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Mütter (Auszug)

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Pavol Rankov

Ich war Alexejs Mutter und die Last der Betreuung hatte ich zu tragen. So war es von der Natur vorbestimmt. Ich versuchte, mich während des Tagesdienstes ab und zu ein wenig zu verkriechen, um die Augen zu schließen und etwas zu schlafen, doch es gelang mir nur ganz selten. Als ich mich einmal hinter der Baracke kurz ins Gras duckte, kam gleich die Gefangene angerannt, die mit mir zusammenarbeitete, und rief, die Wachen würden schon nach mir suchen, weil Alexej wieder weine. Auch nachts musste ich auf der Hut sein und Alexej sofort beim ersten Greinen an die Brust legen, denn ich hatte Angst vor Liedchen. Sie hatte schon mehrmals gedroht, das Kind zu erwürgen, wenn es sie noch einmal aufwecke. Ich bat sie, wieder auf ihre alte Pritsche am anderen Ende der Baracke zu ziehen, wo das Weinen sie nicht so stören würde, doch das machte sie noch wütender. Doch auch die anderen murrten. Die Hündinnen zwangen eine der Frauen, Irina beim Appell zu bitten, das Kind aus der Baracke heraus zu schaffen. Irina schrie sie daraufhin an, sie solle sich um ihren Kram kümmern. Dass die Mutter mit dem Kind im sechsten Lagpunkt sei, habe die Lagerleitung festgelegt und über einen Befehl werde nicht diskutiert.

In der darauffolgenden Nacht wachte ich von einem Schlag ins Gesicht auf. Liedchen stand über mir und rief, es sei die letzte Warnung. Alexej weinte wieder, doch ich war so müde, dass ich es nicht mitbekommen hatte. Liedchen packte mich an der Kehle und begann, mich zu würgen. Sie schrie, sie werde das Kind umbringen, wenn es sie noch einmal wecke. Dann zog sie mich hoch und stieß mich in Richtung Wiege, ich solle mich gefälligst um den Sohn kümmern. Doch ihre Wut ließ nicht nach. Sie ging in der Baracke auf und ab, trat gegen die Pritschen und versetzte allen Gefangenen, an denen sie vorbeikam, einen Hieb. Es machte sie rasend, dass einige noch immer schliefen, während sie von dem Weinen längst aufgewacht war.

Am nächsten Abend legte ich Alexej gar nicht erst in die armselige Wiege, sondern ließ ihn bei mir, damit ich ihn sofort stillen konnte. Die Sirene, die den Abendappell ankündete, klang in meinen Ohren wie eine Sterbeglocke. Natürlich wagte ich nicht, ein Nickerchen zu machen. Ich hockte auf der Pritsche und versuchte zu beten, doch in meinem Kopf wirbelten Bilder aus der Vergangenheit herum. Mal sah ich vor mir den Rücken von Alexejs Vater, als er aus dem Fenster meines Zimmers sprang, mal Mutter, wie sie auf dem Vorplatz stand und dem Wagen hinterher sah, mit dem die sowjetischen Soldaten mich wegbrachten. Aus meinem Gedächtnis stieg auch das entstellte Gesicht der toten Kaisa auf und kurz darauf der stechende Blick der Wölfin, die sich mir im nächtlichen Wald in den Weg gestellt hatte.

Als Alexej sich zu rühren anfing, nahm ich ihn sofort hoch und legte ihn an. Er trank, machte Bäuerchen und schlief ein. Ich hätte mindestens eine Stunde Ruhe gehabt, um mich selbst etwas aufs Ohr zu legen, doch ich hielt meine Augen mit Macht offen.

Dennoch schlief ich irgendwann ein. Alexejs Weinen weckte mich. Im Halbschlaf hörte ich in der dunklen Baracke jemand umher poltern. Als der Mund des Kleinen meine Brustwarze umschloss und das Weinen verstummte, hörte ich noch, wie eine der Liegen knarrte. Glücklicherweise war es nicht Liedchens. Erst als ich mich aufrichtete, um den Kleinen zum Aufstoßen an meine Schulter zu lehnen, sah ich, dass direkt neben meiner Pritsche jemand am Boden lag. Es war Liedchen. In ihrer grenzenlosen Bösartigkeit hatte sie offenbar beschlossen, neben uns zu schlafen, damit ihr nicht das leiseste Wimmern Alexejs entging. Ich bemühte mich, sie nicht anzustoßen, schließlich hatte sie wegen des nächtlichen Gewecktwerdens diese irrsinnige Position bezogen.

Ich war mir sicher, dass Liedchen meinen Sohn in jener Nacht umbringen wollte. Ich saß auf der Pritsche und grübelte fieberhaft, wie ich ihn schützen könnte. Am Ende kam ich zu dem Schluss, dass ich zu Irina gehen und ihr alles erzählen musste. Sie war die einzige, die mir helfen konnte. Doch gleichzeitig war mir auch klar, dass sie nicht helfen würde. Alexej war eine Last, die sie loswerden wollte, und Liedchen bedeutete eine Lösung dieses Problems. Alle um uns herum waren gegen uns. Gegen Morgen flutete mattes Licht die Baracke. Liedchen lag noch immer direkt neben mir auf dem Bauch, ihr Gesicht hatte sie in dem braunen Wattemantel vergraben, den sie nicht einmal bei größter Hitze ablegte. Irgendwann ertönte die Sirene, der Schlüssel rasselte im Schloss und die Wachhabende kam in die Baracke gelaufen.

„Los geht’s! Los geht’s!“, schrie sie wie jeden Morgen. Den Frauen, die noch nicht aufgestanden waren, hieb sie mit dem Axtstiel auf die Beine. Als sie bei Liedchen ankam, zögerte sie einen Moment. Offenbar schwankte sie, ob sie die Wut und möglicherweise auch einen Angriff dieser starken und unberechenbaren Gefangenen riskieren sollte. Sie stieß vorsichtig mit dem Stiefel gegen ihre Wade, doch da Liedchen sich nicht rührte, versetzte sie ihr einen ordentlichen Fußtritt. Als dieser auch nicht zu der erhofften Reaktion führte, bückte sich die

Wachhabende und griff nach Liedchens Hand. Sie ließ sie sofort wieder fahren. Fragend sah sie mich an:

„Was ist hier passiert?“

Ich zuckte nur die Schultern.

Die Wachhabende rannte aus der Baracke. Jetzt beugten auch wir uns zu Liedchen hinunter. Ihre Hände waren kalt. Als eine der Frauen den Mantel beiseiteschob sah ich, dass sie den Kopf unnatürlich zur Seite gebogen hatte. Ich dachte an Kaisa. Um Liedchen herum war nicht ein Tropfen Blut.

„Warst du in der Armee?“, fragte mich Leutnant Irina.

„Nein“, antwortete ich.

Wir standen vor dem angetretenen Lagpunkt. Wenige Meter neben uns lag der leblose Körper Liedchens. Irina verfuhr wie ein paar Monate zuvor. Anstelle des Frühstücks sollte die Mörderin aufspürt werden, nur dass dieses Mal ich verdächtigt wurde. Irina fragte mich, ob ich nicht gestehen wolle. Ich schüttelte den Kopf. Irina begann vor den angetretenen Brigaden auf und ab zu gehen. Sie schlenderte von der ersten Reihe zur vierten und wieder zurück. Der lange Pferdeschwanz hüpfte grimmig über ihren Rücken, während sie erklärte, dass wohl alle wüssten, wie oft Liedchen mit dem Tod meines Kindes gedroht hatte. Nun sei ich ihr also zuvorgekommen und hätte ihr das Genick gebrochen. Da hob Anna die Hand. Irina bemerkte es nicht, doch eine Wache machte sie darauf aufmerksam. Irina rief Anna nach vorn und forderte sie auf, zu sprechen. Anna erklärte, dass sie die Pritsche neben mir habe und in der Nacht aufgewacht sei, als Liedchen auf dem Boden aufschlug. Als sie die Augen öffnete habe sie eine Frau zwischen den Pritschen davongehen sehen.

„Sie?“ Irina zeigte auf mich.

„Nein, ich bin mir sicher“, entgegnete Anna. „Die Person verschwand irgendwo in der Mitte der Baracke in der Dunkelheit.“

„Wer war es dann?“, fragte Irina.

„Ich weiß es nicht, ich konnte es nicht sehen“, sagte Anna.

„Wenn du es nicht gesehen hast schweig und scher dich zurück ins Glied!“, fertigte die Leiterin sie ab.

Dann wandte sie sich unserer Brigade zu:

„Wir müssen jetzt und hier die Mörderin entlarven. Ich für meinen Teil habe sie schon gefunden, doch zur Sicherheit frage ich noch einmal: bekennt sich jemand zu dieser Missetat?“ Langes Schweigen folgte. Dann zerschnitt Alexejs schrilles Weinen die Stille, als gleite ein heißes Messer durch ein Stück Butter. Ohne zu überlegen und ohne Erlaubnis stürzte ich los in Richtung Baracke. Eine Wache trat mir in den Weg. Mir wurde klar, dass mein Sohn und ich verloren waren: sie würden mich noch heute von ihm trennen, vielleicht würde ich schon morgen hingerichtet und der Junge würde allein bleiben, verhungern.

„Was willst du?“, hörte ich Irinas schroffe Stimme.

Ich dachte, sie wollte mir die Möglichkeit anbieten, meinen Sohn ein letztes Mal zu stillen und mich von ihm zu verabschieden, doch sie redete überhaupt nicht mit mir. Die verrückte Lora war nach vorn marschiert.

„Was willst du?“, wiederholte Irina.

„Ich habe sie umgebracht.“ Lora lächelte.

„Du?“

Lora winkte unbekümmert ab:

„Eine Getötete mehr, was macht das schon …“

Als der Arzt aus Zóny kam, ließ Irina uns erneut antreten, damit wir bei der Untersuchung der Toten zusahen. Sie sagte, dass man der Gefangenen Charlamowowa das Genick gebrochen habe und dass das nur jemand gewesen sein konnte, der eine spezielle militärische Ausbildung besaß. Wie Lora Berger. Der Arzt murmelte etwas vor sich hin, der Auftritt der Leiterin schien ihn nicht zu beeindrucken. Als er sich neben der Toten wiederaufgerichtet hatte, verlangte er, mich und das Kind zu sehen. Wir gingen in die Baracke.

Nach einer flüchtigen Untersuchung Alexejs entschied er, dass ich zufüttern müsse, jede Woche eine Dose Kondensmilch. Irina nickte. Der Arzt musterte sie. Ich kannte ihn bereits und erwartete, dass er gleich wieder eine Bemerkung machen würde, die Irina demütigte oder in Rage brachte. Er begann, indem er ihr ausführlich erläuterte, warum Mütter mit Neugeborenen in Lagerkrankenhäuser oder gesonderte Baracken verlegt würden.

Der Hauptgrund sei, dass sie andere Gefangene nicht störten. Irina sah ihn ungläubig an, auch sie erwartete, dass er jeden Moment zum Angriff überging. Und es geschah prompt, indem der Arzt sie anwies, in unserer Baracke eine Trennwand aus Holz zu ziehen, die Mutter und Kind wenigstens etwas von den anderen abschirmte. Zu meiner Überraschung protestierte Irina nicht. Sie gab sich auch später ruhig, als sie mir Anweisungen erteilte, wo und wie ich die neue Wand zu errichten hätte. Am Abend sprachen Anna und ich lange über das Vorgefallene. Uns beiden war klar, dass die Leiterin in der Baracke eine Zuträgerin hatte. Sie hatte ja selbst gesagt, sie wisse, dass Liedchen immer wieder gedroht hätte, meinen Sohn umzubringen. Dass Irina nichts dagegen unternahm bestätigte uns ein weiteres Mal, dass sie es auf den Tod Alexejs anlegte. Anna meinte, wir müssten alles daransetzen, dass ich mit meinem Sohn so schnell wie möglich aus Artek fortkam. Der Arzt war dabei unsere einzige Hoffnung, nur er konnte Alexej und mich wo anders hin verlegen. Gleichzeitig war mir aber auch klar, dass wir seine einzige Waffe gegen Irina waren. Würde er uns fortschicken, müsste er sich jemand anderes suchen.

„Du denkst also auch, dass der Arzt Irinas Unvermögen am besten dadurch beweisen könnte, wenn …“, begann Anna nach einer kurzen Pause.

„Ja, wenn Alexej sterben würde“, ergänzte ich.

Anna seufzte und senkte den Kopf. Es gab keine Rettung.

Ein paar Tage später brachten sie die erste Dose Kondensmilch für Alexej. Sie stammte von der amerikanischen Kriegshilfe und war riesig, ich schätze, sie fasste fünf Liter. Dank der Milch konnte ich meine alten Schulden aus jenen Wochen begleichen, als die Gefangenen mir Beeren aus dem Wald mitbrachten. Ein halber Napf süßer fetter Milch hatte einen ungeheuren Wert. Anna tauschte sie gegen Zucker, Brot und Seife, wir nahmen auch Tabak an, den wir uns für spätere Handelsgeschäfte beiseitelegten.

Als die Frauen mit ihren Bechern anstanden, drängelten sich Tanja und Jelena nach vorn. Die Hündinnen wollten auch Milch.

„Mach voll“, kommandierte Jelena und hielt Anna ihren Becher hin.

„Und was gibst du dafür?“, fragte Anna ruhig.

„Waaas?“ Jelena sah sie mit großen Augen an. Dann drehte sie sich zu Tanja um.

„Hast du sie gehört?“

„Mamachen“, Tanjas Augen funkelten vergnügt, „soll ich ihr die Hand brechen?“

„Wenn du mir die Hand brechen willst, werde ich dich nicht daran hindern“, sagte Anna und zuckte die Schultern. „Ich möchte euch beiden vorher aber eine Frage stellen. Glaubt ihr wirklich, dass Lora Liedchen umgebracht hat? Ich nicht! Wenn nun aber eine andere Liedchen getötet hat, dann ist sie noch immer unter uns. Und wir wissen ja alle“, Anna ließ ihren Blick über die Frauen schweifen, „warum Liedchen sterben musste. Sie wollte dieses Kind beiseitebringen. Jene, die sie umgebracht hat, tat es, um Alexej zu schützen. Wer von uns versucht, dem Jungen etwas anzutun, kann wie Liedchen enden.“

„Wer hat Liedchen aber dann umgebracht? Du doch nicht etwa?“, lachte Tanja.

„Ich bestimmt nicht, aber mit Sicherheit eine andere von uns“, schloss Anna.

„Ich kapier nicht, warum du jetzt davon anfängst“, sagte Jelena.

„Wir sind gekommen, um uns Milch von euch zu kaufen, genau wie die anderen Frauen. Sag, was du dafür willst und wir werden’s dir geben.“

„Wir tauschen gegen Tabak“, ging Anna zum Geschäftlichen über.

Tanja schnaubte mürrisch, doch Jelena legte ihr die Hand auf die Schulter. Dieses Mal hatte Anna die Hündinnen bezwungen, doch mir war klar, dass wir uns weiter vor ihnen in Acht nehmen mussten. Sie waren noch genauso gefährlich wie vor Liedchens Tod – Jelena durch ihre Gerissenheit und Tanja durch ihre animalische Kraft.

Die amerikanische Kondensmilch schmeckte allen außer Alexej. Ich gab sie ihm tröpfchenweise in den Mund und schmierte damit sogar meine Brustwarze ein, doch sobald die Milch an seine Zunge kam, verzog der Kleine das Gesicht. Ich versuchte, die Milch mit Wasser zu verdünnen, sie warm zu machen, zum Schluss gab ich sogar eine Prise Salz hinzu, doch Alexej lehnte alle meine Kostproben ab.

Die Zusatznahrung des Arztes war dennoch nicht umsonst. Ich trank Alexejs Milch und mir schien wirklich, dass ich dadurch mehr Milch bildete. Leider kam schon in der Woche drauf eine viel kleinere Dose aus Zóny an. Neben dem eigenen Napf blieb nichts für Tauschgeschäfte übrig.

Die Blechbüchsen fanden im Lager als Töpfe Verwendung. Die erste hatte ich als Weitling behalten, um darin die Lappen auszuwaschen, die ich als Windeln nutzte. Es dauerte nicht lange und Anna setzte bei den Frauen auch unseren Tabak um. Sie tauschte ihn gegen Hagebutten ein, die sie für Tee trocknete. Im Winter würde das Kind Vitamine brauchen.

Aus: Pavol Rankov (2011): Matky. Banská Bystrica: Edition Ryba, 102–109. Aus dem Slowakischen von Ines Sebesta. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Übersetzerin. Die deutsche Übersetzung des Romans erscheint 2020 unter dem Titel MÜTTER. Der Weg der Wölfin durch den Gulag beim Berliner Verlag Anthea.

Kakanien oder ka Kakanien?

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