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Musils Kakanien Die Frage nach dem Realitätsgehalt eines literarischen Topos

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Ernst Bruckmüller

Musil als Quelle?

Ob die literarische Schilderung Kakaniens im achten Kapitel des Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil eher als realistische Schilderung des alten Österreich (oder Österreich-Ungarn?) oder eher als literarische Überhöhung bzw. Verfremdung anzusehen ist, ist für Germanisten nicht besonders relevant. Für Historiker (und -innen) ist diese bekannte Stelle hingegen eine nur allzu große Versuchung, sie zu zitieren – man erspart sich angesichts der Eleganz der Musil’schen Sätze eigene Formulierungsmühsal. Der Autor dieser unmaßgeblichen Zeilen ist dieser Versuchung selbst erlegen (Bruckmüller 2001, 282–284).

Allerdings hat uns Musil selbst ein paar wichtige Warnschilder aufgestellt. So versichert er an einer Stelle, dass „weder an dieser Stelle noch in der Folge der glaubwürdige Versuch unternommen werden wird, ein Historienbild zu malen und mit der Wirklichkeit in Wettbewerb zu treten“ (Musil 2016a, 270; vgl. Wolf 2011, 32). Und an anderer Stelle betont Musil, dass ihn „die reale Erklärung des realen Geschehens“ nicht interessiere (Musil 2015a; vgl. Wolf 2011, 32). Später (1941) gestand Musil selbst, der Roman sei ihm doch unter der Hand „ein historischer Roman“ geworden (Musil 2015b; vgl. Wolf 2011, 32). Zu dieser Zeit war Kakanien ja angesichts des von Hitler ausgelösten Zweiten Weltkrieges und unfassbarer Gräuel aller Art schon sehr weit weg von der realen Welt der damaligen Europäer. Die den Hintergrund für Musils so zahlreiche verschiedene menschliche Typen und Charaktere bildende Habsburgermonarchie war durch den zweiten, gegenüber 1918 erheblich schlimmeren zivilisatorischen Bruch von 1933/45 nur mehr als relativ harmlose, leicht skurrile Erscheinung erinnerbar.

Auch der Doyen der österreichischen Geschichtsforschung, Gerald Stourzh, warnte übrigens davor, Musil unbesehen als ,Quelle‘ für die Analyse der Gesellschaft und des politischen Systems der Habsburgermonarchie zu verwenden (vgl. Stourzh 1991, 64). Er betonte, dass Musils Kakanien sehr stark aus der Wiener Sicht skizziert sei und Ungarn nur unzureichend mit einbeziehe. Stourzh versuchte dies an Hand des bekannten Diktums über den Staatsnamen zu belegen: Kakanien

nannte sich schriftlich Österreichisch-Ungarische Monarchie und ließ sich mündlich Österreich rufen; mit einem Namen also, den es mit feierlichem Staatsschwur abgelegt hatte, aber in allen Gefühlsangelegenheiten beibehielt, zum Zeichen, daß Gefühle ebenso wichtig sind wie Staatsrecht und Vorschriften nicht den wirklichen Lebensernst bedeuten. (Musil 2016a, 49)

Stourzh fügt hinzu: In Budapest sahen die Dinge anders aus; es genüge, Péter Hanáks Darstellung der historischen Parallelaktion von 1898 in Ungarn, des Widerspiels von fünfzigjährigem Revolutionsgedenken und verkrampftem Thronbesteigungsjubiläum Franz Josephs zu lesen, um dies zu sehen (vgl. Stourzh 1991, 64). Stourzh kritisiert ferner – in einer Fußnote – die bekannte Formulierung Musils zum kakanischen Parlamentarismus:

Man hatte ein Parlament, welches so gewaltigen Gebrauch von seiner Freiheit machte, daß man es gewöhnlich geschlossen hielt; aber man hatte auch einen Notstandsparagraphen, mit dessen Hilfe man ohne das Parlament auskam, und jedesmal, wenn alles sich schon über den Absolutismus freute, ordnete die Krone an, daß nun doch wieder parlamentarisch regiert werden müsse. (Musil 2016a, 49)

Doch gab es diesen Notstandsparagraphen (Art. 14. des Gesetzes über die Reichsvertretung) eben nur in den im Reichsrat vertretenen Königreichen und Ländern, also in „Cisleithanien“ – aber nicht in Ungarn! (Vgl. Stourzh 1991, 64) Wie auch immer – das Kakanien-Kapitel und spätere Teile des Buches, die sich mit Problemen des kollektiven Bewusstseins in jenem eigentümlichen Staatswesen befassten, sind nicht die Frucht essayistischer Schnellschüsse, sondern Ergebnisse eines komplexen und langwierigen Formulierungsprozesses, in dem es stets darum ging, auf den jeweiligen Sachverhalt passende Beschreibungen zu finden. Musil war ein hervorragender Kenner jener untergegangenen Welt. Er wusste daher sehr gut, worüber er schrieb.

Es bleibt eine wesentliche, von Stourzh bereits angedeutete Unschärfe: Bei Musil gibt es nur ein Kakanien. Es waren aber in Wahrheit zwei: die österreichisch-ungarische Monarchie, die nach außen einheitlich auftrat (wenigstens prinzipiell, nicht immer) und deren Institutionen mit dem Kürzel „k.u.k.“ versehen waren (der Hof, die gemeinsame Armee, das gemeinsame diplomatische Corps waren „kaiserlich und königlich“), und der westliche Teil dieser Monarchie, „die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder“, deren Institutionen mit „k.k.“ (kaiserlich-königlich) abgekürzt wurden. Musil widmet sich zumeist dieser Ländergruppe, die seit 1915 auch offiziell „Österreich“ hieß, thematisiert aber in verschiedenen Abschnitten auch das Gemeinsame (oder nicht Gemeinsame) der gemeinsamen Monarchie.

Die Entwicklung von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur der Habsburgermonarchie in jenen knappen sieben Dekaden zwischen 1849 und 1918 ist in den letzten Jahrzehnten zu einem bevorzugten Forschungsgegenstand zahlreicher Historiker geworden. Ich erwähne hier vor allem das vielbändige Werk Die Habsburgermonarchie 1848–1918, das von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben wurde und wird (vgl. Wandruszka/Urbanitsch 1973–1993 bzw. Rumpler/ Urbanitsch 2000 ff.). Einen neuen Interpretationsversuch legte Pieter Judson (2017) vor. Und so weiter. Wir wollen uns nun einigen Aspekten der historischen kakanischen „Realität“ (die ja immer nur in Anführungszeichen möglich ist) und ihren Musil’schen Brechungen zuwenden.

Schwarz-gelb und Rot-weiß-grün

Im Kapitel 42 des Mann ohne Eigenschaften thematisiert Musil das österreichischungarische „Staatsgefühl“:

Dieses österreichisch-ungarische Staatsgefühl war ein so sonderbar gebautes Wesen, daß es fast vergeblich erscheinen muß, es einem zu erklären, der es nicht selbst erlebt hat. Es bestand nicht etwa aus einem österreichischen und einem ungarischen Teil, die sich, wie man dann glauben könnte, ergänzten, sondern es bestand aus einem Ganzen und einem Teil, nämlich aus einem ungarischen und einem österreichisch-ungarischen Staatsgefühl, und dieses zweite war in Österreich zu Hause, wodurch das österreichische Staatsgefühl eigentlich vaterlandslos war. Der Österreicher kam nur in Ungarn vor, und dort als Abneigung; daheim nannte er sich einen Staatsangehörigen der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder der österreichisch-ungarischen Monarchie, was das gleiche bedeutet wie einen Österreicher mehr einem Ungarn weniger diesen Ungarn, und er tat das nicht etwa mit Begeisterung, sondern einer Idee zuliebe, die ihm zuwider war, denn er konnte die Ungarn ebensowenig leiden wie die Ungarn ihn, wodurch der Zusammenhang noch verwickelter wurde. Viele nannten sich deshalb einfach einen Tschechen, Polen, Slowenen oder Deutschen, und damit begann jener weitere Zerfall und jene bekannten „unliebsamen Erscheinungen innenpolitischer Natur“, wie sie Graf Leinsdorf nannte, die nach ihm „das Werk unverantwortlicher, unreifer, sensationslüsterner Elemente“ waren, die in der politisch zu wenig geschulten Masse der Bewohner nicht die nötige Zurückweisung fanden. (Musil 2016a, 269 f.)

Und, nach der Versicherung, der Autor wolle kein Historienbild malen (wir haben oben darauf hingewiesen!), verweist er darauf,

[…] daß die Geheimnisse des Dualismus (so lautete der Fachausdruck) mindestens ebenso schwer einzusehen waren wie die der Trinität; denn mehr oder minder überall gleicht der historische Prozeß einem juridischen mit hundert Klauseln, Anhängseln, Vergleichen und Verwahrungen, und nur darauf sollte die Aufmerksamkeit gelenkt werden. Ahnungslos lebt und stirbt der gewöhnliche Mensch zwischen ihnen, aber ganz und gar zu seinem Heil, denn wenn er sich darüber Rechenschaft geben wollte, in was für einen Prozeß, mit welchen Anwälten, Spesen und Motiven er verstrickt ist, könnte ihn wahrscheinlich in jedem Staat der Verfolgungswahnsinn packen. (Musil 2016a, 270 f.)

Ja, so gemein konnte Musil sein – zuerst macht er uns neugierig, wie es mit diesem „Staatsgefühl“ wirklich aussah, dann flüchtet er sich in seine glänzende Ironie. Und wir stehen da und wissen wieder nichts. Tatsächlich gab es ja damals noch keine entwickelte Sozialforschung, und anders als im späten 20. Jahrhundert haben wir keine Ergebnisse von Umfragen über österreichisches, ungarisches oder gar österreichisch-ungarisches Staats-oder Nationalbewusstsein. Wir können daher nur in der überreichen damaligen Publizistik oder in den zahllosen seither erschienenen Büchern nachlesen, was es zu diesem Thema alles gibt, und das ist in der Tat sehr viel. Eine recht präzise Zusammenfassung bietet Gerald Stourzh in dem von uns schon eingangs zitierten Aufsatz. Danach gab es für praktisch alle Ungarn, die ein „Staatsgefühl“ hatten, immer nur Ungarn als Gegenstand ihrer Identifikation und Verehrung. Auf Grund einer verwickelten Vorgeschichte musste dieses heilige Ungarn 1867 einen König akzeptieren, dessen Armee noch 1849 gemeinsam mit den Russen die freiheitsliebenden Ungarn niedergezwungen hatte. Nachdem jener aber einige Kriege verloren hatte, musste er sich zu Verhandlungen mit den Ungarn bequemen, die zum so genannten „Ausgleich“ führten, worauf ihn die Ungarn krönen ließen und weiterhin als legitimen König akzeptierten. Dass dieser König daneben auch noch Kaiser von Österreich war und neben Ungarn noch eine Reihe anderer Königreiche und Länder regierte, konnte man vernachlässigen, viel schlimmer für den ungarischen Nationalstolz war aber die Tatsache, dass man im „Ausgleich“ einige mit jenen Ländern gemeinsame Institutionen zugestanden hatte, etwa eine gemeinsame Außenpolitik und eine gemeinsame Armee. Diese Gemeinsamkeiten zu reduzieren oder ganz zu beseitigen, war seit 1867 das Ziel der leidenschaftlichsten Ungarn, die sich gerade deswegen bei Wahlen auch immer mehr durchsetzten.1

Der Frage des kollektiven Bewusstseins in Kakanien widmet sich Musil auch in einem weiteren Kapitel (Nr. 98) mit dem schönen Titel ,Aus einem Staat, der an einem Sprachfehler zugrundegegangen ist‘:

Man tut heute so, als ob der Nationalismus lediglich eine Erfindung der Armeelieferanten wäre, aber man sollte es auch einmal mit einer erweiterten Erklärung versuchen, und zu einer solchen lieferte Kakanien einen wichtigen Beitrag. Die Bewohner dieser kaiserlich und königlichen kaiserlich königlichen Doppelmonarchie fanden sich vor eine schwere Aufgabe gestellt; sie hatten sich als kaiserlich und königlich österreichisch-ungarische Patrioten zu fühlen, zugleich aber auch als königlich ungarische oder kaiserlich königliche österreichische. Ihr begreiflicher Wahrspruch angesichts solcher Schwierigkeiten war „Mit vereinten Kräften!“ Das hieß viribus unitis. Die Österreicher brauchten aber dazu weit größere Kräfte als die Ungarn. Denn die Ungarn waren zuerst und zuletzt nur Ungarn, und bloß nebenbei galten sie bei anderen Leuten, die ihre Sprache nicht verstanden, auch für Österreich-Ungarn; die Österreicher dagegen waren zuerst und ursprünglich nichts und sollten sich nach Ansicht ihrer Oberen gleich als Österreich-Ungarn oder Österreicher-Ungarn fühlen, – es gab nicht einmal ein richtiges Wort dafür. Es gab auch Österreich nicht. Die beiden Teile, Ungarn und Österreich paßten zu einander wie eine rot-weiß-grüne Jacke zu einer schwarz-gelben Hose; die Jacke war ein Stück für sich, die Hose aber war der Rest eines nicht mehr bestehenden schwarz-gelben Anzugs, der im Jahre achtzehnhundertsiebenundsechzig zertrennt worden war. Die Hose Österreich hieß seither in der amtlichen Sprache „Die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder“, was natürlich gar nichts bedeutete und ein Name aus Namen war, denn auch diese Königreiche, zum Beispiel die ganz Shakespeareschen Königreiche Lodomerien und Illyrien gab es längst nicht mehr und hatte es schon damals nicht mehr gegeben, als noch ein ganzer schwarz-gelber Anzug vorhanden war. Fragte man darum einen Österreicher, was er sei, so konnte er natürlich nicht antworten: Ich bin einer aus den im Reichsrate vertretenen Königreichen und Ländern, die es nicht gibt, – und er zog es schon aus diesem Grunde vor, zu sagen: Ich bin ein Pole, Tscheche, Italiener, Friauler, Ladiner, Slowene, Kroate, Serbe, Slowake, Ruthene oder Wallache, und das war der sogenannte Nationalismus. Man stelle sich ein Eichhörnchen vor, das nicht weiß, ob es ein Eichhorn oder eine Eichkatze ist, ein Wesen, das keinen Begriff von sich hat, so wird man verstehen, daß es unter Umständen vor seinem eigenen Schwanz eine heillose Angst bekommen kann; in solchem Verhältnis zu einander befanden sich aber die Kakanier und betrachteten sich mit dem panischen Schrecken von Gliedern, die einander mit vereinten Kräften hindern, etwas zu sein. Seit Bestehen der Erde ist noch kein Wesen an einem Sprachfehler gestorben, aber man muß wohl hinzufügen, der österreichischen und ungarischen österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie widerfuhr es trotzdem, daß sie an ihrer Unaussprechlichkeit zugrunde gegangen ist. (Musil 2016b, 218–220)

Die rot-weiß-grüne Jacke und die schwarz-gelbe Hose bieten ein schönes Bild für das Unvereinbare, das in der Habsburgermonarchie zusammengefügt war – es passte schon ästhetisch nicht zusammen. Würde man nach den Gründen dieser Unvereinbarkeit suchen, dann müsste man wohl ein paar weitere Musil’sche Paradoxien finden: Der österreichische Teil war kleiner als der ungarische – aber er war reicher bevölkert und wirtschaftlich höher entwickelt. Die Österreicher zahlten daher auch mehr als die Ungarn zu den gemeinsamen Angelegenheiten – aber die Ungarn waren darüber keineswegs froh, sondern wollten eigentlich möglichst gar nichts Gemeinsames, vor allem forderten sie beharrlich eine eigene, von der österreichischen getrennte Armee. Die Ungarn profitierten vom Wiener Kapital, das die ungarische Industrialisierung finanzierte (Komlos 1986, 77–136) – aber gleichzeitig nannten sie es mit Abscheu „fremdes“, ausländisches Kapital. Sie fühlten sich von Wien furchtbar ausgebeutet – aber die Geschlossenheit der ungarischen Eliten verschaffte ihnen bei Verhandlungen mit den Wiener Regierungen immer erhebliche Vorteile, so dass sie immer wieder ihre Wünsche und Forderungen durchsetzen konnten. Dabei ging es stets um die Anerkennung der selbstständigen ungarischen Staatlichkeit nach außen, was sich durch die eigene Unterschrift ungarischer (und österreichischer) neben den gemeinsamen Ministern in internationalen Verträgen äußerte (vgl. Stourzh 20002).

Zur faktischen Unvereinbarkeit Ungarns mit den westlichen Kronländern der Monarchie hat Alphons Lhotsky eine sehr kluge Beobachtung beigesteuert (vgl. Lhotsky 19683). Er verwies auf einen Aufsatz von Otto Hintze, der schon vor Jahrzehnten auf einen grundlegenden Unterschied zwischen den aus dem Karolingerreich entstandenen kontinentalen europäischen Staaten und den ringsumher liegenden „Randstaaten“ wie England, Schweden, Polen oder Ungarn hingewiesen hatte (vgl. Hintze 1929). In diesen „Randstaaten“ hatte sich nicht der karolingische Feudalismus durchgesetzt, sondern eine andere Staatsauffassung erhalten, die vor allem durch eine sehr starke Position des Adels und ein Fortbestehen der adeligen Selbstverwaltung in den regionalen Einheiten (Grafschaften, Komitaten) bis ins 19. Jahrhundert gekennzeichnet gewesen sei. Tatsächlich blieb in Ungarn eine große Zahl von Adeligen bestehen, in einem viel höheren Prozentsatz als in den westlichen Kronländern. Die westlichen Länder der Habsburger waren hingegen alle einmal Teil des Frankenreichs gewesen und hatten die kontinentaleuropäische Feudalentwicklung durchgemacht, die auf lange Sicht zu einer starken Reduzierung des Adels und zu seiner funktionellen Ablösung durch eine fürstliche und später staatliche Bürokratie geführt hatte. Dieser grundlegende Unterschied wurde von den Habsburgern bis Maria Theresia wohl nicht analysiert, aber respektiert. Seit Joseph II. war es mit dem Respekt vorbei, der Spätabsolutismus wollte die Ungarn genauso behandeln wie den Rest der Monarchie. Das misslang, einerseits wegen der schieren Größe des historischen Königreiches Ungarn, andererseits wegen des letztlich unüberwindlichen Widerstandes des so zahlreichen kleinen Adels. Der war in den ungarischen Zentrallandschaften konfessionell zu allem Überfluss außerdem dominant nicht katholisch, sondern primär calvinisch orientiert (vgl. Lhotsky 1968, 436).

Die Ungarn konnten 1867 einen magyarisch dominierten liberalen Einheitsstaat entwickeln, während „Österreich“ zwar zentralistisch blieb, aber dennoch auch etwas Föderalismus zuließ, samt dem Versprechen, dass die einzelnen „Volksstämme“ ihre Nationalität und Sprache pflegen dürften, und so weiter (vgl. dazu eine breit gefächerte Literatur, zusammengefasst etwa bei Bruckmüller 1996, bes. 237–316). Sie hatten daher auch die Chance, Schulen in ihren Muttersprachen zu besuchen, die Polen (Lemberg und Krakau) und Tschechen (Prag und zwei technische Hochschulen in Prag und Brünn) erhielten auch Hochschulen bzw. Universitäten in ihren Muttersprachen. Die „Österreicher“ wurden zwar nicht unter diesem Namen gerufen, aber sie hatten doch eine gemeinsame österreichische Staatsbürgerschaft, ebenso wie die Ungarn eine eigene ungarische Staatsbürgerschaft hatten. Die Ungarn sahen die Österreicher immer als Ausländer an, während das umgekehrt nicht im selben Ausmaß der Fall war. Man muss jedoch anmerken, dass männliche österreichische und ungarische Staatsbürger bei der gemeinsamen Armee bzw. bei den beiden gliedstaatlichen Teilarmeen, den ungarischen Honvéd bzw. bei der österreichischen Landwehr, nicht nur wehrpflichtig waren, sondern auch in der Reserve in Evidenz zu halten waren, für den Fall einer Mobilisierung. Das heißt aber, dass männliche Österreicher bzw. Ungarn im wehrpflichtigen Alter im jeweils anderen Land anders evident gehalten werden mussten als „normale“ Ausländer.4

Noch eine Bemerkung zu den „Shakespeareschen Königreichen“ Lodomerien und Illyrien. Lodomerien hat es tatsächlich nie gegeben, man hatte es zu dem ebenso künstlichen „Galizien“ dazu erfunden, das ja bis 1772 ein Teil Polens war und dann habsburgisch wurde. Beide Namen verweisen auf mittelalterliche russische Fürstentümer (Halycz und Vladimir), die sich irgendwann in den ungarischen Königstitel verirrt hatten. Anders Illyrien: Das gab es staatsrechtlich schon, es wurde in den 1820er Jahren quasi in Nachfolge der Illyrischen Provinzen Frankreichs (1808–1814) geschaffen. Tatsächlich bestand es aus einigen getrennt verwalteten Teilen, mit Statthaltereien (Gubernien) in Laibach/Ljubljana (für Kärnten und Krain) und Triest (für das Küstenland), aber ohne irgendetwas sonstiges Gemeinsames. 1848 verschwand „Illyrien“ wieder von den Landkarten, ohne je ein eigenes staatsrechtliches Leben entwickelt zu haben (vgl. Haas 1958).

Da man „Österreicher“ nicht sagen durfte (diese Bezeichnung war reserviert nur für die Ober- und Niederösterreicher!), sollte, laut Musil, die kollektive Selbstbezeichnung nach den „Volksstämmen“ (so der Legal-Terminus) ihren Siegeszug angetreten haben. Nun, so einfach war das natürlich nicht. Die Musil’sche Freude an ironischen Formulierungen führt uns hier in die Irre – der Nationsbildungsprozess der „österreichischen“ Nationen war doch ein wenig komplizierter (vgl. Bruckmüller 1996, 237–275). Gar nicht erwähnt Musil die Kronländer, Königreiche, Herzogtümer oder was auch immer. Das ist befremdlich, weil die ihnen nachfolgenden Bundesländer im heutigen Österreich ja ein äußerst kräftiges Selbstbewusstsein entwickelten (vgl. ebd., 155–199). Aber gegen Ende der Monarchie, im ersten Jahrzehnt der 20. Jahrhunderts, war, wie dies Karl Renner 1917 formulierte, tatsächlich bereits „die Nation […] an die Stelle des Landes getreten […]“ (zit. nach Stourzh 1991, 66).5

Musil hat also in seiner ironischen Darstellung die staatsrechtlichen und gefühlsmäßigen Realitäten immer wieder – aber doch nicht immer! – in geschickten Formulierungen treffend umrissen. Dass die „Österreicher“ „keinen Begriff von sich hatten“, war wohl die Folge der österreichischen Staatstheorie der gemeinsamen Doppelmonarchie, die neben Ungarn die anderen (im Reichsrat vertretenen) Königreiche und Länder möglichst nicht als eigenen Staat auffassen wollte, sondern alle diese Länder ebenso wie Ungarn als Teile einer dritten Staatlichkeit, des (k. u. k.) „Über-Staates“ österreichisch-ungarische Monarchie ansahen, und diesem galt, soweit vorhanden, der Patriotismus der Bewohner der „österreichischen Reichshälfte“. Dass die Ungarn diese Staatstheorie ebenso vehement ablehnten, ist heute in Österreich weitgehend unbekannt. Für die nationalistischen unter ihnen (und das waren fast alle politisch Interessierten) gab es eben nur einen ungarischen Staat, der mit den übrigen (belanglosen) Territorien des ungarischen Königs in einem gewissen, nach Möglichkeit immer weiter zu lockernden Verhältnis stand. Der gemeinsame Kriegsminister stand nach dieser Auffassung nicht über den Regierungen in Wien und Budapest, sondern das Kriegsministerium war das gemeinsame Ministerium der ansonsten ganz „fremd“ nebeneinander bestehenden Staaten Ungarn und „Habsburgs nichtungarischer Rest“. Musil vertrat dagegen, wir haben oben schon darauf hingewiesen, bewusst oder unbewusst den „österreichischen“ Standpunkt einer gemeinsamen Staatlichkeit (vgl. Stourzh 1991, passim)

Gehemmte Modernisierung oder europäische „Normalität“?

Der Kakanien-Abschnitt im Mann ohne Eigenschaften vermittelt den Eindruck einer etwas gebremsten Modernisierung und einer nur moderaten Wirtschaftsentwicklung:

Dort, in Kakanien, […] gab es auch Tempo, aber nicht zuviel Tempo. So oft man in der Fremde an dieses Land dachte, schwebte vor den Augen die Erinnerung an die weißen, breiten, wohlhabenden Straßen aus der Zeit der Fußmärsche und Extraposten, die es nach allen Richtungen wie Flüsse der Ordnung, wie Bänder aus hellem Soldatenzwillich durchzogen und die Länder mit dem papierweißen Arm der Verwaltung umschlangen. […] Natürlich rollten auf diesen Straßen auch Automobile; aber nicht zuviel Automobile! Man bereitete die Eroberung der Luft vor, auch hier; aber nicht zu intensiv. Man ließ hie und da ein Schiff nach Südamerika oder Ostasien fahren; aber nicht zu oft. […] Man gab Unsummen für das Heer aus; aber doch nur gerade so viel, daß man sicher die zweitschwächste der Großmächte blieb. Auch die Hauptstadt war um einiges kleiner als alle andern größten Städte der Welt, aber doch um ein Erkleckliches größer, als es bloß Großstädte sind. (Musil 2016a, 47 f.)

Um gleich beim Letzten zu beginnen: Wien war um 1905 die viertgrößte Stadt Europas, nach London, Paris und Berlin, und die fünftgrößte der Welt – an der Spitze lag New York. Den fünften Platz teilte sich Wien übrigens mit Chicago (Hickmans Universal-Taschen-Atlas 1905, 25: Berlin: 2 Millionen, mit Vororten 2,85 Millionen; 31: Paris: 2,72 Millionen; 33: London: 4,6 Millionen; 39: Wien 1,88 Millionen; 63: New York: 3,72 Millionen; Grafik- und Kartenteil 25). Auf dem Kontinent lag Wien damals am dritten Platz. Die Musil-Lektüre vermittelt hier doch einen etwas „kleineren“ Eindruck. Vielleicht hat sich da während des Schreibens in den 1920er Jahren die inzwischen erfolgte Reduktion der früheren Reichshaupt- und Residenzstadt ausgewirkt?

Nun zur Wirtschaft und zu den Heeresausgaben. Mit der Wirtschaftsgeschichte der Habsburgermonarchie hat sich in den letzten Jahrzehnten eine ganze Reihe von Historikern beschäftigt. Ich erwähne hier nur Gerschenkron (1988), März (1968), Good (1984), Komlos (1986), Sandgruber (1995), Rudolph (1976), Matis (1972)6sowie, speziell für Ungarn, Berend/Ránki (1973).

Sie stimmen soweit überein, dass

– die Habsburgermonarchie aus wirtschaftlich sehr unterschiedlichen Regionen mit unterschiedlichen Wachstumschancen bestanden, unter denen die böhmischen Länder (heute: Tschechische Republik) und (danach) die heutigen österreichischen Länder sich rascher entwickelten als andere;

– das stetige Wachstum (= Industrialisierung) um etwa 1825/30 eingesetzt habe, aber eine eindeutige „take-off“-Phase (wie in Großbritannien oder in Preußen) nicht nachweisbar sei;

– die Wachstumsraten bis um 1870 hinter dem Durchschnitt Europas lagen, dass jedoch danach ein Aufholprozess stattgefunden habe, der in Ungarn besonders stark ausgeprägt war. Die westliche Reichshälfte („Cisleithanien“) habe vor 1914 ein Pro-Kopf-Einkommen erreicht, das knapp unter dem Italiens, aber vor Spanien und Russland lag;

– man daher das Wachstumsmuster der Habsburgermonarchie weder mit England noch mit Preußen vergleichen könne, als vielmehr mit Frankreich, das einen ähnlichen, langsamen aber dauerhaften Modernisierungsprozess durchlief (vgl. Matis 1991, 113).

Der Eindruck, den Musils Kakanien-Kapitel im Hinblick auf die ökonomische Modernisierung bietet, widerspricht – alles in allem genommen – den Ergebnissen der wirtschaftshistorischen Forschung nicht. Das ,stimmt‘ auch in besonderer Weise für die Armee-Ausgaben. Musil spricht davon, dass man zwar Unsummen für die Armee ausgab, aber doch die zweitschwächste der Großmächte blieb. Im europäischen Vergleich lagen vor dem Ersten Weltkrieg die Staatsausgaben in absoluten Zahlen im Deutschen Reich am höchsten, gefolgt von Russland, Großbritannien, Frankreich und Österreich-Ungarn, pro Kopf lag Österreich-Ungarn hinter Deutschland, Großbritannien und Frankreich, auch hinter der Schweiz, aber noch vor Russland. Österreich-Ungarn hatte hohe Kosten für die Bedienung der Staatsschuld zu tragen (21 % der Gesamtausgaben) – die Folgen früherer kriegerischer Engagements (vgl. Hickmans 1905, 29). In der Heeresstärke im Frieden lag Österreich-Ungarn gemeinsam mit Großbritannien an vierter Stelle (hinter Russland, dem Deutschen Reich und Frankreich), im Kriegsfall konnte Kakanien aber erheblich mehr Mannschaften mobilisieren als Großbritannien – das dafür auf dem Meer als unschlagbar galt (203 Panzerschiffe, Österreich-Ungarn: 20). Jedenfalls rangierte Österreich-Ungarn aber überall vor Italien (offensichtlich hat Musil genau dies gemeint) (vgl. ebd., 35).

Nur kurz zum Thema der Überseeaktivitäten, die im Zeitalter des Imperialismus alle europäischen Staaten unternahmen, Kakanien jedoch nur in bescheidenem Maße: „Man ließ hie und da ein Schiff nach Südamerika oder Ostasien fahren; aber nicht zu oft“ – wir denken da sofort an die bekannte Fahrt der Fregatte Novara (1856–59) (vgl. Ortner 2011). Nun hatte Kaiser Franz I. schon 1806 eine ganze Reihe wichtiger Exponate aus der Sammlung von James Cook in London erwerben und nach Wien bringen lassen. Es gab also auch im kontinentalen Wien durchaus ein Interesse an den neuen Erkenntnissen, die sich aus diesen Reisen ergaben – und an den oft pittoresken Details, mit denen man natürlich auch ein wenig prunken konnte. Unbedingt erwähnen muss man in diesem Zusammenhang die Reisen Johann Natterers in Brasilien. Er begleitete 1817 die Kaisertochter Leopoldine auf ihrer Reise nach Brasilien zwecks Verehelichung mit dem brasilianischen Thronfolger Dom Pedro. Die sehr sorgfältig geplante Reise erbrachte etwa 150.000 Objekte, Tiere und noch viel mehr Pflanzen oder geologische Stücke, die nach Wien gelangten und heute noch zu den zentralen Beständen des Naturhistorischen Museums gehören. Natterer blieb 18 Jahre in Brasilien. Er schickte nach Wien: 1.146 Säugetiere, 12.193 Vögel, 32.825 Insekten, 1.729 Gläser mit Eingeweidewürmern, 1.621 Fische und 1.800 Ethnografica (vgl. Riedl-Dorn 2011). Wir könnten auch an die bekannte Ida Pfeiffer denken, diese mutige Weltreisende, die aber privat und nicht im öffentlichen Auftrag unterwegs war.7

Zurück zur Novara. Auch diese Weltumseglung war sehr sorgfältig vorbereitet worden, die Geographische Gesellschaft, die Akademie der Wissenschaften, die Geologische Reichsanstalt, die Gesellschaft der Ärzte und die Zoologisch-Botanische Gesellschaft wirkten mit. Ein eigener Zeichner, Joseph Selleny, von dem überaus zahlreiche schöne Blätter erhalten sind, fuhr mit. Die Novara brachte 26.000 zoologische Exponate mit, 376 ethnographische Stücke, unzählige konservierte organische Dinge usw. Sie befinden sich größtenteils im Naturhistorischen Museum.

Wir denken ferner an die Arktis-Expedition von Peyer und Weyprecht (1872– 1874), die zwar nicht zum Nordpol führte, aber doch sehr weit in den hohen Norden kam und außerdem eine eigene Inselwelt entdeckte – das Franz Josefs-Land (vgl. Rack 2011). 1978 wurde eine Flaschenpost, die Weyprecht 1872 dem Meer übergeben hatte, von einem russischen Forscher entdeckt.

Die Weltreise des Thronfolgers Franz Ferdinand könnte ebenso unter diese Schiffsexpeditionen fallen – auch wenn sie in erster Linie der Gesundung des Erzherzogs diente. 1892/1893 hatte Franz Ferdinand auf ärztlichen Rat mit großem Gefolge eine Weltreise auf einem Kriegsschiff der österreichisch-ungarischen Marine unternommen. Man erklärte die Reise zur wissenschaftlichen Expedition, um so den wahren Zweck der Reise in den Hintergrund zu rücken. Die Reise führte von Triest nach Indien, Indonesien, Australien, Japan, Kanada und Nordamerika. Sie war auch als Sammlungsunternehmung so erfolgreich, dass sie die Grundlage für das heutige Wiener Weltmuseum bot. 14.000 ethnologische Objekte dieser Reise befinden sich heute noch dort. – Genug damit!

Bürger oder nicht Bürger:

Staatsbürgerschaft und Heimatberechtigung

Wie sieht es aus mit den staatsbürgerlichen Rechten? Musil widmet dieser Frage genau einen merkwürdigen Satz: „Vor dem Gesetz waren alle Bürger gleich, aber nicht alle waren eben Bürger.“ (Musil 2016a, 49)

Kann man das so stehen lassen? Es bestand seit dem Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch 1812 eine „österreichische Staatsbürgerschaft“ für alle Menschen in jenen Ländern, in denen dieses Gesetzbuch galt (also nicht in Ungarn!). Im Neoabsolutismus kam mit der Einführung des ABGB die gemeinsame Staatsbürgerschaft auch für Ungarn.

Mit dem Staatsgrundgesetz von 1867 wurde die Sache getrennt, und war nun eindeutig: Die Bewohner der „im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder“ hatten alle die österreichische Staatsbürgerschaft. Sie waren also staatsbürgerschaftlich „Österreicher“. Aber was soll der Nebensatz heißen, dass eben nicht alle Bürger waren? Spielt er vielleicht auf adlige Privilegien an, auf die Ungleichheit der Kaiserfamilie (sie unterstand ausschließlich der Gerichtsbarkeit des Kaisers!)? Wir wissen es nicht. Möglich wäre, dass Musil auf ein anderes, gesellschaftlich allerdings brennendes Problem verweist: das Heimatrecht bzw. die Zuständigkeit.

Heimatrecht und Staatsbürgerschaft hingen nämlich eng zusammen: Nur österreichische Staatsbürger hatten das Heimatrecht, und nur wer irgendwo im Kaiserstaat heimatberechtigt ist, konnte auch österreichischer Staatsbürger sein. Die leibliche Abstammung von einem Gemeindemitglied begründete die Heimatberechtigung, auch die Verehelichung – Frauen folgten hier dem Mann. Heimatberechtigung erlangten auch öffentliche Beamte an ihren Dienstorten. Die Gemeinden konnten die Aufnahme in den Gemeindeverband auch ausdrücklich aussprechen – was sie vermutlich ganz gern bei eher vermögenden Leuten machten. Der Status des Staatsbürgers war also engstens mit der Heimatberechtigung in einer bestimmten österreichischen Gemeinde verbunden:

Die im § 2 des Heimatsgesetzes 6/XII/63 R. (=Reichsgesetzblatt) 105 zum Ausdrucke gebrachte Wechselbeziehung des Heimatsrechtes und des Rechtes der Staatsbürgerschaft bringt es jedoch mit sich, daß nur eine in einer Gemeinde des Staates heimatsberechtigte Person Subject des Rechtes der Staatsbürgerschaft sein kann, sowie andererseits nur österr. Staatsbürger das Heimatsrecht in einer inländischen Gemeinde erlangen können. (Pražák 1897, 1067)

Damit der Sachverhalt nicht zu einfach ist, unterschied man zwischen „Gemeindeangehörigen“, denen das Heimatsrecht zustand, und „Gemeindegenossen“, die in der Gemeinde ein Gewerbe ausübten oder ein Grundstück besaßen, aber nicht heimatberechtigt waren. Beide Kategorien zusammen waren die „Gemeindemitglieder“. Wahlberechtigt in der Gemeinde waren beide Kategorien, aber nur die Heimatberechtigten konnten ohne Rücksicht auf ihre Steuerleistung dann in einem höheren Wahlkörper wählen, wenn sie eine höhere Bildung genossen oder aber ein öffentliches Amt bekleidet hatten (vgl. Blodig 1896, 72 und 75)

Das Heimatrecht verleiht das Recht auf ungestörten Aufenthalt. Im Prinzip konnte man ja seit den Staatsgrundgesetzen 1867 allerorten leben und wohnen, wie es einem beliebte, Arbeit suchen usw. Ein Problem tat sich auf bei Arbeitslosigkeit und folgender Armut, oder bei Armut infolge einer dauerhaften Erkrankung. Da es keine Arbeitslosenversicherung gab und die Unfall- und Krankenversicherung bis 1888 höchst rudimentär ausgebildet war, stellte sich die Frage, wer solche Personen zu erhalten hatte: Das war nun nur die Gemeinde, in der die betreffende Person heimatberechtigt war! Diese Verbindung von Heimatrecht und ,Armenpflege‘ geht schon auf das 16. Jahrhundert zurück, auf die Polizeiordnung Ferdinands I. aus dem Jahre 1555 (vgl. Mischler 1895, 65)8. Die Zuständigkeit zur Heimatgemeinde wurde also ausgerechnet dann schlagend, wenn der Staatsbürger (die Staatsbürgerin) sich woanders als an diesem Heimatort aufhielt und dabei das Pech hatte, zu erkranken, invalid, alt und arbeitsunfähig zu werden. Das hatte zur Folge, dass man im Verarmungsfalle in seine Heimatgemeinde abgeschoben wurde, die man vor Jahren oder Jahrzehnten verlassen hatte, weil es dort keine ausreichenden Erwerbsmöglichkeiten gab. Das Schubwesen war daher ein ständiger Diskussionspunkt in Politik und Verwaltung der späten Habsburgermonarchie (vgl. Mischler 1896). Solange es keine ausreichende Sozialversicherung gab, konnte sich die Aufenthaltsgemeinde ihrer Verpflichtung zur sozialen Fürsorge (so seit der Ersten Republik) mit der Abschiebung der Armen entziehen und sie ihren meist sowieso armen Herkunftsgemeinden überlassen. Erst 1896 hat die Gesetzgebung diese vollkommen unzureichenden Grundlagen der Gemeindearmenpflege insofern geändert, als bei längerem Aufenthalt außerhalb der Heimatgemeinde nicht mehr diese, sondern die neue Aufenthaltsgemeinde, meist eine größere Stadt oder eine Industriegemeinde, zur Armenpflege verpflichtet wurde (vgl. Hornek 1917). Man kann darin eine langsame Überwindung der Verbindung von Staatsbürgerschaft und Heimatberechtigung sehen, durch welche die faktische Begrenzung des Bürger-Status schließlich aufgehoben wurde. Reste davon blieben noch bis in die Zweite Republik erhalten. Erst 1955 ersetzte der „Staatsbürgerschaftsnachweis“ den „Auszug aus der Heimatrolle“ (vgl. Rauchenberg 1893). Also, um auf Musil zurückzukommen – es gab eine gemeinsame Staatsbürgerschaft (alle waren schon Bürger!), aber zum Unterhalt von verarmten und arbeitsunfähigen Menschen waren weder der Staat noch ein Land, noch auch die Aufenthaltsgemeinde verpflichtet, sondern die Herkunftsgemeinde. Und dieses Recht auf Abschiebung (für die Wohngemeinde) bzw. die Pflicht zu Aufnahme und Pflege (durch die Zuständigkeitsgemeinde) bedeutete tatsächlich eine Einschränkung der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz: Wurde in Wien ein in Wien zuständiger Mensch arbeitslos, krank und erwerbsunfähig, dann hatte die wohlhabende Gemeinde Wien seinen Unterhalt zu sichern; wurde in Wien ein in Wien nicht zuständiger Mensch erwerbsunfähig, wurde er in seine womöglich in Böhmen, Galizien oder Dalmatien liegende – meist arme – Zuständigkeitsgemeinde abgeschoben. Da die Zuständigkeit auch erheiratet wurde, konnte es einer Wiener Witwe passieren, dass sie nach dem Tod ihres Mannes in dessen Heimatgemeinde abgeschoben wurde, wo sie keinen Menschen kannte und oft nicht einmal die Sprache der dortigen Menschen verstand. Mit dem Wachstum der Städte und Industriezonen wuchs das Problem (vgl. Blodig 1896). Gelöst wurde es erst in der Republik.

Verfassung und Verwaltung

Es war nach seiner Verfassung liberal, aber es wurde klerikal regiert. Es wurde klerikal regiert, aber man lebte freisinnig. Vor dem Gesetz waren alle Bürger gleich, aber nicht alle waren eben Bürger. Man hatte ein Parlament, welches so gewaltigen Gebrauch von seiner Freiheit machte, daß man es gewöhnlich geschlossen hielt; aber man hatte auch einen Notstandsparagraphen, mit dessen Hilfe man ohne das Parlament auskam, und jedesmal, wenn alles sich schon über den Absolutismus freute, ordnete die Krone an, daß nun doch wieder parlamentarisch regiert werden müsse. Solcher Geschehnisse gab es viele in diesem Staat, und zu ihnen gehörten auch jene nationalen Kämpfe, die mit Recht die Neugierde Europas auf sich zogen und heute ganz falsch dargestellt werden. Sie waren so heftig, daß ihretwegen die Staatsmaschine mehrmals im Jahr stockte und stillstand, aber in den Zwischenzeiten und Staatspausen kam man ausgezeichnet miteinander aus und tat, als ob nichts gewesen wäre. (Musil 2016a, 49 f.)

Die Musil’sche Ironie bedient sich in genialer Weise diverser Paradoxien: liberale Verfassung – klerikale Regierung; klerikale Regierung – freisinniges Leben, willkommener Absolutismus – Parlamentarismus. Es würde viel zu weit führen, wollte man dem allen ,historisch‘ nachgehen. Außerdem können literarische Topoi wohl kaum als ,historische‘ Aussagen gelten – dennoch sind sie in ihren Verkürzungen enorm anregend im Hinblick auf weitere Nachfragen. Etwa die nach einer ,klerikalen‘ Regierung Kakaniens: In Ungarn war jedenfalls davon keine Rede, das ungarische Rechtssystem stellte sukzessive alle Religionen und Konfessionen gleich, alle ungarischen Regierungen waren in ihrer Distanz zur (katholischen) Kirche jedenfalls nach damaligen Maßstäben ,liberal‘ (obwohl sie dies keineswegs gegenüber den nichtmagyarischen Minderheiten waren). Aber auch in Österreich waren von 1867 bis 1879 liberale Regierungen am Werk, die die bisher unbestrittene Dominanz der katholischen Kirche kräftig zurückstutzten. Das änderte sich ein wenig unter dem Ministerpräsidenten Taaffe (1879–1893), in dessen Eisernem Ring die katholischkonservativen Parteien der Alpenländer eine wichtige Rolle spielten. Man hat jetzt auch die Klagen der Kapläne erhört, die über ihre karge ,Kongrua‘ (Entlohnung der Priester aus den Religionsfonds) jammerten. Aber richtig ,klerikal‘ waren weder Taaffe noch die meisten seiner Minister. Hingegen hielt der Kaiser streng an seinem Glauben fest. In der Regel waren auch die hohen Beamten alte oder neue ,Josephiner‘, zweifellos waren nur die wenigsten ,klerikal‘. Das änderte sich ab dem Aufkommen von Massenparteien, die mit dem neuen politischen Katholizismus verbunden waren, etwa den oberösterreichischen, steirischen oder salzburgischen Konservativen. Diese vertraten in der Regel in strittigen Fragen die Positionen der Bischöfe. Aber erst im 20. Jahrhundert wurde ein Mann aus diesen Parteien, der Oberösterreicher Ebenhoch, für kurze Zeit Minister. Ob die jüngeren Christlichsozialen, die nacheinander Vorarlberg, Tirol und Niederösterreich (mit Wien) eroberten, wirklich ,klerikal‘ waren? Tatsächlich waren sie eine Koalition, zu der neben protestierenden antisemitischen Kleinbürgern und Bauern auch Kapläne gehörten, aber keine Bischöfe. Das änderte sich grundlegend erst mit der Republik. Aber zweifellos war der Katholizismus zumindest in „Cisleithanien“ die privilegierte Konfession, die auch immer wieder ihr wichtige Positionen erfolgreich verteidigen konnte. Eine Zivilehe wie in Ungarn wurde in Cisleithanien eben nicht eingeführt. Daneben lebten freilich die Menschen zunehmend nach ihrer Fasson, und die wurde immer individualistischer und immer weniger von den Lehren der heiligen Kirche bestimmt – man lebte ,freisinnig‘. – Musils Ironie und seine Neigung zu Paradoxien führen uns in diesem Bereich doch ein wenig in die Irre – allerdings dann wieder nicht, wenn man das ,klerikale‘ Regime nicht in den Regierungen sucht, sondern in der sozialen Praxis etwa des Schulbetriebes, in dem die Verpflichtung zur Teilnahme an Gottesdiensten durchaus etwas Selbstverständliches war.

Denk- und Verhaltensmuster – „österreichischer Charakter“ und „österreichischer Mensch“

[…] nicht nur die Abneigung gegen den Mitbürger war dort bis zum Gemeinschaftsgefühl gesteigert, sondern es nahm auch das Mißtrauen gegen die eigene Person und deren Schicksal den Charakter tiefer Selbstgewißheit an. Man handelte in diesem Land […] immer anders, als man dachte, oder dachte anders, als man handelte. Unkundige Beobachter haben das für Liebenswürdigkeit oder gar für Schwäche des ihrer Meinung nach österreichischen Charakters gehalten. Aber das war falsch […]. Denn ein Landesbewohner hat mindestens neun Charaktere, einen Berufs-, einen National-, einen Staats-, einen Klassen-, einen geographischen, einen Geschlechts-, einen bewußten, einen unbewußten und vielleicht auch einen privaten Charakter […]. (Musil 2016a, 50)

Hier steht nun der Historiker vollkommen an: Diese Beobachtungen und Wertungen („Liebenswürdigkeit oder gar Schwäche…“) kann man sicher alle irgendwie belegen, aus der Literatur oder den Zeitungen, aber auch genauso widerlegen. Immerhin hat das hier zitierte „Mißtrauen“ doch auch noch viel später literarische Spuren hinterlassen, etwa in der Aufforderung zum Mißtrauen, herausgegeben von Breicha/ Fritsch (1967).9 Auch die zitierte „Schwäche“ fand ihre literarische Nachfolge, etwa bei Thomas Bernhard (1993).10 Man muss dabei allerdings bedenken, dass solche Aussagen bei Bernhard vielleicht auch schon bewusste Zitate von Musil’schen Formulierungen gewesen sein können. Der einzige Historiker, der sich – in seiner letzten Arbeit! – mit dieser überaus schwierigen mentalitätsgeschichtlichen Frage auseinandergesetzt hat, war Alphons Lhotsky (wir haben aus diesem Text bereits zitiert).

Historiker meiden im Allgemeinen das glatte Eis einer kollektiven historischen Charakterologie oder Mentalitätsgeschichte, weil man es (erstens) beim Kollektiv „Österreicher“ historisch und gegenwärtig mit einer ungeheuren Menge von Individuen zu tun hat, die (zweitens) in verschiedenen Generations-Kohorten und (drittens) in höchst unterschiedlichen Berufen, familiären, materiellen und Bildungssituationen gelebt haben (und leben). Es ist äußerst fragwürdig, ob dieser höchst unterschiedlichen Ansammlung von Personen aller Altersstufen, von verschiedenem Geschlecht usw. irgendwelche mentale Gemeinsamkeiten eignen sollten. Alphons Lhotsky hat, bei genauerem Hinsehen, den „österreichischen Menschen“ ja auch nicht in der Masse der Bevölkerung gesehen, sondern – Hugo Hassinger zitierend – „einfühlende, verstehende, schmiegsame Kulturmenschen“, „berufene und geschulte Vertreter mitteleuropäischer Vermittlungsarbeit“. Sie sollen, wieder nach Hassinger, unter Staatsmännern, im Adel, in Offiziers- und Beamtenkreisen, in der Geistlichkeit, unter Künstlern, Gelehrten, Kaufleuten und auch in anderen Berufsständen, vorwiegend unter den deutschen, aber auch unter nichtdeutschen Österreichern“ vertreten gewesen sein (Lhotsky 1968, 434). Dieser „österreichische Mensch“ sei, so Lhotsky, das „Ergebnis einer Erziehung besonderer Art, deren Voraussetzung die Übertragung der Repräsentation des Staatsgedankens vom Adel auf die Beamtenschaft und dann auf die Armee gewesen ist“. In diesem Prozess habe die josephinische Geistlichkeit eine wichtige Rolle gespielt, die – nach Joseph II. – „die nächste, die franziszeische Beamtengeneration“ herangezogen habe. Diese Beamten „haben im guten wie oft im minder löblichen Sinne nun auch den ‚österreichischen Menschen‘ möglich gemacht, um nicht zu sagen hervorgebracht“ (ebd.).

Freilich, dieser „österreichische Mensch“, wenn es ihn überhaupt je gegeben hat, war schon 1967, als ihm Alphons Lhotsky jenen ergreifenden Nachruf widmete, tot, und er wird auch niemals wieder zum Leben erweckt werden. Die Aufforderung zum Misstrauen möge als sein Erbe gelten.

Wir wollen unsere fragmentarischen Beobachtungen mit der Frage beenden, ob und in welcher Weise Musils Mann ohne Eigenschaften im Unterricht verwendet werden kann.

Man sollte dies erwägen, schon wegen der sprachlichen und gedanklichen Schulung der Nachkommen, und zweitens wegen der steten Musil’schen Bemühung um die treffendste Beschreibung von Sachverhalten aller Art, freilich immer gebrochen durch seine ironische Darstellungsweise. Nach einer Beobachtung Nicola Mitterers, die sie mir freundlicherweise vor einigen Tagen mündlich mitgeteilt hat, stellte es sich allerdings als untunlich heraus, das Einleitungskapitel (,Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht‘) zu verwenden. Schülerinnen und Schüler reagierten verwundert bis fadisiert auf diesen eigentümlichen Einstieg, der mit einem nur scheinbar präzisen, tatsächlich aber auch schon ironisch gebrochenen und unwahrscheinlichen Wetterbericht beginnt – denn meteorologisch ist gerade diese scheinbar so präzise Darstellung absurd (vgl. Wolf 2011, 266). Freilich fehlt den meisten von uns die nötige physikalische Vorbildung, um diese Absurdität zu erkennen. In den allermeisten Klassen werden wir daher mit dem ersten Kapitel des Mann ohne Eigenschaften kein sehr positives Echo erregen.

Anders das achte, das Kakanien-Kapitel. Es könnte gute Dienste leisten in einer Kooperation zwischen den Fächern „Deutsch“ und „Geschichte und Sozialkunde“ bzw. „Politische Bildung“. Denn in der Tat bietet Musil einen wunderbaren Einstieg in eine Sozialgeschichte der späten Donaumonarchie, deren wichtigste integrative Faktoren hier angesprochen wurden: die Bürokratie, die Armee, in den schönen Bildern vom „papierweißen Arm der Verwaltung“ oder von den Straßen, die wie Flüsse der Ordnung, wie „Bänder aus hellem Soldatenzwillich“ das Reich durchzogen. Auch einige zentrale Paradoxien dieses Staatswesens werden angedeutet: liberale Verfassung, klerikale Regierungsweise, aber doch freisinniges Leben der Bürger (wir haben oben auch die Problematik dieser Zuordnungen diskutiert!). Die Nationalitätenkämpfe. Und mit der Beschreibung der neun verschiedenen Charaktere eines jeden Menschen hat Musil so nebenbei die Rollentheorie der Soziologie literarisch entfaltet (zu Musils Gesellschaftsbeobachtung vgl. Kuzmics/Mozetič 2003). Alle hier genannten „Charaktere“ (oder Rollen) sind wichtig für soziale Gruppenbildung: der Beruf, die nationale ebenso wie die Staatszugehörigkeit (welche eine so unentrinnbare Gruppenzugehörigkeit wie zum Militär, seit der allgemeinen Wehrpflicht von 1868, statuiert), die Klassenzugehörigkeit, regionale Bindungen, Geschlecht.

Musil entwarf darüber hinaus in Ansätzen eine Theorie der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen. Am Anfang des zitierten Kapitels skizziert er, als von ihm selbst so genannte „soziale Zwangsvorstellung“, das Bild einer „Art überamerikanische Stadt“, wo

alles mit der Stoppuhr in der Hand eilt oder stillsteht. Luft und Erde bilden einen Ameisenbau, von den Stockwerken der Verkehrsstraßen durchzogen. Luftzüge, Erdzüge, Untererdzüge, Rohrpostmenschensendungen, Kraftwagenketten rasen horizontal, Schnellaufzüge pumpen vertikal Menschenmassen von einer Verkehrsebene in die andere […]. (Musil 2016a, 45)

Diese für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts recht vertraut klingende Schilderung kann in dem darein verwickelten Zeitgenossen plötzlich das Bedürfnis erwecken:

Aussteigen! Abspringen! Ein Heimweh nach Aufgehaltenwerden, Nichtsichentwickeln, Steckenbleiben, Zurückkehren zu einem Punkt, der vor der falschen Abzweigung liegt! Und in der guten alten Zeit, als es das Kaisertum Österreich noch gab, konnte man in einem solchen Falle den Zug der Zeit verlassen, sich in einen gewöhnlichen Zug einer gewöhnlichen Eisenbahn setzen und in die Heimat zurückfahren. (Musil 2016a, 47)

Das heißt nun auch: Entwicklung, Modernisierung, verstärkte Massenmobilität ist eine Sache der großen Städte, während das Land als eine Zone langsamen Wandels, ja Stillstandes gesehen wird.

Mit diesen knappen Bemerkungen lassen wir’s bewenden. Sonst wird noch ein Roman draus, freilich kein Musil’scher.

Anmerkungen

1 Am schönsten hat die Geschichte Ungarns und ihres überbordenden Nationalbewusstseins im Ausgleichszeitalter Paul Lendvai (2001, 336–368) beschrieben.

2 Besonders 1194–1213: Internationale Verträge wurden häufig und mit zunehmender Tendenz neben dem Außenminister von den zuständigen Ministern der beiden Teilstaaten unterzeichnet – stets auf Forderung Ungarns.

3 Es war der Inhalt von Lhotskys letztem Vortrag im Rahmen des Instituts für Österreichkunde.

4 Zur Wehrpflicht und Heeresergänzung vgl. Wagner 1987, bes. 485–494. – Freilich war die Erfassung der stellungspflichtigen jungen Leute noch nicht so gut durchorganisiert wie später, weshalb das (österreichische) Innenministerium 1892 in einem Erlass an die niederösterreichische Statthalterei den dortigen Ämtern auftrug, die Meldungsvorschriften genauer zu überwachen. Vgl. Reiberger 1896, 721.

5 Zu den Unterschieden zwischen der ungarischen und der österreichischen Staatsauffassung über die „gemeinsame“ Monarchie vgl. sehr ausführlich den schon herangezogenen Band Rumpler/Urbanitsch 2000, wichtig ist hier – neben dem bereits zitierten Stourzh 2000 – insbesondere der überaus genaue Péter 2000.

6 Eine gute, knappe Zusammenfassung bietet Matis 1991.

7 Ida Pfeiffer (1797–1858), Tochter eines Großhändlers, unternahm 1842–1858 fünf große Reisen ohne Begleitung, von denen die letzte nach Madagaskar führte. Vgl. Österreichisches Biographisches Lexikon 1983, 31 f. Ihre Reisen beschrieb sie anerkannten und weit verbreiteten, gut geschriebenen Büchern.

8 Mischler engagierte sich durch viele Jahre sehr intensiv auf diesem Feld der Sozialpolitik, das er häufig und heftig kritisierte, zum Beispiel: „Im allgemeinen hat die Armengesetzgebung in den österr. Ländern keine socialpolitische Bedeutung, indem sie vielfach nur eine Codificierung lange bestehender unzulänglicher Einrichtungen ist; auch sprechen die bisherigen Erfolge auf dem Gebiete der Armenpflege nicht gerade für ihre gesetzlichen Grundlagen.“ (Ebd., 9)

9 Der Titel zitiert eine frühe Arbeit von Ilse Aichinger.

10 „Der Österreicher ist immer ein gescheiterter Mensch, sagte Reger, und er ist sich zutiefst bewußt, daß er das ist. Das ist die Ursache aller seiner Widerwärtigkeiten, seiner Charakterschwäche, denn vor allen anderen Widerwärtigkeiten ist der Österreicher charakterschwach. Das macht ihn aber auch viel interessanter als alle andern, so Reger. Der Österreicher ist tatsächlich der interessanteste Mensche von allen europäischen Menschen, denn er hat von allen anderen europäischen Menschen alles und seine Charakterschwäche dazu […].“ (Bernhard 1993, 244 f.)

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Kakanien oder ka Kakanien?

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