Читать книгу Offenbacher Einladung - Группа авторов - Страница 10
ОглавлениеEine ungewöhnliche Begegnung
Bernd Köstering
D
er stattliche Mann sieht sich um. Ein Park, Bäume, Blumen, dazu blauer Himmel und Frühlingsduft. Dort, ein kleiner Tempel, ein Monopteros, griechische Bauart, das erkennt er sofort. Dann entdeckt er ein Palais, daneben ein viel höheres Gebäude, rund, riesig, eine Form, die er noch nie gesehen hat, fast dem Hauptbau einer Kathedrale ähnelnd. Er fühlt sich heimisch und fremd zugleich an diesem Ort.
»Welch ein seltsam Gefühl da mein Inneres bewohnt!«, murmelt er vor sich hin. »Sind es zwei, die sich erlesen, dass man sie als eines kennt?«
Während er sich noch an dem gleichmäßig gepflasterten Weg erfreut, kommen ihm drei Personen entgegen. Ein Jugendlicher, der eine seltsame Kopfbedeckung trägt, mit einer Art Sonnenschutz versehen, ein Stück des Weges dahinter eine Frau in ihren mittleren Jahren und ein älterer Herr. Der Junge nutzt eine seltsame Art der Fortbewegung, ein Rollbrett, so etwas hat der stattliche Mann noch nie gesehen. Er versucht auszuweichen, unterschätzt aber die Geschwindigkeit des Jungen und bringt diesen zu Fall.
»Hey Alter, du siehst doch, dass ich auf meinem Skateboard vorbei will!«
»Junger Mann, zunächst einmal dünkt es mir sehr unhöflich, dass Sie mich mit dem vertrauten Du anreden, wiewohl wir uns noch nie zuvor begegnet sind. Hat Ihnen Ihr Vater keine Manieren gelehrt?«
Die Frau und der alte Herr bleiben im Hintergrund, sie unterhalten sich mit einer dritten Person. Dem kleinen Unfall haben sie keine Beachtung geschenkt. Der Jugendliche steht auf und hält sein Rollbrett in der Hand. »Mein Vater! Der setzt mich immer nur unter Druck, wegen der Schule und so, echt schei …«. Der Junge stutzt. »Wie sehen Sie eigentlich aus? Sind Sie Schauspieler?«
»Da sind Sie schon auf dem rechten Pfad. Ich war Theaterintendant und Schauspieler in einer Person.«
»Echt jetzt? Is’ ja voll krass!«
»Nun, mein Freund, die Vokabel ›voll krass‹ ist mir unbekannt, aber ich gehe wohl recht in der Annahme, dass es sich hierbei um einen altersgemäßen Ausdruck der Begeisterung handelt. Nun zurück zu Ihrem Vater. Er will Sie in eine vorgegebene berufliche Laufbahn drängen, habe ich das recht verstanden?«
»Äh, Moment, da muss ich mal überlegen, eine vorgegebene … ja, ich denke, das stimmt. Ich möchte eigentlich Rapper werden, aber mein Alter, äh sorry, mein Vater, der will das nicht. Wahrscheinlich werden Sie den Beruf des Rappers nicht kennen, oder?«
»Nein, junger Mann, diese Profession ist mir in der Tat unbekannt.«
»Ich heiße übrigens Jo. Das ist die Abkürzung von Johann, das war mir zu altbacken.«
Der Stattliche zuckt zusammen, nimmt den Zylinder ab, klopft ihn aus und setzt ihn sich wieder auf den Kopf.
»Jedenfalls ist ein Rapper so was wie ein Rezitator, Schauspieler und Musiker in einer Person.«
»Interessant … Jo. So etwas existierte zu meiner Zeit noch nicht.«
»Klar, macht ja nichts.«
»Wie viele Lenze zählen Sie, mein Guter?«
»Lenze?«
»Ich fragte nach Ihrem Alter, junger Freund!«
»Ach so, ja klar, ich bin 16.«
»Sieh an! Wenn Ihr Vater einen 16–Jährigen noch gängelt, so ist er nur zu bedauern, nicht zu schelten. Seine Einsicht in die freie Gesinnung der Jugend lässt offensichtlich zu wünschen übrig. In Ihrem Alter hatte ich meine Heimatstadt bereits verlassen und frönte dem kulturellen Sturm und Drang der hochangesehenen Stadt Leipzig. Natürlich tat ich dies unter dem Vorwand, mich dem Studium der Jurisprudenz zu widmen.«
Der Rollbrettfahrer sieht ihn erstaunt an. »Krass, das ist die Lösung! Ich mache eine Ausbildung als Bankkaufmann in Frankfurt und starte nebenbei eine Karriere als Rapper! Hier in Offenbach, ich kenne da ein paar kreative Jungs … oh, meine Mutter, ich muss los, ciao!«
»So ist es recht!«, ruft der stattliche Mann dem davoneilenden Jo hinterher.
Die Frau hat sich inzwischen aus dem Gespräch gelöst und kommt auf ihn zu. »Guten Tag, was haben Sie denn mit meinem Sohn besprochen?«
»Entschuldigen Sie, Verehrteste, lediglich eine kleine Plauderei über Jugend und Alter. Ich vergaß allerdings, ihn zu fragen, in welch artig herausgeputztem Park wir uns hier befinden. Vielleicht wären Sie so freundlich, mir dies zu beantworten.«
»Wie? Sie meinen den Park hier?« Sie macht eine allumfassende Handbewegung.
»So ist es, Gnädigste! Ich bitte um Vergebung, aber diese Frage ist eminent wichtig für mich.«
»Sie sind wohl fremd hier in Offenbach?«
»Nun, eben genau dies versuche ich zu eruieren.«
Die Frau sieht ihn an, halb belustigt, halb ehrfürchtig.
»Das ist der Büsingpark. Und dort hinten das Büsingpalais. Beide benannt nach dem ehemaligen Besitzer.«
»Hm«, brummt der Mann, als wollte er damit zum Ausdruck bringen, dass ihm der Name Büsing nichts sagt.
»Adolf Büsing war ein Nachkomme der Familie D’Orville«, ergänzt die Frau.
Die Augen des Mannes leuchten. Dieser Name scheint ihm geläufig zu sein.
Die Frau mustert sein Äußeres. »Sagen Sie … ich meine, es ist Karnevalszeit, haben Sie sich für eine Sitzung so herausgeputzt? Mit Frack und Zylinder und der Perücke?«
»Ich schätze Ihre Offenheit, Gnädigste, und ich bin dem Karneval durchaus verbunden. Aber dies ist keine Maskerade, sondern meine alltägliche Kleidung. Offensichtlich scheine ich den heutigen Ansprüchen nicht mehr ganz zu genügen.«
Die Frau kichert und sagt: »Das stimmt allerdings. Mir gefällt es jedenfalls. Sie wirken so elegant und vornehm.«
»Besten Dank, meine Liebe. Es ist nicht zu leugnen: Sie haben Ähnlichkeit mit einer Dame, die mir vor längerer Zeit hier in Offenbach begegnet ist. Ich war ihr herzlich zugetan und nannte sie Lili.«
»Oh, was für ein Zufall! Dort hinten, sehen Sie dieses Eisentor? Dahinter befindet sich eine große Villa mit einem Tempelanbau; wir nennen ihn heute noch den Lilitempel.«
Der stattliche Mann atmet tief ein, er muss sich fassen. Die sprechenden Augen der Frau zeigen Mitgefühl.
»Ja, ich mochte sie sehr!«, beantwortet er die noch nicht gestellte Frage. »Die Liebe zu ihr durchraste meinen Körper wie eine Krankheit. Ich nahm sie auf in mein inneres geheimes Leben! Verstehen Sie das?«
»Was für schöne Worte! Natürlich verstehe ich das. Fast bin ich traurig, dass ich nicht Lili sein kann.«
»Seien Sie nicht betrübt. Ich habe meine Lili verlassen und weiß bis heute nicht recht, warum ich das tat.«
»Oh!« Die Frau ist schockiert. »Das scheint wohl ein …«
»Es wird Zeit, Elisabeth, kommst du?« Der alte Herr nähert sich den beiden, humpelnd und schnaufend.
»Ja, Vater, ich muss mich nur noch verabschieden.«
»Wer ist das denn … sind Sie ein Offenbacher Stadtführer in der Verkleidung der Goethezeit?«
»Nun, mein Herr, ein Stadtführer zur Goethezeit könnte ich wohl sein, doch mitnichten ein Stadtführer des heutigen Offenbach in Goetheverkleidung.«
»Äh, ja … also, ich bin nicht sicher, ob ich das verstehe. Sie sprechen ja wie ein Dichter!«
»Mein Herr, ich war ein Dichter, ein wohlbekannter sogar. Eigentlich sollten Sie mich kennen!«
»Sie machen Witze! In meinem Alter braucht man niemanden mehr, der sich über einen lustig macht.«
»Nie würde ich mir erlauben, über Sie zu scherzen, Verehrtester!«
Der alte Herr sieht den stattlichen Mann an. »Aha, Dichter wollen Sie also sein. Gut, dann dichten Sie mal was, zum Beispiel über … das Alter!«
»Sehr gerne. Einen kurzen Moment nur …«
»Sieh mal«, flüstert er seiner Tochter zu, »wie der sich abmüht, das wird nichts!«
»Geduld, Vater, Geduld!«
Dann streckt der Stattliche seinen Rücken und spricht: »So soll es sein:
Das Alter ist ein höflich’ Mann:
Einmal übers andre klopft er an.
Aber nun sagt niemand: Herein!
Und vor der Türe will er nicht sein.
Da klinkt er auf, tritt ein so schnell,
Und nun heißt’s, er sei ein grober Gesell.«
Damit hebt er höflich seinen Zylinder und verschwindet in Richtung Lilitempel. Noch ehe der alte Herr und seine Tochter etwas sagen können, haben sie ihn aus den Augen verloren.