essens. Auch wir in den sechziger Jahren Geborene haben als Kinder noch gelernt: Ja nichts wegwerfen, immer alles aufessen, auch Verbranntes, auch und gerade das Fett am Fleisch, und Verdorbenes konnte man immer noch kaschieren, etwa ranziges Obers in einem Omelett. Als vor einigen Jahren ein zweijähriger Bub am Wiener AKH starb, nachdem seine Großmutter die Schimmeldecke vom Apfelmus einfach abgekratzt und ihn mit dem darunterliegenden Mus gefüttert hatte, dachte ich: Ein spätes Kriegsopfer ist dieses Kind.

Auch das Aufbewahren von Gegenständen ist eine solche tradierte Pflicht und führt zu vollgestopften Wohnungen oder gar dem Messie-Syndrom. Nichts durfte weggeworfen werden, kein altes Paar Schuhe und kein Gummiringerl, man wusste nie, wann man es noch brauchen würde. „Wenn wieder einmal ein Krieg kommt, werden wir froh sein, es zu haben“, pflegte meine Großtante zu sagen. Sie besaß eine sorgfältig gehütete Sammlung von Zwirn- und Nähseidenresten, in der auch kürzeste Fadenstücke aufbewahrt wurden.

Meine Eltern sind beide während des Zweiten Weltkriegs geboren. Meine Mutter war fünf Jahre alt, als meine Großmutter sie mit ihren Geschwistern und den nötigsten Habseligkeiten auf ein Leiterwagerl packte, um vor den einmarschierenden Russen zu fliehen. Zeit ihres Lebens konnte meine Mutter keine Reise antreten, ohne in eine Art Panik zu verfallen und uns Kindern dieses Fluchtgefühl weiterzugeben: Werden wir jemals zurückkehren? Werden wir nicht gerade das Entscheidendste, Wichtigste vergessen haben? In welche Ungewissheit stürzen wir?

Im Café Residenz gegenüber dem Eingang zu den Schauräumen im Schloss Schönbrunn. Touristen aus aller Welt laben sich hier an Sachertorte und Kaiserschmarrn, Apfelstrudel und Guglhupf. Die Monarchie hat in diesem Kontext etwas Romantisches und Glamouröses, etwas Kultiviertes und Nostalgisches, vielleicht auch etwas Pickiges an sich. An der Wand hängt ein Bild mit zwei Porträts: Kaiser Franz Joseph und der deutsche Kaiser Wilhelm II. Darunter steht: „In Treue vereint“.

Es handelt sich bei dieser Darstellung um ein Mittel der Kriegspropaganda, tausendfach reproduziert und in viele Haushalte verteilt, Kriegsmerchandising sozusagen. Auch in meinem Elternhaus gibt es ein mit demselben Bild verziertes kleines Deko-Kännchen, von dem in meiner Kindheit niemand mehr genau sagen konnte, was es bedeutete oder wie es in die Familie gekommen war. So wie wahrscheinlich kaum einer der Touristen an grauenvolle Kriegshetzerei denkt, wenn er unter den Augen der beiden Kaiser seinen Alt-Wiener Suppentopf löffelt.

Es gibt dennoch etwas, das mir an der k.u.k. Vergangenheit seit jeher gefiel: die Vorstellung, dass wir Österreicher „viele Völker sind“. Vielleicht lag es an meiner Geschichtslehrerin (der ich in dieser Stunde zuhörte), die die Monarchie als eine Art Prä-EU deutete und es nur für folgerichtig hielt, dass Otto Habsburg Abgeordneter im Europaparlament war. 1979 initiierte er eine Resolution, die durch einen leeren Stuhl im Europäischen Parlament auf die Völker hinter dem Eisernen Vorhang aufmerksam machte – und nahm dadurch die spätere Osterweiterung vorweg.

Vielleicht aber lag es auch an Otto Friedländers Buch „Letzter Glanz der Märchenstadt – Wien um 1900“, das mir das alte Wien als eine Weltstadt beschrieb, in deren Straßen eine bunte Vielfalt an Menschen zu sehen war: türkische Hausierer mit weichen Opanken an den Füßen und dem Fez auf dem Kopf, huzulische Hirten in gesticktem, weißem Pelz, polnische Juden mit langem Bart und in mit Zobel verbrämten Seidenkaftanen, armenische Mechitaristen, hannakische Ammen und ungarische Garden mit Pantherfellen und Reiherfedern. Wie absurd sind doch Ortstaferlstürmereien in einem Land, dessen Monarch einst seine Proklamationen mit „An Meine Getreuen Völker“ einleitete und in elf verschiedenen Sprachen veröffentlichen ließ.

In Heimito von Doderers Roman „Grenzwald“ wird eine Gruppe von österreichischen Offizieren im Laufe des Ersten Weltkriegs aufgefordert, sich doch einer Nation zuzuordnen. Da sie deutsch, tschechisch und ungarisch sprechen, kommen sie zu dem Schluss, eben einfach „Wiener“ zu sein.

Selbstverständlich war die Monarchie ein Herrschaftsgefüge, das seine Ansprüche zur Not auch mit Waffengewalt durchsetzte. Die Loyalität gegenüber dem Kaiser war unterschiedlich verteilt: Bei den galizischen Juden war sie hoch, bei den Tschechen tendierte sie gegen null. Und manchmal erlebt man auch viele Jahrzehnte nach dem Untergang des Habsburgerreiches so seine Überraschungen. 2007 durfte ich mit einer Delegation zum Zwecke des Kulturaustausches nach Sarajevo fahren. Eines Abends kam ich mit einem bosnischen Schriftstellerkollegen ins Gespräch und sagte irgendetwas Negatives über die habsburgische Okkupationspolitik in Bosnien-Herzegowina. Zu meiner Überraschung geriet er völlig in Rage und erklärte mir, ich hätte keine Ahnung von Geschichte: Die Habsburger seien mit Abstand das Beste gewesen, was diesem Land je passiert sei! Sie hätten Schulen, Spitäler, Theater gebaut, ein funktionierendes Eisenbahnnetz installiert und Sarajevo eine Stadtkanalisation geschenkt.

Ich versuchte, etwas einzuwenden, brachte die blutige Niederschlagung der Aufstände nach dem Berliner Kongress vor, der Österreich-Ungarn die Verwaltung der Region übertragen hatte, die Annexionskrise 1908 und nicht zuletzt den Umstand, dass der Erzherzog-Thronfolger Franz Ferdinand wohl nicht wegen extremer Beliebtheit der Habsburger in Sarajevo ermordet worden war – nun, wir hatten wohl beide Recht, so ist das nun mal mit der Geschichte.

Am Vormittag hatten wir jene Stelle nächst des Miljacka-Flusses besichtigt, wo der bosnische Serbe Gavrilo Princip mit seinen Schüssen den Anstoß zum Ersten Weltkrieg gegeben hatte. Unter den Kommunisten hatte er als Held gegolten, seine Fußspuren waren in den Gehsteig eingelassen gewesen, sodass man genau nachvollziehen konnte, wo er gestanden hatte, als er den Thronfolger traf. Nunmehr fanden wir die triumphalen Fußspuren entfernt: Im Bosnienkrieg galt Princip bosnischen Muslimen und Kroaten als serbischer Held, weshalb man ihm keine Bewunderung mehr zollen mochte. 2004 wurde an der Attentatsstelle eine Plakette angebracht, die nur mehr die nüchternen Fakten festhält. Auch die Geschichte hat eine Geschichte.

Wenn Österreicher die Grenze zu einem der ehemaligen Kronländer der Monarchie überqueren, kommt es vor, dass sie mit wehmütig-ironischer Geste sagen: „All das hat einmal zu uns gehört!“ In der Europäischen Union können wir wieder zusammengehören, diesmal auf freiwilliger Basis.

Aus: Bettina Balàka (2018): Kaiser, Krieger, Heldinnen. Exkursionen in die Gegenwart der Vergangenheit. Innsbruck: Haymon, 115–121. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin und des Verlags.

Kakanien oder ka Kakanien?

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